ergopraxis 2019; 12(07/08): 16-18
DOI: 10.1055/a-0899-9046
Wissenschaft
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Internationale Studienergebnisse


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Publication Date:
05 July 2019 (online)

 

Gesundheitsbezogene Lebensqualität eingeschränkt – Umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen (UEMF)

Kinder mit einer umschriebenen Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen (UEMF) haben neben Einschränkungen in den ADLs und im Schulalltag auch viele sozioemotionale Schwierigkeiten. Zu diesem Ergebnis kommt Ergotherapeutin Dr. Jill Zwicker mit ihrem Team an der University of British Columbia in Vancouver, Kanada.

Die Forscher befragten insgesamt dreizehn Kinder mit Verdacht auf UEMF hinsichtlich ihrer gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Die drei Mädchen und zehn Jungen waren zwischen acht und zwölf Jahre alt. Ihre Angaben wurden thematisch analysiert und erbrachten vier Themen:

  • Der Kampf mit alltäglichen Aktivitäten: Die Kinder bleiben Gleichaltrigen gegenüber bei Aktivitäten wie Essen, Ankleiden und Fahrradfahren deutlich zurück. Sie benötigen viel Zeit und Kraft, um diese Dinge zu lernen, und haben Angst davor.

  • Schule als harte Arbeit: Einschränkungen beim Schreiben hindern die Kinder daran, erfolgreich am Unterricht teilzunehmen. Sie schreiben unordentlich, langsam und un leserlich. Technik in Form von Tablets hilft nur bedingt, da ihnen das Schreiben an Geräten ebenfalls Schwierigkeiten bereitet. Lehrer zeigen oft wenig Verständnis.

  • Psychosoziale Probleme: Die Kinder sind frustriert, dass sie an sportlichen Aktivitäten aufgrund mangelnder Ausdauer und Koordination nicht so teilnehmen können wie andere. Sie fühlen sich ausgeschlossen, werden gemobbt und gehänselt.

  • Coping-Strategien: Sie versuchen Aktivitäten zu finden, in denen sie trotz ihrer motorischen Einschränkungen gut sind. Das können nichtmotorische Tätigkeiten sein wie im Chor singen, Songs schreiben und lesen oder sportliche Aktivitäten, bei denen man nicht im direkten Wettbewerb mit anderen steht, wie Tanzen und Schwimmen.

Die vorliegende Studie ist die erste, die Kinder selbst befragt und ihre gesundheitsbezogene Lebensqualität beleuchtet. Dadurch zeigen sich psychosoziale Stressfaktoren und Gründe für den Rückzug von körperlichen Aktivitäten.

Alle, die mit Kindern mit UEMF arbeiten, sollten berücksichtigen, wie viel emotionale Kraft diese aufbieten müssen, um an alltäglichen Aktivitäten teilhaben zu können. Schule ist für sie nicht nur eine akademische Herausforderung, sondern auch eine soziale. Wichtig ist es, den Kindern Aktivitäten näherzubringen, bei denen sie erfolgreich sind und die sich an ihren Stärken orientieren.

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Br J Occup Ther 2018; 81: 65–73


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Höhere Reflexionskompetenz trotz struktureller Mängel – Hochschulische Erstausbildung in therapeutischen Berufen

Studiengänge in therapeutischen Gesundheitsfachberufen tun sich noch schwer damit, Hochschul- und Berufsrecht angemessen zu verbinden. Allerdings weisen die Absolventen bei komplexen beruflichen Anforderungen eine höhere Reflexionskompetenz auf als ihre Kollegen ohne Hochschulabschluss. Zu dieser Einsicht kamen Ingrid Darmann-Finck vom Institut für Public Health und Pflegewissenschaft in Bremen und Bernd Reuschenbach von der Katholischen Stiftungsfachhochschule München.

Die Forscher evaluierten dreizehn Modellstudiengänge (sechs Physiotherapie-, vier Logopädie- und drei Ergotherapiestudiengänge) bezüglich zwei Schwerpunkten:

  • strukturelle Konzeption der Studiengänge

  • Kompetenzen der Absolventen

Für die strukturelle Evaluation führten sie eine Dokumentenanalyse durch und werteten sie qualitativ inhaltsanalytisch hinsichtlich Studiendauer, Workload, institutioneller Kooperation und Integration der Praxisphasen aus. Obwohl die strukturelle Konzeption der deutschen Modellstudiengänge sehr heterogen ist, sind alle ausbildungsintegrierend und müssen daher gleichzeitig dem Berufsrecht und dem Hochschulrecht gerecht werden. Das entspricht je nach Interpretation der Berufsgesetze inhaltlich, methodisch und vom Anforderungsniveau her nicht den kompetenzbasierten Curricula der hochschulischen Ausbildung. Zur Erfassung der Kompetenzen wandten die Forscher ein Mixed-Methods-Design an. Dazu befragten sie zunächst mittels Fragebogen 286 Absolventen. Diese waren durchschnittlich 23,8 Jahre alt, etwa 15 Prozent waren Männer. 88 Prozent der Befragten glaubten, dass das Studium besondere Fähigkeiten forme. Die 29 ergänzend geführten Interviews mit Berufstätigen bestätigten das Ergebnis – Hochschulabsolventen und studierte Berufstätige verfügen im Vergleich zu beruflich ausgebildeten Fachkräften über einen Mehrwert hinsichtlich der Kompetenzen.

