Nervenheilkunde 2019; 38(07): 496-498
DOI: 10.1055/a-0883-3232
Geist & Gehirn
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Geschichten und Gehirnentwicklung

Vorlesen versus Videos anschauen
Manfred Spitzer
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer
Universität Ulm
Abteilung für Psychiatrie
Leimgrubenweg 12–14
87054 Ulm

Publication History

Publication Date:
10 July 2019 (online)

 

Kinder lieben es, wenn man ihnen Geschichten erzählt oder vorliest. Je bildhafter dabei die Sprache ist, desto besser: Märchen handeln nicht von „der 19-jährigen Industriekauffrau“, sondern von „der jungen Prinzessin mit den blond gelockten langen Haaren, dem rosa Kleid und den goldenen Schuhen“. Märchenbücher enthalten zuweilen Bilder, die der Fantasie der Kleinen etwas auf die Sprünge helfen sollen. Denn wenn man erst einmal ein Bild von der Prinzessin im Kopfe hat, dann kann man dies buchstäblich kinderleicht in seiner Vorstellung verändern, und die Prinzessin beispielsweise reiten oder einen Frosch küssen lassen. Beim Reiten wehen die blonden Locken vor dem geistigen Auge der Vorstellung (und deswegen macht das Vorstellen so großen Spaß!) und das Frosch-Küssen sorgt regelmäßig für „iii-git“ – aus dem gleichen Grund: Die Wörter „Frosch“ und „Kuss“ sind es nicht, die uns mit Ekel erfüllen, sondern die lebhafte Vorstellung, einen zappelnden glitschigen Frosch in der Hand zu halten und zu küssen.

Was im Gehirn geschieht, wenn man sich etwas vorstellt, ist mittlerweile recht gut erforscht. Noch zu Anfang der 1980er-Jahre wurde der damals an der Harvard-Universität arbeitende Psychologe Stephen Kosslyn von seinen Kollegen in der Philosophie ausgelacht, als er sich anschickte, die Größe von Vorstellungsbildern, die Geschwindigkeit, mit der wir sie verändern können, und die Anzahl ihrer Pixel (wie man heute sagen würde; damals sprach man von „grainyness“, zu Deutsch, deren „Körnung“) zu messen. Heute lacht niemand mehr. Die Geschwindigkeit, mit der wir ein Vorstellungsbild im Geiste betrachten oder beispielsweise drehen können, wurde ebenso gemessen (dafür genügen Reaktionszeitmessungen bei clever und sorgfältig geplanten Experimenten) [4] wie ein Jahrzehnt später die Größe aktivierter Gehirnareale bei der Vorstellung eines Hasen (klein) im Vergleich zur Vorstellung eines Elefanten (groß) [5]. Dies hatte man damals noch mithilfe eines Positronenemissionstomografen (PET) festgestellt. Seit nunmehr fast 3 Jahrzehnten werden für solche Experimenten Magnetresonanztomografen (MRT) verwendet, die ohne jegliche Radioaktivität auskommen und zudem zeitlich und räumlich wesentlich genauere Messungen erlauben.

Mittlerweile weiß man aus einer Vielzahl von Untersuchungen, was im Gehirn geschieht, wenn ein Erzähler einem Zuhörer eine Geschichte erzählt: in beiden Gehirnen läuft so ziemlich das Gleiche ab [12]. Und je ähnlicher die Gehirne der beiden arbeiten, desto besser wird die Geschichte verstanden. Solches Verstehen findet nicht an irgendeiner Stelle im Gehirn statt, sondern nahezu überall ([ Abb. 1 ]), weil fast die gesamte Gehirnrinde für irgendwelche Bedeutungsgehalte zuständig ist [2]. Je nachdem, worum es in der Geschichte geht, werden also in den Gehirnen von Sprecher und Zuhörer die gleichen zeitlich rasch wechselnden Aktivierungsmuster auftreten.

Damit das beschriebene Kopfkino in der bildhaften Vorstellung des Zuhörers beim Hören der Geschichte gut funktioniert, sind Verbindungen zwischen den Sprachzentren und den visuellen Zentren des Gehirns von besonderer Bedeutung. Denn beim Verstehen der Sprache produziert der Zuhörer ja seine Vorstellungsbilder anhand der vom Erzähler sprachlich vermittelten Informationen, deren Decodierung von den Sprachzentren koordiniert wird. Sind diese Verbindungen gut ausgebildet, wird im Gehirn des Zuhörers durch eine gute Geschichte ein wahres Feuerwerk an Bildern entfacht.

