Definitionen und Epidemiologie
Kopfschmerzen sind die häufigsten Schmerzen des Schulkinds gefolgt von Bauchschmerzen.
Grundsätzlich lassen sich verschiedene Formen beschreiben. Man unterscheidet die primären
Kopfschmerzen von den sekundären.
-
Bei den primären Kopfschmerzen ist der Schmerz, losgelöst von anderen Faktoren, Grund der Pathogenese.
Zu diesen zählen Spannungskopfschmerzen, Migräne, Cluster- und trigeminoforme Schmerzen,
wobei die beiden Letzteren im Kindesalter eher selten sind. In der osteopathischen
Medizin wird zusätzlich der Stauungskopfschmerz beschrieben.
-
Sekundäre Kopfschmerzen treten als Symptom einer anderen Grunderkrankung in Erscheinung, z. B.
bei Entzündungen, Infektionen, Fehlsichtigkeit, raumfordernden Prozessen und Gefügestörungen
im Bereich der HWS.
20% der Kinder im Vorschulalter und mehr als 50% der Kinder am Ende der Grundschulzeit
sind von Kopfschmerzepisoden betroffen. Circa 60% der Kinder kennen Spannungskopfschmerzen,
unter Migräne leiden 12% der Kinder. Mischformen scheinen im Kindesalter häufiger
aufzutreten [2].
Differenzialdiagnostik
Anhand der Anamnese, der mitgebrachten Laborergebnisse und der Röntgen- bzw. MRT-Aufnahmen
muss sichergestellt werden, dass es sich tatsächlich um einen primären Kopfschmerztyp
handelt. Fehlende Untersuchungen sollten auf jeden Fall zeitnah durchgeführt werden,
bevor mit einer osteopathischen Behandlung begonnen werden kann.
Spannungskopfschmerzen
Spannungskopfschmerzen werden von einer erhöhten Spannung der Schulter- und Nackenmuskeln
begleitet. Der Schmerzcharakter ist dumpf, helm- oder bandartig und meistens mittelschwer.
Wärme und Bewegung vermindern den Schmerz.
Osteopathisch gedacht, wird durch die Tonuserhöhung der betroffenen Muskeln die Gleitfähigkeit
des N. occipitalis major eingeschränkt ([Abb. 1]). Es entsteht eine zirkulatorische Störung im perineuralen Gewebe. Zunächst sind
das venöse und das lymphatische System betroffen. Eine Stauung geht mit einer Veränderung
der metabolischen Situation und mit einer lokalen Ischämie einher, welche die Schmerzen
verursacht. Diskutiert werden auch metabolisch bedingte Mikroläsionen innerhalb der
betroffenen Muskeln als Folge von partiellen Überlastungen ohne Entspannungsphasen
und einer mangelhaften Versorgung mit Sauerstoff.
Abb. 1 Durchtritt des N. occipitalis major durch den M. trapezius und dessen Faszie.(aus:
Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Kopf, Hals
und Neuroanatomie. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme;
2015)
Fallbeispiel
Anamnese
Ein 8-jähriges Mädchen wird in meiner Praxis mit mittelschweren, mehrmals in der Woche
auftretenden Kopfschmerzen vorgestellt. Diese entwickeln sich meist am späten Vormittag
oder späten Nachmittag. Sie beginnen im Nacken und breiten sich dann über den Hinterkopf
aus. Manchmal ziehen sie bis zur Stirn. Die Schmerzen sind nur rechts vorhanden, gelegentlich
werden sie von einer leichten Übelkeit ohne Erbrechen begleitet. Geruchs- und Lichtempfindlichkeit
bestehen nicht, Bewegung bessert die Symptomatik. Es besteht eindeutig ein Zusammenhang
zwischen längerem Sitzen mit erhöhter visueller Anforderung und den Schmerzen. Diese
traten erstmals nach einer längeren Autofahrt auf, während der das Kind eingeschlafen
war. Nach Abklärung sekundärer Auslöser (Infektionen, raumfordernde Prozesse, Fehlsichtigkeit,
kardiovaskuläre Ursachen) wurde ein Spannungskopfschmerz diagnostiziert. Die vom Arzt
nach den Vorgaben der DMKG [2] empfohlene Behandlung (regelmäßige Bewegung, Entspannungsübungen, Ibuprofen-Schmerzsaft,
regelmäßiges Benutzen eines TENS-Geräts) brachten keine wesentliche Verbesserung.
