Abb.: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Allgemeine
Anatomie und Bewegungssystem. Illustrationen von K. Wesker. 5. Aufl. Stuttgart: Thieme;
2018
Die untere Halswirbelsäule erstreckt sich von der Abschlussplatte des Axis bis zur
Oberfläche von Th 1. Ihre Gelenke erlauben die Bewegungen Flexion und Extension sowie
Seitneigung kombiniert mit Rotation [1]. Aus funktioneller Sicht enden diese Bewegungen erst auf Höhe des 5. Brustwirbels
[2]. Treten in dem Bereich Funktionsstörungen auf, berichten die Patienten häufig von
Steifheit, Durchbrechgefühlen und vor allem von Nackenschmerzen.
Die Lebenszeitprävalenz von Nackenschmerzen liegt in der Weltbevölkerung bei 70 %
[3]. In westlichen Industrienationen wie Großbritannien liegt die Punktprävalenz bei
knapp 30 % [4]. In der Regel sind Frauen häufiger von Nackenschmerzen betroffen als Männer [5].
Nackenschmerzen sind weitgehend unspezifisch
Nur bei einem kleinen Teil der Patienten lassen sich die Nackenschmerzen auf strukturelle
Veränderungen der Wirbelsäule oder entzündliche Erkrankungen zurückführen. Spezifische
Ursachen können Frakturen, Tumore, Gleitwirbel, Bandscheibenvorfälle und Spinalkanalstenosen
sein [6]. Über 80 % dagegen leiden an unspezifischen Nackenschmerzen. Sie sind definiert
als Schmerzen, die im hinteren und lateralen Nackenbereich zwischen Linea nuchae und
dem ersten Brustwirbel lokalisiert sind und als weitergeleiteter Schmerz in den Schultergürtelbereich
und die BWS ausstrahlen können [7]. Sie sind häufig assoziiert mit einem niedrigen sozioökonomischen Status, einseitig
beanspruchender, statischer Arbeit, hoher physikalischer Arbeitsbelastung und früheren
Nackenverletzungen [8].
Weil es so viele verschiedene Einflussfaktoren gibt, ist es wichtig, die Symptome
und Zeichen sorgfältig zu analysieren, um die richtigen Entscheidungen mithilfe des
Clinical-Reasoning-Prozesses treffen zu können. Die Befunde und Daten aus der Anamnese
bilden die Grundlage, um die physische Untersuchung zu planen. Dabei gibt die klinische
Präsentation vor, ob bei der Wahl der Untersuchungsmittel ein standardisiertes Vorgehen
sinnvoll ist oder ob der Therapeut modifizieren muss [9]. Die im Folgenden beschriebenen Untersuchungs- und Behandlungsschritte basieren
auf einer peripher nozizeptiven Präsentation einer Patientin mit unspezifischen Nackenschmerzen.
Fallbeispiel
Charlotte Schneider ist 30 Jahre alt und arbeitet als Einzelhandelskauffrau in einem
Sportgeschäft. Als Hauptproblem gibt sie Nackenschmerzen mit Bewegungseinschränkungen,
besonders beim Schulterblick, an. Den Schmerz (S1) beschreibt sie als ziehend und
stechend lokal (VAS 6/10). Er klingt immer noch einige Sekunden nach, wenn sie den
Kopf wieder in die Neutralposition bewegt hat. Die Beschwerden begannen vor fünf Tagen,
als sie bei einer schnellen Kopfdrehung nach rechts einen einschießenden Schmerz verspürte.
Zu diesem Zeitpunkt gibt es keine Warnhinweise auf eine ernsthafte Pathologie.
Inspektion im Stand
Die Analyse der Kopf- und Nackenposition im Verhältnis zum Rumpf und deren Eingliederung
in die Gesamtstatik in den verschiedenen Ebenen lässt erste Rückschlüsse auf die Belastungssituation
des oberen Quadranten zu. Die Patientin zeigt in der Sagittalebene im Bereich der
mittleren BWS eine leicht verstärkte Kyphose, die in die untere HWS weiterläuft. Dadurch
steht der Kopf in einer leichten Ventralposition.