Hier kommen nun das Erzählen oder Vorlesen von Geschichten während Kindheit und Jugend ins Spiel. Denn in dieser Zeit reifen nicht nur einzelne Gehirnzentren, sondern auch die Verbindungen zwischen ihnen. Die Zentren reifen nacheinander von den einfachen, direkt mit der Außenwelt verbundenen sensorischen und motorischen Zentren angefangen über die höheren Verarbeitungsareale bis zu den höchsten für Denken, Bewerten, Planen, Wollen und Handeln zuständigen Zentren, die – was den Verarbeitungsfluss der Informationen anbelangt – am weitesten entfernt von Eingang (Sensorik) und Ausgang (Motorik) liegen.[ 1 ]

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Abb. 1 Die Titelseite der Ausgabe Nr. 7600 des Fachblatts Nature vom 28. April 2016 zeigt ein Gehirn mit je nach Bedeutungskategorie in unterschiedlichen Farben aufgedruckten Wörtern. Damit soll das wesentliche Ergebnis der Arbeit von Huth und Mitarbeitern symbolisch dargestellt werden: Es gibt in der Gehirnrinde kein „Bedeutungszentrum“. Bedeutung ist vielmehr so gut wie überall in der Gehirnrinde, und am ehesten als in vielen Zwischenschichten mit (nach meist unbekannten Prinzipien) landkartenförmig angeordneten Repräsentationen auftretendes gemeinsames Aktivitätsmuster zu verstehen.

Verbindungen zwischen Nervenzellen werden ganz allgemein dadurch geknüpft und vor allem gestärkt, dass sie benutzt werden. Man sprich von Neuroplastizität, und diese Formung der Verbindungen im Gehirn geschieht vor allem in der Kindheit: Wir lernen Laufen, Sprechen, lernen die Dinge in der Welt, den Umgang mit ihnen und vor allem den Umgang mit anderen Menschen und uns selbst. Hierfür ist die Benutzung der Nervenzellen im Gehirn entscheidend, denn genau dadurch, dass 2 Zellen zugleich aktiv sind (man sagt: zugleich „feuern“), nimmt die Verbindung zwischen ihnen zu. „Neurons that fire together wire together“ lautet ein seit Jahrzehnten weit verbreitetes Mantra der Neurowissenschaft (in wörtlicher Übersetzung: Nervenzellen, die gemeinsam feuern, werden miteinander verdrahtet). Diese Erkenntnis ist aus meiner Sicht die mit Abstand wichtigste aus den letzten 40 Jahren Gehirnforschung.

Was genau geschieht im Gehirn von 32 Kindern, wenn man ihnen Geschichten erzählt?

Um dies herauszufinden, wurde Kindern im Alter von 5 Jahren 3-mal eine jeweils andere Geschichte im MRT erzählt, um die funktionelle Konnektivität, d. h. das Ausmaß der Gemeinsamkeit der Aktiviertheit, zwischen Sprachzentren und Sehzentren direkt zu messen [3]. Man verwendete 3 Geschichten, weil man sie in jeweils 3 Formaten darbot: entweder nur akustisch (Bedingung „audio“) oder akustisch mit einigen Bildern (Bedingung „illustriert“) oder als Film (Bedingung „video“). Danach wurde geprüft, inwieweit sich die Kinder an Einzelheiten der Geschichte erinnern konnten.

Das wichtigste Ergebnis der Untersuchung lautete wie folgt: Beim Hören von Geschichten und beim Hören von Geschichten zugleich mit dem Betrachten von einigen wenigen Bildern sind die Sprachzentren und die Zentren für das bildhafte Vorstellen im Gehirn der Kinder stärker miteinander funktionell verbunden als beim Betrachten eines Videos. Die Autoren erklären dies damit, dass beim Sehen und Hören eines Videos, also beim gleichzeitigen Wahrnehmen von bewegten Bildern und Tönen, die visuellen und akustischen Zentren für jeweils für sich stark aktiv sein müssen, um Sprache und Bilder zugleich zu verarbeiten. Daher nimmt die Gemeinsamkeit in deren Aktivierung ab. Genau diese ist jedoch Voraussetzung für das Entstehen von Verknüpfungen zwischen diesen Zentren, die dem entwickelten Gehirn des Erwachsenen das „Bespielen“ der Vorstellungszentren mit Informationen aus den Sprachzentren erlauben. Da solches bewusstes Kreieren von Vorstellungsbildern nach der Vorgabe von sprachlich formulierten Problemen und Gedanken nach den heutigen Erkenntnissen unserer Kreativität direkt zugrunde liegt, lässt sich die Bedeutung dieses Befundes kaum überschätzen: Vorlesen von Bilderbüchern in der Kindheit fördert die Kreativität dieses Menschen, das Betrachten von Videos schadet ihr.