Die Patientin geht 1-mal pro Woche zum Tanzen und 1-mal zum Schwimmen. Beim Schwimmunterricht
bemerkt die Trainerin in letzter Zeit, dass sie die Bahn nicht mehr gerade schwimmt,
sondern nach rechts abweicht.
Die Patientin hat bei grippalen Infekten häufig Übelkeit und Halsschmerzen, wobei
Infekte selten sind. Sie hat 2 jüngere Geschwister. Die Schwangerschaft verlief komplikationslos.
Nach Einsetzen der Wehen kam es im Kreißsaal bei einer Muttermundöffnung von 6 cm
zum Geburtsstillstand. Trotz wehenfördernder Medikamente und PDA öffnete sich der
Muttermund nicht weiter. Das Kind steckte im Beckeneingang und konnte sich nicht regelrecht
eindrehen. Schließlich wurde ein Kaiserschnitt durchgeführt. Das Neugeborene konnte
ohne Probleme angelegt werden und direkt trinken. Es hatte eine Lieblingsseite (rechts),
die sich aber durch gezielte Ansprache von links und Lagerung auf dem Bauch und auf
den Seiten rasch besserte. In den ersten Monaten litt der Säugling unter Blähungen
und spuckte häufig einen Teil der Milch wieder aus. Ansonsten verlief die Entwicklung
regelrecht.
Die Patientin wurde nach den Impfempfehlungen der STIKO ohne Komplikationen geimpft.
Befund
Bei der Inspektion zeigten sich ein Schulterhochstand rechts, eine Rotation und Seitneigung
rechts der HWS und eine evtl. kompensatorische Seitneigung und Rotation links im thorakolumbalen
Übergang (TLÜ). Das Körpergewicht lag auf dem linken Bein. Palpatorisch waren M. trapezius,
M. semispinalis und M. levator scapulae rechts verspannt und schmerzhaft. Es fanden
sich Triggerpunkte medial am Rand des Okziputs rechts und auf Höhe des Proc. spinosus
C2 rechts. Die Bewegungstests zeigten eine eingeschränkte Rotation und Seitneigung
des Kopfs nach links, eine Deflexion des Unterkiefers bei Mundöffnung nach rechts.
Ferner fanden sich eine Dysfunktion der SSB in Sidebendingrotation (SBR) rechts, ein
Kreuzbiss rechts, das Sakrum in einer anterioren Torsionsdysfunktion L/L, der Magen
war in Innenrotation und Adduktion ohne Druckdolenz fixiert.
1. Behandlung
Bei der 1. Behandlung löste ich die Flexion-Rotation-Seitneige-Dysfunktion (FRS) rechts
von C2 mit einer Balanced-Ligamentous-Technik (BLT) ([Abb. 2]). Diese Bewegungseinschränkung war der Grund für den Kopfschmerz. Anschließend behandelte
ich die Triggerpunkte am Rand des Okziputs und am Proc. spinosus C2. Daraufhin verminderte
sich die schmerzhafte Verspannung der genannten Muskeln. Ich mobilisierte den N. accessorius
rechts am medialen ventralen Rand des M. trapezius (Pars transversa) nach Barral und
den N. occipitalis major. Als Nächstes entspannte ich die kurzen Nackenmuskeln mit
einem Okziput-Release.
Abb. 2 Behandlung der HWS mit einer Faszientechnik (BLT).(aus: [6]
)
Nach einer intrabukkalen Detonisierung der Mm. pterygoidei medialis und lateralis
rechts und einer Korrektur der L/L-Dysfunktion des Sakrums beendete ich die Behandlung
mit einer Duraschaukel in Seitlage, um die reziproken Spannungsmembranen zu harmonisieren
(C2 und Sakrum als durale Anheftungspunkte).
Die abschließende Untersuchung zeigte eine ausgeglichene Haltung mit freier Beweglichkeit
des Kopfes, des TLÜ und einer gleichmäßigen Belastung beider Beine. Die Patientin
gab an, ein freies leichtes Gefühl im Nacken und viel weniger Druck im Kopf zu verspüren.
Der Mutter erklärte ich, dass eine eingeschränkte Beweglichkeit des 2. Halswirbels
vorlag, die vermutlich auf das Einschlafen während der Autofahrt zurückzuführen ist.