Aktive physiologische Bewegungen der HWS
Im nächsten Schritt geht es darum, Qualität und Quantität der aktiven HWS-Beweglichkeit
zu beurteilen. Forscher der Universität Pittsburgh untersuchten in einer Studie die
Interrater-Reliabilität von aktiven HWS-Bewegungen bei Patienten mit unspezifischen
Nackenschmerzen mittels Inklinometer. Sie beurteilten unter anderem, wie zuverlässig
sie die Symptome bei Patienten mit Schmerzen im Bereich des Nackens und der BWS reproduzieren.
Dabei zeigten sich bei einem Großteil der Bewegungen moderate bis gute Reproduzierbarkeit
der Ergebnisse [10]. Autoren einer anderen Studie aus den Niederlanden gaben am Ende der aktiven Bewegung
einen sanften Überdruck, um das passive Ausmaß, den Gewebewiderstand und eventuell
auftretende Schmerzen zu beurteilen. Sie konnten in ihrer Studie die Symptome ebenfalls
gut reproduzieren [11].
Bei der Untersuchung der aktiven Beweglichkeit (AROM) von Frau Schneider ergeben sich
folgende Befunde:
-
Extension: 40°, S 1 und Ausweichbewegung in Lateralflexion links
-
Lateralflexion rechts: 20°, S 1
-
Rechtsrotation (ROTR): 55°, S 1
-
Flexion: 70°
-
Lateralflexion links: 40°
-
Linksrotation (ROTL): 75°
-
Durch die aktive Bewegungsprüfung lassen sich die Schmerzen (S 1) der Patientin reproduzieren
– ein Zusammenhang zwischen Beschwerden und Funktionsstörungen im Nackenbereich ist
also erkennbar. Aufgrund der aktuell irritierbaren Situation wird auf den passiven
Überdruck am Ende der Bewegung verzichtet.
Abb.: R. Petzold (Symbolbild)
ASTE: Die Patientin liegt auf dem Rücken, der Therapeut steht am Kopfende. Er nimmt mit
dem Zeigefinger der rechten Hand von lateral Kontakt mit dem rechten Facettengelenk
und der Lamina auf. Die linke Hand liegt seitlich locker am Okziput.
Bewegung: Die rechte Hand schiebt horizontal zur gegenüberliegenden Seite (links). Die linke
Hand verhindert, dass der Kopf nach lateral (links) rollt. Dabei beurteilt der Therapeut
die Quantität und Qualität der Bewegung im jeweiligen Segment.
Abb.: R. Petzold (Symbolbild)
ASTE: Die Patientin liegt in Rückenlage. Der linke Zeigefinger des Therapeuten nimmt Kontakt
mit der linken Lamina und dem linken Facettengelenk von C 3 auf. Der rechte Zeigefinger
liegt an der Lamina und dem Facettengelenk von C 2 auf der rechten Seite.
Bewegung: Der Therapeut bewegt die rechte Facette von C 2 nach ventral-kranial in FLEX, SNL,
ROTL in die schmerzfreie Richtung, während die linke Hand die Mitbewegung von C 3
behindert. Die Bewegung ist je nach klinischer Präsentation passiv, assistiv oder
aktiv möglich.
Dosierung: Bei schmerzdominanteren Problemen wird langsam und mit einer großen Amplitude im
widerstands- und schmerzfreien Bereich in Stufe 2 (Kaltenborn/Evjenth) bewegt. Ist
das Problem widerstandsdominant, mobilisiert der Therapeut am Bewegungsende intermittierend
oder gehalten in Stufe 3 (Kaltenborn/Evjenth). Alle Varianten sind mit dieser Technik
möglich.
Passive segmental-rotatorische Bewegung (PSRB)
Mithilfe der PSRB lassen sich das symptomatische Segment und die Funktion (hypo-,
normal-, hypermobil) identifizieren. Dazu muss man das Ausmaß, den Widerstand, das
Endgefühl der Bewegung und die möglichen Symptome der Patientin evaluieren. Studien
zeigen eine gute Evidenz dafür, dass die Anwendung der PSRB im klinischen Alltag zur
Beurteilung der Symptome und Zeichen von Patienten mit unspezifischen Nackenschmerzen
gerechtfertigt ist [10]–[14].