Kinder spielen ohnehin am liebsten, dass sie irgendwer sind (Mama und Papa, Räuber und Gendarm, Lehrer und Schüler, Kaufmann und Kunde, etc.) und dass sie irgendwelche Handlungen „der großen Leute“ nachspielen. Sehr vieles in solchen Spielen ist also nicht real, sondern vorgestellt. Im angloamerikanischen Sprachraum nennt man diese sehr häufige Art des Kinderspiels „pretense play“, also wörtlich etwa: „so tun, also ob…“ Auch diese Form des Spiels ist sehr wichtig für die kindliche Entwicklung. Vom Betrachten von Bewegtbildern (Fernsehen) hingegen ist seit langem aus vielen, sehr unterschiedlichen Studien bekannt, dass es die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten bei Kindern beeinträchtigt [9], [6], [11], [13], [14].

Wenn Eltern weltweit nicht seit Jahrtausenden ihren Kindern Geschichten erzählen oder vorlesen würden, müsste man das aufgrund der Erkenntnisse der Gehirnforschung heute zur Förderung der geistigen Entwicklung von Kindern im Vorschulalter dringend empfehlen. Glücklicherweise braucht man das nicht. Aber angesichts der heute vorhandenen vielen multimedialen ablenkenden Bedrohungen dieser uralten Kulturtechnik [10] muss man gerade heutzutage die Bedeutung des Erzählens und Vorlesens von Geschichten ganz deutlich hervorheben.


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Interessenkonflikt

Es liegen keine Interessenkonflikte vor.

1 Deswegen haben wir die Strukturprinzipien der Karten des (früher so genannten) „multimodalen Assoziationskortex“ bis heute nicht verstanden. Die primären somatosensorischen und motorischen Zentren dagegen enthalten die bekannten Penfield’schen „Homunculi“, d. h. nach den Kriterien Ähnlichkeit und Häufigkeit der Repräsentation von Signalen unseres Körpers oder an unseren Körper. Sie haben also die Struktur der Signale, die mit unserer erlebten (Innen-)Welt parallel gehen. Auf der ersten Stufe der kortikalen Verarbeitung des Gehörs haben wir eine Tonkarte, geordnet nach Frequenzen, und auf der ersten kortikalen Stufe des Sehens gibt es ein Abbild des Netzhautbildes, wenn auch wieder verzerrt: Signale von der Fovea (Stelle des schärfsten Sehens etwa in der Mitte der Netzhaut) bekommen sehr viel mehr Platz als Signale vom Rand der Netzhaut.


  • Literatur

  • 1 Horowitz-Kraus T, Hutton JS. Brain connectivity in children is increased by the time they spend reading books and decreased by the length of exposure to screen-based media.. Acta Paediatr 2018; 107: 685-693
  • 2 Huth AG, de Heer WA, Griffiths TL. et al Natural speech reveals the semantic maps that tile human cerebral cortex.. Nature 2016; 532: 453-458
  • 3 Hutton JS, Dudley J, Horowitz-Kraus T. et al Differences in functional brain network connectivity during stories presented in audio, illustrated, and animated format in preschool-age children.. Brain Imaging Behav 2018. doi: 10.1007/s11682-018-9985-y
  • 4 Kosslyn SM. Image and Mind.. Cambridge MA: Harvard University Press; 1980
  • 5 Kosslyn SM. Image and Brain: The Resolution of the Imagery Debate.. Cambridge MA: MIT Press; 1996
  • 6 Madigan S, Browne D, Racine N. et al Association Between Screen Time and Children’s Performance on a Developmental Screening Test.. JAMA Pediatr 2019. doi: 10.1001/jamapediatrics.2018.5056
  • 7 Paulus MP, Squeglia LM, Bagot K. et al Screen media activity and brain structure in youth: Evidence for diverse structural correlation networks from the ABCD study.. Neuroimage 2019; 185: 140-153
  • 8 Pearson J, Naselaris T, Holmes EA. et al Mental Imagery: Functional mechanisms and clinical applications.. Trends in Cognitive sciences 2015; 19: 590-602
  • 9 Spitzer M. Vorsicht Bildschirm.. Stuttgart: Klett; 2015
  • 10 Spitzer M. Christiania, Science und Cocktails. Soziale Experimente in Dänemark.. Nervenheilkunde 2019; 38: 453-458
  • 11 Walsh JJ, Barnes JD, Cameron JD. et al Associations between 24 hour movement behaviours and global cognition in US children: a cross-sectional observational study.. Lancet Child Adolesc Health 2018; 2: 783-791
  • 12 Stephens GJ, Silbert LJ, Hasson U. Speaker-listener neural coupling underlies successful communication.. PNAS 2010; 107: 14425-30
  • 13 Lillard AS, Peterson J. The immediate impact of different types of television on young children?s executive function.. Pediatrics 2011; 128: 655-649
  • 14 Lillard AS, Li H, Boguszewski K. Television and childrens executive function.. Adv Child Dev Behav 2015; 48: 219-248