In der Folge entwickelte sich eine Reizung der Nerven, die auf Höhe des 2. Halswirbels
den Wirbelkanal verlassen, was Schmerzen verursacht und eine Verspannung der Muskeln
des Nackens bedingt, die wiederum den Nerv zusätzlich irritieren, sodass sich die
Schmerzsituation selbst unterhalten hat. Ich vereinbarte einen Kontrolltermin in 2
Wochen.
2. Behandlung
Seit der 1. Behandlung hat die Patientin keine Kopfschmerzen mehr gehabt. Ich kontrollierte
die Befunde vom 1. Termin und fand den Magen noch in gleicher Spannung und wieder
eine leichte Seitneigung und Rotation im TLÜ nach links. Ich behandelte den Magen
([Abb. 3]), das Diaphragma, die Sutura occipitomastoidea (OM), das Foramen jugulare und den
N. vagus, um auch diesen Bereich in einen ausgeglichenen Zustand zu bringen. Ich beabsichtigte
damit, einen möglichen viszeralen Trigger für die Kopfschmerzen zu vermeiden. Der
N. vagus versorgt u. a. die hintere Schädelgrube sensibel ([Abb. 4]).
Abb. 3 Behandlung des Magens: Zunächst erfolgt eine indirekte Behandlung, bis sich das Gewebe
entspannt, dann ein direktes Führen in die Korrektur.(aus: [6]
)
Nach der Behandlung stand das Mädchen komplett im Lot und sagte, dass es ihm richtig
gut gehe. Aus meiner Sicht war kein weiterer Termin nötig, bei erneut auftretenden
Kopfschmerzen sollte sich die Patientin wieder melden.
Abb. 4 Viszerosensible und viszeromotorische Versorgungsgebiete des N. vagus.(aus: Schünke
M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Kopf, Hals und Neuroanatomie.
Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2015)
Zusammenfassung
Hypothetisch könnten durch die wegen des Kaiserschnitts nicht erlebte Konfiguration
des Schädels (die intrauterin erworbene SBR konnte sich nicht normalisieren) und durch
eine evtl. Traktionsverletzung der HWS die obere HWS und die SSB die empfindlichen
Körperregionen der Patientin sein. Darauf weisen auch die Verdauungsstörungen und
die Lieblingsseite während der Säuglingszeit hin. Der durch die SBR rechts gereizte
N. vagus könnte Grund für die bis heute persistierende Position und schnelle Reizung
des Magens sein.
Die Zwangshaltung während der Autofahrt hat ein getriggertes Gebiet stark belastet,
womit die Hartnäckigkeit der Schmerzen erklärt werden könnte. Passend dazu ist das
Auftreten des Schmerzes nach längerem Sitzen mit einer Belastung des visuellen Systems.
Durch die Parallelschaltung der Augenmuskeln und der kurzen Nackenmuskeln ergab sich
bei Übermüdung in der Schule (später Vormittag) oder nach längerem Lernen für die
Schule bzw. Handy- oder Tabletspielen (später Nachmittag) eine deutliche Häufung der
Schmerzen. Der für die Schmerzen verantwortliche N. occipitalis major zieht von hinten
über das Os occipitale und das Os parietale. Er endet ungefähr auf Höhe der Vertex.
Bei einer starken Reizung können die gesteigerten Impulse des Nervs auf den N. frontalis
des N. ophthalmicus (einen Ast des N. trigeminus) übertragen werden und dann bis zur
Stirn ziehen.
Reizungen im Bereich der oberen HWS werden auch auf der Rückenmarksebene auf trigeminale
Neurone übertragen. Die Kernsäule des N. trigeminus reicht bis ins Halsmark auf Höhe
von C2. Diese reflektorische Verbindung hat Auswirkungen auf den Tonus der Kiefermuskeln
und damit auf die Mundöffnung.
Der Kopfschmerz des Mädchens ist also Folge von zwei Entitäten: Zum einen ist es ein
primärer Kopfschmerz (Spannungskopfschmerz) und zum anderen als Auslöser ein sekundärer
Kopfschmerz (zervikogener Typ). Mit der Behandlung der Ursache konnte der Kopfschmerz
erfolgreich behandelt werden, wogegen die rein symptomatische Behandlung keine wirkliche
Linderung gezeigt hat.
Migräne
Die kindliche Migräne unterscheidet sich von der des Erwachsenen dadurch, dass sie
meistens nur wenige Stunden andauert und nach einer Phase tiefen Schlafs komplett
aufgelöst ist. Vor der 1. Migräneattacke werden Nasenbluten ohne Trauma und anfallsweise
krampfartige Bauchschmerzen beobachtet.