Ein einfacher, aber sehr informativer Test, um die Seitneigung der unteren HWS zu
beurteilen, findet in Rückenlage statt (PASSIVE LATERALFLEXION, S. 25). Im Fall von
Frau Schneider ist das Segment C 2 rechts hypomobil, und ihre Schmerzen lassen sich
vor dem ersten Widerstand provozieren. Auch die Segmente C 3 rechts und C 7 links
sind hypomobil, aber nicht schmerzhaft.
Passive segmental-translatorische Bewegung (PSTB)
Nachdem das symptomatische Segment identifiziert und dessen Funktion beurteilt ist,
kann man mithilfe der PSTB versuchen, das Gelenkspiel auf Bandscheibenebene zu testen,
um die translatorische Beweglichkeit in den einzelnen Segmenten zu evaluieren. Dazu
bewegt man die HWS in den einzelnen Segmenten parallel zur Bandscheibenebene in ventral-dorsale
Richtung. Die Segmente C 2, C 3 sowie C 7–Th 1 sind bei Frau Schneider hypomobil,
und C 5 erscheint leicht hypermobil.
Palpation
Die Palpation der einzelnen Segmente rundet die Untersuchung zu diesem Zeitpunkt ab.
Im oberen Bereich der HWS rechts waren Gewebeveränderungen als Spannungsänderungen
der Muskulatur tastbar sowie leichte Aufquellungen über den Facettengelenken C 2,
C 3 rechts. Zudem ist dieser Bereich druckempfindlich. Ein Test mit dem Algometer
auf Höhe C 2 zeigt rechts eine Druckschmerzschwelle von 2,5 Kilogramm. Im Gegensatz
dazu ist C 2 links erst bei 7 Kilogramm schmerzhaft.
Im Fall von Frau Schneider sind nun genug Informationen (Symptome/Zeichen) zum aktuellen
Zustand vorhanden, um eine Arbeitshypothese aufzustellen: Die symptomatischen Bewegungsrichtungen
sind die Rechtsrotation und die Lateralflexion rechts in Extension der HWS. Dabei
ist vor allem das Segment C 2 aufgrund einer schmerzdominanten Verschlussproblematik
auf der rechten Seite hypomobil.
Probebehandlung
Im Anschluss erfolgt eine Probebehandlung, um die Arbeitshypothese zu überprüfen.
Das kurzfristige Behandlungsziel ist es, im symptomatischen Bereich die Schmerzen
zu reduzieren, den Stoffwechsel anzuregen, die umgebende Muskulatur zu entspannen
und die Beweglichkeit zu verbessern. Frau Schneider erhält eine Gleittechnik für das
Facettengelenk C 2 auf der rechten Seite in die schmerzfreie Richtung (Flex, SNL,
ROTL) in Stufe 2 (Kaltenborn/Evjenth) für 5 Minuten (Gleitmobilisation, S. 25).
Eigenübung Gleitmobilisation
Abb.: R. Petzold (Symbolbild)
ASTE: Die Patientin sitzt auf einem Stuhl oder einer Bank. Die Ulnarkante ihrer rechten
Hand hat Kontakt mit der Lamina und dem Dornfortsatz von C 3 rechts.
Bewegung: aktive ROTL mit SNL, während die Patientin über den Kontakt an C 3 (Schub gegen den
Dornfortsatz) die Mitbewegung behindert
Dosierung: Bei schmerzdominanten Problemen soll die Patientin mit langsamer Geschwindigkeit
und großer Amplitude im widerstands- und schmerzfreien Bereich bewegen. Ist das Problem
widerstandsdominant, mobilisiert sie am Bewegungsende intermittierend oder gehalten.
Alle Varianten sind mit dieser Technik möglich.
Eigenübung Mobilisation/Kräftigung
Abb.: R. Petzold (Symbolbild)
ASTE: Die Patientin nimmt den Vierfüßlerstand ein und fixiert ein Theraband, das sie im
Bereich der unteren HWS positioniert, mit den Händen gegen die Therapiebank.