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Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer
Universität Ulm
Abteilung für Psychiatrie
Leimgrubenweg 12–14
87054 Ulm

  • Literatur

  • 1 Horowitz-Kraus T, Hutton JS. Brain connectivity in children is increased by the time they spend reading books and decreased by the length of exposure to screen-based media.. Acta Paediatr 2018; 107: 685-693
  • 2 Huth AG, de Heer WA, Griffiths TL. et al Natural speech reveals the semantic maps that tile human cerebral cortex.. Nature 2016; 532: 453-458
  • 3 Hutton JS, Dudley J, Horowitz-Kraus T. et al Differences in functional brain network connectivity during stories presented in audio, illustrated, and animated format in preschool-age children.. Brain Imaging Behav 2018. doi: 10.1007/s11682-018-9985-y
  • 4 Kosslyn SM. Image and Mind.. Cambridge MA: Harvard University Press; 1980
  • 5 Kosslyn SM. Image and Brain: The Resolution of the Imagery Debate.. Cambridge MA: MIT Press; 1996
  • 6 Madigan S, Browne D, Racine N. et al Association Between Screen Time and Children’s Performance on a Developmental Screening Test.. JAMA Pediatr 2019. doi: 10.1001/jamapediatrics.2018.5056
  • 7 Paulus MP, Squeglia LM, Bagot K. et al Screen media activity and brain structure in youth: Evidence for diverse structural correlation networks from the ABCD study.. Neuroimage 2019; 185: 140-153
  • 8 Pearson J, Naselaris T, Holmes EA. et al Mental Imagery: Functional mechanisms and clinical applications.. Trends in Cognitive sciences 2015; 19: 590-602
  • 9 Spitzer M. Vorsicht Bildschirm.. Stuttgart: Klett; 2015
  • 10 Spitzer M. Christiania, Science und Cocktails. Soziale Experimente in Dänemark.. Nervenheilkunde 2019; 38: 453-458
  • 11 Walsh JJ, Barnes JD, Cameron JD. et al Associations between 24 hour movement behaviours and global cognition in US children: a cross-sectional observational study.. Lancet Child Adolesc Health 2018; 2: 783-791
  • 12 Stephens GJ, Silbert LJ, Hasson U. Speaker-listener neural coupling underlies successful communication.. PNAS 2010; 107: 14425-30
  • 13 Lillard AS, Peterson J. The immediate impact of different types of television on young children?s executive function.. Pediatrics 2011; 128: 655-649
  • 14 Lillard AS, Li H, Boguszewski K. Television and childrens executive function.. Adv Child Dev Behav 2015; 48: 219-248

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Abb. 1 Die Titelseite der Ausgabe Nr. 7600 des Fachblatts Nature vom 28. April 2016 zeigt ein Gehirn mit je nach Bedeutungskategorie in unterschiedlichen Farben aufgedruckten Wörtern. Damit soll das wesentliche Ergebnis der Arbeit von Huth und Mitarbeitern symbolisch dargestellt werden: Es gibt in der Gehirnrinde kein „Bedeutungszentrum“. Bedeutung ist vielmehr so gut wie überall in der Gehirnrinde, und am ehesten als in vielen Zwischenschichten mit (nach meist unbekannten Prinzipien) landkartenförmig angeordneten Repräsentationen auftretendes gemeinsames Aktivitätsmuster zu verstehen.