Bei einem Anfall ist das Kind blass, hört auf zu spielen und verlangt nach Ruhe. Bewegung
verschlimmert den Schmerz. Die Schmerzen sind nicht unbedingt einseitig, sie zeigen
sich meist an der Stirn und an den Schläfen. Als Auslöser für die Migräneattacken
wird ein sog. Migränegenerator (Migränezentrum) im Hirnstamm verantwortlich gemacht,
der im MRT mit einer veränderten Geweberesonanz dargestellt werden kann. Dieser Generator
lädt sich durch verschiedene Ursachen auf, z. B. durch Schlafmangel, Unterzuckerung,
Ängste, Stress (auch positiven), starke visuelle und akustische Reize, aber auch durch
klimatische Bedingungen. Er entlädt sich spontan, oft unter Ankündigung einer Aura
in Form von Blitzen, Farbsehen oder fantastischen Bildern, gelegentlich erscheinen
auch olfaktorische Wahrnehmungen im Sinne einer Kakosmie sowie Missempfindungen an
Armen und Beinen oder im Gesicht.
Aus osteopathischer Sicht sind folgende Beobachtungen und Zusammenhänge pathophysiognomisch.
Der typische Schmerz bohrt sich oft einseitig wie ein Messer von hinten nach vorn
durch den Kopf, wobei die Seiten wechseln können. Der Schmerz wird so beschrieben,
als breite er sich entlang des Tentorium cerebelli und der Falx cerebri aus, um sich
dann mit unsäglicher Intensität ins Auge und in die Schläfe zu bohren. Die Beteiligung
der Dura mater erklärt die begleitende Geruchsempfindlichkeit, die Übelkeit bis zum
Erbrechen und die Lichtempfindlichkeit (Fixation der Falx cerebri an der Crista galli
– Geruch, Kontinuität der Dura mater bis in die Sklera des Bulbus oculi – Verknüpfung
des olfaktorischen Systems mit dem Vegetativum – Übelkeit und Erbrechen) ([Abb. 5]).
Abb. 5 Falx cerebri und Tentorium cerebelli mit den darin eingebetteten Sinus cerebri (venöse
Blutleiter). Zu beachten ist der Ursprung der Falx cerebri an der Crista galli.(aus:
Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Kopf, Hals
und Neuroanatomie. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme;
2015)
Veränderte zirkulatorische Bedingungen könnten Auslöser der Attacken sein. Eine Stauung
im Sinussystem innerhalb der intrakranialen Membranen könnte eine Reizung des N. ophthalmicus
hervorrufen. Reflektorisch wäre eine Stimulation des sympathischen Nervensystems vorstellbar,
was zu einer verminderten Durchblutung führen könnte. Die Abnahme der Durchblutung
beginnt okzipital und breitet sich sehr langsam nach parietal und temporal aus. Dort
entsteht durch eine Hemmung der kortikalen, neuronalen Aktivität die Aura. In der
Folge kommt es zu einer Ausschüttung von vasoaktiven Substanzen. Dies bedingt eine
massive Vasodilatation, welche die perivaskulären Gebiete der Duragefäße in einen
Entzündungszustand versetzt. Dies führt durch eine exzessive Aktivität der trigeminalen
Fasern, v. a. des N. ophthalmicus, zu den beschriebenen Schmerzen. (Deshalb hat auch
die früher angewandte effektive Behandlung mit Ergotaminen, die eine extreme Vasokonstriktion
zur Folge hat, den Schmerz verschwinden lassen.)
Die Migräne des Erwachsenen wird heute in den meisten Fällen mit Triptanen behandelt,
die in das Transmittersystem des Gehirns eingreifen und bei rechtzeitiger Einnahme
den Schmerz kupieren können. Verabreicht werden zudem ein leichtes Antidepressivum
oder ein Ovulationshemmer ohne Abbruchblutung.
Oft lassen sich leichte bis mittelschwere Attacken des Kindes mit Ruhe in einem abgedunkelten
Raum, einem kühlen Lappen auf der Stirn oder im Nacken und Einreiben mit Pfefferminzöl
gut behandeln. Leidet das Kind unter schweren Anfällen, sollte schon beim Eintreten
der Aura ein wirksames Scherzmittel verabreicht werden, um die Schmerzentwicklung
direkt zu unterbrechen.