Bewegung: Die Patientin zieht das Kinn ein und streckt den Nacken in Bezug auf die BWS gegen
den Widerstand des Therabands nach hinten oben. Es soll dabei keine Extension in einzelnen
HWS-Segmenten auftreten.
Dosierung: Die Patientin führt die Bewegung so weit wie möglich in den Widerstand bzw. an das
Bewegungsende (Stufe 3 Kaltenborn/Evjenth).
Abb.: R. Petzold (Symbolbild)
ASTE: Der Therapeut umfasst mit der linken Hand die obere HWS bis C 4. Die rechte Hand
liegt an der rechten Spina scapulae.
Bewegung: Er stellt die HWS in Flex, SNL, ROTL ein und gibt dabei einen leicht gehaltenen Traktionsimpuls.
Die rechte Hand schiebt den Schultergürtel in Depression. Die Patientin verhindert
die Bewegung durch Anspannung des Schultergürtels. Danach lässt sie locker, und der
Therapeut geht weiter in Depression.
Dosierung: Bei schmerzdominanten Problemen arbeitet der Therapeut langsam und mit großer Amplitude
im widerstands- und schmerzfreien Bereich in Stufe 2 (Kaltenborn/Evjenth). Ist das
Problem widerstandsdominant, dehnt er am Bewegungsende in Stufe 3 (Kaltenborn/Evjenth)
dynamisch oder gehalten.
Danach testet man die wichtigsten Wiederbefundszeichen aus der Untersuchung erneut.
Einige Befundparameter, wie die Druckschmerzschwelle und die ROTR, haben sich bei
der Patientin durch die Probebehandlung verbessert, sodass sich die Diagnose wie folgt
aktualisieren lässt: Frau Schneider hat eine schmerzhaft eingeschränkte Beweglichkeit
im Bereich der unteren HWS, genauer auf Höhe C 2, hauptsächlich in ROTR mit Schwierigkeiten
beim Schulterblick im Auto.
Eigenübung
Um die Eigenverantwortung der Patientin zu stärken und die Beschwerden nachhaltig
zu beeinflussen, ist es wichtig, ihr Eigenübungen mitzugeben. Dazu wird Frau Schneider
über den Befund aufgeklärt und erhält als Hausaufgabe eine vergleichbare Eigenübung
zur Probebehandlung. Diese soll sie bis zur nächsten Sitzung täglich alle drei Stunden
jeweils 3-mal für eine Minute durchführen (EIGENÜBUNG GLEITMOBILISATION).
Im Behandlungsverlauf lassen sich weitere Befunde sammeln und stetig an die aktuelle
Situation der Patientin anpassen. Lassen die Schmerzen nach und die klinische Präsentation
wird mehr widerstandsdominant, kann man die Bewegung mehr und mehr in die eingeschränkte
und (noch) schmerzhafte Richtung führen. Mit steigender Beanspruchbarkeit passt der
Therapeut auch die Dosierung an und bewegt aus dem widerstandsfreien Bereich (Kaltenborn/Evjenth
Stufe 2) in den Widerstand (Kaltenborn/Evjenth Stufe 3).
Aus den identifizierten Befunden und mithilfe der externen Evidenz plant man die weiteren
Behandlungsmaßnahmen. Forscher aus Wien untersuchten in einem systematischen Review,
wie effektiv Übungen bei unspezifischen Nackenschmerzen sind. Die Ergebnisse zeigen,
dass Dehnungen und Krafttraining oder die Kombination aus beidem kurz- bzw. auch langfristig
Schmerz und Funktion verbessern [15]. Neben den Mobilisationen ist es deshalb auch wichtig, Dehnungs- und Kräftigungsübungen
in die Behandlung von Frau Schneider einzubauen (EIGENÜBUNG MOBILISATION/KRÄFTIGUNG
und ENTSPANNUNG/DEHNUNG). Diese zielen auf symptomatische und asymptomatische Bereiche
ab. Beispielhaft sind im Folgenden die therapeutische Dehnung des M. levator scapulae
und eine Eigenübung zur Mobilisation bzw. Kräftigung für die untere HWS sowie die
obere BWS gezeigt.