Damit erreichen die Kompetenzziele der Hochschule die Versorgungspraxis. Die Forscher empfehlen, die hochschulische Ausbildung regelhaft berufsgesetzlich zu verankern.

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Gesundheitswesen 2019; 81: 325–331


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Neoliberale Ideen gehen mitunter an Versorgungspraxis vorbei – Geistige Behinderung

Einrichtungen mit betreuten Wohngruppen für Menschen mit geistiger Behinderung berufen sich oft auf neoliberale Ideen, wenn sie ihre Politik oder ihre Angebote beschreiben. Dabei liegt ein wesentlicher Zielfokus darauf, die Bewohner zu einer selbstständigen und selbstbestimmten Lebensführung zu befähigen. Auch wenn diese Zielstellungen die Persönlichkeitsentwicklung unterstützen können, sind sie kein Garant für eine gute Versorgungsqualität. Zu dieser Schlussfolgerung kommt der Ergotherapeut und Sozialanthropologe Georg Gappmayer an der Universität Wien und an der Fachhochschule Wiener Neustadt, Österreich.

Das Unterstützen dominiert die alltägliche Praxis in Einrichtungen, wird aber nur selten auf die Fertigkeiten der Bewohner abgestimmt.

Er führte zwischen 2011 und 2015 eine ethnografische Feldforschung in drei betreuten Wohngruppen für Menschen mit geistiger Behinderung durch. Neben gezielten Beobachtungen vor Ort interviewte er auch zwei Bewohner, acht Betreuungskräfte und einen Vertreter der Organisation. Außerdem analysierte er 28 interne oder externe Dokumente der beiden Organisationen, denen die Wohngruppen zugeordnet waren. Das gesammelte Datenmaterial wertete er im Rahmen eines Grounded-Theory-Ansatzes und mithilfe von Situationsanalysen aus.

Dabei stellt er fest, dass fünf handlungsleitende Zielstellungen in der Versorgungspraxis vorherrschen: Selbstbestimmung, Selbstständigkeit, Zugehörigkeit, Sicherheit und Unterstützen/Konsumieren. In den Wohngruppen dominiert häufig das „Unterstützen/Konsumieren“ die alltägliche Praxis. Dabei stimmt das Betreuungspersonal die gegebene Unterstützung nur teilweise auf das Fertigkeiten-Level der Bewohner ab; oftmals geht es auch da rum, Haushaltstätigkeiten oder Abläufe effektiv durchzuführen. In alltäglichen Situationen kommt es zudem häufig vor, dass einzelne Zielstellungen andere verdrängen, etwa das „Gewährleisten von Sicherheit“ die „Selbstbestimmung“. Mögliche Gründe hierfür können sein, dass Bewohner die Konsequenzen ihres Handelns für sich und andere nicht einschätzen können oder dass ihre Wünsche mit den Abläufen und Routinen in der Einrichtung kollidieren.

5 Ziele

Die Versorgungspraxis zielt ab auf Selbstbestimmung, Selbstständigkeit, Zugehörigkeit, Sicherheit und Unterstützen/Konsumieren.

Entgegen der beobachteten Versorgungspraxis schreiben sich die Einrichtungen vor allem Ziele wie Selbstständigkeit und Selbstbestimmung auf ihre Agenda, während das „Unterstützen/Konsumieren“ kaum Erwähnung findet. Auch die geführten Interviews und alltäglichen Dialoge heben die Bedeutung dieser neoliberalen Zielstellungen hervor, die offenbar am stärksten geschätzt werden.

Georg Gappmayer schlussfolgert, dass eine Diskrepanz zwischen den Einrichtungspolitiken und der tatsächlichen Versorgungspraxis besteht. Er führt diese Kluft auf idealisierte westliche Persönlichkeitsvorstellungen zurück, wonach Selbstbestimmung und Selbstständigkeit zentrale Werte darstellen. Für viele Menschen mit geistiger Behinderung bleiben entsprechende Zielstellungen aber oftmals unerreichbar.

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J Occup Sci 2019; 26: 258–274

Missverhältnis zwischen Theorie und Praxis

„Meine Argumentation ist, dass beide, die alltägliche Praxis und die Dokumente, ein Spannungsfeld hervorrufen, in dem alle Akteure steckenbleiben. Auf der einen Seite stehen die hochgeschätzten Ziele, selbstständig und selbstbestimmt zu sein, die Betätigungen auf einem normativen Level beeinflussen. Auf der anderen Seite wird die Mehrheit der täglichen Praktiken durch das Ziel des ‚Unterstützens/Konsumierens‘ geprägt, aufgrund des niedrigen Fertigkeiten-Levels einiger Bewohner und der routinierten Abläufe alltäglicher Betätigungen.“

(aus dem Englischen übersetzt)

J Occup Sci 2019; 26: 258–274

Feldforschung

Folgt man der anthropologischen Tradition, lässt sich die Feldforschung durch ihre Offenheit und Flexibilität charakterisieren. So kann sich die Forschungsfrage während der Forschung entwickeln und verändern. Durch intensive Beobachtungen nimmt der Forscher selbst am Setting teil und kommt dem alltäglichen Leben der Akteure oder Situationen sehr nah.

J Occup Sci 2019; 26: 258–274


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