Fallbeispiel
Anamnese
Das 11-jährige Mädchen leidet seit einem ½ Jahr unter anfallsartigem Kopfschmerz.
Die Schmerzattacke beginnt mit Flimmern vor den Augen, dann wird alles neblig und
der Kopf dumpf. Manchmal fangen das Gesicht und der rechte Arm an zu kribbeln. Beim
1. Anfall hatte die Patientin ein ganz taubes Gesicht und konnte auf einem Auge nichts
mehr sehen, dann begannen die Kopfschmerzen und sie musste sich übergeben. In der
Kinderklinik wurden ein EEG geschrieben, die Augen untersucht und ein MRT vom Kopf
gemacht. Alles war ohne Befund, ebenso die Laborwerte. Das Mädchen bekam eine Infusion
mit Ibuprofen und wurde nach 2 Tagen entlassen. Migräne ist in ihrer Familie nicht
bekannt, evtl. könnte der Opa mütterlicherseits an Migräne gelitten haben.
In den nächsten Wochen wiederholten sich die Schmerzattacken immer mit vorherigen
Sehstörungen unterschiedlichster Form und Erbrechen. Die Patientin konnte mehrfach
nicht am Unterricht teilnehmen. Die Schmerzen traten zu unterschiedlichen Tageszeiten
auf. Im Schmerztagebuch war auffällig, dass sich die Schmerzen häufig nach einer starken
körperlichen Belastung zeigten oder wenn sie sich während des Lernens stark konzentrierte.
Bei körperlicher Belastung bekam die Patientin schnell einen hochroten Kopf.
Die Patientin geht aufs Gymnasium, ist sehr stolz auf ihre guten Leistungen und lernt
gern. Sie spielt einmal in der Woche Badminton, setzt jetzt aber öfter eine Sequenz
aus, wenn der Kopf zu heiß wird. Sie spielt Klavier und übt täglich. In der Schule
singt sie im Chor. Sie hat eine jüngere Schwester. Schwangerschaft und Geburt waren
unkompliziert, die Entwicklung verlief regelrecht. Sie wurde nach STIKO-Empfehlung
geimpft und war selten krank. Vor 1 Jahr hatte sie im Winter eine schwere Bronchitis.
Seitdem bekommt sie schnell Husten. Der Kinderarzt stellte eine Obstruktion der Bronchien
fest und verordnete 2-mal täglich Inhalationen mit Salbutamol (ein Sympathikomimetikum,
das zur Vasokonstriktion führt). Im letzten ½ Jahr war die Patientin ziemlich gewachsen,
vor einigen Wochen hatte sie ihre Menarche. Der Zyklus ist noch unregelmäßig.
Befund und Behandlung
Die Patientin hielt die Schultern hochgezogen und den Rücken gekrümmt. Sie atmete
fast nur sternal. Bei ihrem schlanken Körper passte der kleine Bauch nicht zur Physiognomie.
Die körperliche Untersuchung zeigte einen gestauten Schädel und eine Dysfunktion der
SSB in Torsion rechts und einen Downstrain, den Thorax in Inspiration mit einer insgesamt
fixierten BWS und einer Dysfunktion ERS links von Th2, das Diaphragma im Tiefstand,
das Dünndarmpaket in der linken Fossa iliaca fixiert. Das Sakrum zeigte ein L/R. Meine
Frage nach Rückenschmerzen wurde bestätigt; sie säßen zwischen den Schulterblättern
und im Kreuz, v. a. morgens nach dem Aufstehen.
Ich fragte noch einmal nach einem Sturz. Die Mutter erinnerte sich an einen Sturz
von der Schaukel, bei dem das Kind mit dem offenen Mund im Kies gelandet war. Dies
erklärte für mich den Downstrain: traumatische Belastung der Maxilla nach kranial,
Os ethmoidale und anteriorer Anteil des Corpus ossis sphenoidalis nach kranial, Ala
major nach kranial, Sphenoid in Extension.
Zentrale Befunde sind der pralle Schädel, der rigide Thorax, die Dysfunktion der BWS
und des Diaphragma abdominale. Mein Ziel bestand in der verbesserten venösen Drainage
aus dem Kranium und – als Voraussetzung dafür – in einer deutlichen Steigerung der
Mobilität des Thorax. Als Erstes löste ich mit einer sanften Impulstechnik im Sitzen
die ERS links von Th2. Mittels Rebound mobilisierte ich Thorax, BWS und Diaphragma
abdominale, stimulierte die Zirkulation mithilfe der Leber- und Milzpumpe und löste
den Dünndarm. Die Dysfunktion des Sakrums ist weniger deutlich; eine Atemtechnik normalisierte
die Beweglichkeit. Ich öffnete die obere Thoraxapertur sowie das Foramen jugulare
und spreizte die Kondylen, um die Drainage der venösen Blutleiter vorzubereiten. Ich
endete mit dem Sieben-Schritte-Protokoll von Viola Fryman, um das Sinussystem zu entlasten
([Abb. 6]).
Abb. 6 Behandlung der venösen Sinus.(aus: [6]
)
Ich erklärte der Patientin und ihrer Mutter, dass wahrscheinlich die seit der schweren
Bronchitis bestehenden Atemwegsprobleme eine venöse Stauung im Kopf verursachen, weil
das Blut aus dem Kopf in den Brustkorb gelangen muss, um das Herz zu erreichen. Ein
Hinweis könnte der rote Kopf bei Anstrengung sein. Das venöse System des Kopfes ist
sehr schmerzempfindlich und eine Stauung in diesem System könnte das Auftreten der
Migräne begünstigen. Ziel sei also, die Stauung im Kopf zu vermindern.
Verlauf
Ich vereinbarte ein Behandlungsintervall von zunächst 5 Zyklen im Abstand von 2 Wochen.
Nach der 3. Behandlung hatte die Patientin keinen Anfall mehr erlebt. Beim 4. Termin
begann ich neben der zirkulatorischen Stimulation mit einer Entlastung der SSB. Weil
der Schmerz auch hier primär durch die veränderten Druckverhältnisse im Kranium und
im Thorax ausgelöst wird, kann erst nach deren Stabilisation versucht werden, das
weiter zurückliegende Trauma zu behandeln. Ansonsten besteht die Gefahr, dass sich
der Schmerz verstärkt. Da das Trauma einige Jahre zurückliegt, kann keine komplette
Korrektur erwartet werden, aber ein Ausgleich von Spannungen sollte möglich sein.
Während der Behandlung des Downstrains bekam die Patientin Schmerzen genau in der
Region im Gesicht, in der die Missempfindungen vor den einsetzenden Schmerzen spürbar
waren. Ich schloss die Behandlung mit einer Dekompression des Gesichtsschädels ab.
Die Patientin fühlt sich irgendwie befreit und hatte das Gefühl, besser atmen zu können.
Die Patientin blieb schmerzfrei und beim 5. Termin kontrollierte ich alle Befunde,
entlastete die SSB und beendete die zunächst letzte Behandlung mit einer Drainage
der venösen Sinus. Sie blieb noch für 2 Jahre meine Patientin. Obwohl sie schmerzfrei
war, hat sie das Bedürfnis, einmal im Quartal zu mir zu kommen, um sich ausrichten
zu lassen.
Fazit
Hypothetisch lässt sich der Fall durch verschiedene parallel auftretende Faktoren
erklären. Der Beginn der Schmerzen steht in einem deutlichen zeitlichen Zusammenhang
mit einer schweren Erkrankung und einer sowohl psychisch als auch physisch neuen Lebenssituation.
Der Schlüssel sind die Diaphragmen und damit die Zirkulation:
-
Menarche: Diaphragma pelvis und Sakrum
-
Bronchitis: Diaphragma abdominale
-
hoher Anspruch an sich selbst: obere Thoraxapertur
-
vermehrtes Sitzen: OAA-Komplex
Das pathologische Geschehen potenziert sich durch die Fixation des Dünndarms infolge
der veränderten Druckverhältnisse im Bereich des Thorax und des Abdomens. Dies beeinträchtigt
zusätzlich die Zirkulation. Durch den Sturz von der Schaukel finden sich Beeinträchtigungen
in den Geweben des Schädels. Möglicherweise haben die weiteren Faktoren die Kompensationsfähigkeit
überschritten. Ob ein Migränegenerator Auslöser ist oder als Konsequenz der Schmerzsensation
entsteht (Plastizität des Gehirns!), möchte ich im Raum stehen lassen. Somit leidet
die Patientin eigentlich an einem nur in der Osteopathie bekannten Kopfschmerztyp:
dem Stauungskopfschmerz.