Neurowissenschaftler gingen solchen Gedanken damals eher nicht nach – zumindest nicht
in ihren Publikationen –, weil sie schlicht zu realitätsfern erschienen. Das Gehirn
stellt seine Arbeit wenige Sekunden nach der Unterbrechung seiner Sauerstoffzufuhr
ein. Wegen seines extrem hohen Energiebedarfs sind die Reserven an Glukose und ATP
nach wenigen Minuten erschöpft und die Mitochondrien arbeiten nicht mehr. Aufgrund
der dann nicht mehr funktionierenden Ionenpumpen kommt es zu einem Abfall des Ruhepotenzials
der Zellmembranen, zellschädigender Depolarisationen (Excitotoxizität) und einer Anhäufung
von toxischem Glutamat. Dies resultiert in irreversiblen Schäden der Axone und neuronalem
Zelltod durch Apoptose und Nekrose.
Zwar lässt sich bis heute nicht genau sagen, wann – auf die Minute genau – dann „der
Tod“ eintritt, aber dieses Konzept eines genauen Todeszeitpunkts ist ohnehin naturwissenschaftlich
etwa ebenso überholt wie die „freie Willensentscheidung“ (einschließlich deren Zeitpunkt)
eines Täters: Das Ganze ist vielmehr ein Prozess, und die Leber stirbt „später“ als
das Gehirn und die Haut noch später (weswegen einem Toten noch am nächsten Tag der
Bart wachsen kann). Den genauen Todeszeitpunkt eines Menschen gibt es in Naturwissenschaft
und Medizin nicht (sondern nur in der Rechtsprechung).
Den in Nature erschienenen Kommentaren zufolge, sollten wir damit beginnen, über dieses
Problem neu nachdenken. Nicht weil mit der einen neuen Studie alles frühere Wissen
zum Gehirn und dessen Ausfall über Bord geworfen werden muss, sondern weil längst
vorhandene Brüche in unserem Weltbild ein Stückchen offensichtlicher geworden sind.
Es wurde ein neuer Horizont eröffnet, vor dessen Hintergrund das Knirschen im Gebälk
unserer für tragfähig erachteten Wissensstrukturen lauter geworden ist und vor allem
künftig noch lauter werden wird. Worum geht es?
Die Neurowissenschaftler in Yale machten sich die Tatsache zunutze, dass ihr Institut
nicht weit von einem Schlachthof gelegen ist, in dem Schweinefleisch „produziert“
wird. Die Köpfe der bei der Schlachtung 6 bis 8 Monate alten Tiere sind dabei Abfallprodukt,
das keinerlei ethischen Regularien unterliegt – toter Müll eben. Mehr als 300 solcher
toter Tierköpfe dienten dazu, zunächst eine Methode zu entwickeln, die Gehirne weitgehend
freizulegen und diese dann mit einer eigens entwickelten, an die beiden internen Karotiden
sowie den venösen Abfluss angeschlossenen „Herz-Lungen-Maschine“ und einer speziellen
Technik bei 37° C zu perfundieren und experimentell zu untersuchen. Man verwendete
kein Blut, sondern eine Flüssigkeit, die u. a. Hämoglobin und nicht-koagulierende,
zytoprotektive Stoffe enthielt, jedoch (abgesehen von einem Ultraschallkontrastmittel)
keine zellulären bzw. korpuskulären Bestandteile. Das gesamte System nennen die Autoren
„BrainEx“ (BEx).
▶ Abb. 1 Titelseite der Nature-Ausgabe, die den hier diskutierten Artikel enthielt. Die unten
in der Sanduhr erneut entstehende Form des Gehirns deutet dessen Überdauern über die
Zeit hinweg grafisch-metaphorisch an.
Nachdem die Methode etabliert worden war, wurde die eigentliche Studie an 32 Gehirnen
durchgeführt, die in 4 Gruppen – entsprechend 4 verschiedener durchgeführter Prozeduren
– eingeteilt wurden:
-
Perfusion mit einer Kontrollflüssigkeit,
-
Perfusion mit der eigens entwickelten BEx-Lösung,
-
Kontrolle ohne Perfusion und Aufarbeitung nach 10 Stunden und
-
Extraktion und kurze Spülung des Gehirns und Aufarbeitung nach einer Stunde.
In den ersten beiden Gruppen begann die Perfusion 4 Stunden nach der Schlachtung (dem
„Tod“) des Tieres und wurde für weitere 6 Stunden durchgeführt, wonach die Gehirne
makro- und mikroskopisch aufgearbeitet wurden. Es gab also im Grunde eine Behandlungsgruppe
(Gruppe 2) und 3 verschiedene Kontrollgruppen.
Während der 6-stündigen Perfusion wurden Experimente mit unterschiedlichen Methoden
zu verschiedenen Funktionen des Gehirns gemacht.
Dopplersonografie – Perfusion
Dopplersonografie – Perfusion
Zunächst wurde gezeigt, dass es bei Verwendung von BEx-Lösung tatsächlich zu einer
Reperfusion des Gehirns kam, wohingegen die Perfusion mit Kontrolllösung zu einem
massiven Gehirnödem, einer Gehirnschwellung und einer Zerstörung von Gehirngewebe
führte. Die Perfusion des Gehirns war über den Beobachtungszeitraum zum Stillstand
gekommen. Demgegenüber wurde mittels Dopplersonografie nicht nur gezeigt, dass die
Perfusion mit BEx-Lösung über den gesamten Zeitraum von 6 Stunden funktionierte. Verabreichte
man einen Vasodilatator (Bolusinjektion des Kalziumantagonisten Nimodipin), kam es
zu einer dopplersonografisch nachweisbaren Gefäßerweiterung um etwa 40 %. Mit dem
BEx-System gelang also nicht nur eine dauerhafte Perfusion, sondern es konnte auch
gezeigt werden, dass das Gefäßsystem des Gehirns seine pharmakologische Reagibilität
wiedergewonnen hatte.
MRT (T1-gewichtet) – Struktur
MRT (T1-gewichtet) – Struktur
Unter der BEx-Bedingung blieben die anatomischen Strukturen (im Vergleich zu lebenden
Gehirnen) intakt, was sich an erhaltener Ventrikelgröße, erhaltenem Kontrast zwischen
grauer und weißer Substanz und erhaltenen abgrenzbaren anatomischen Landmarken zeigte.
In der Kontrollgruppe ohne Gehirnperfusion (Gruppe 3) sah man hingegen nach 10 Stunden
kollabierte Seitenventrikel, einen verminderten Wassergehalt und Gasbildung als Zeichen
eines Gehirnzerfalls. Bei Perfusion mit Kontrolllösung (Gruppe 1) kam es hingegen
zu vergrößerten Seitenventrikeln, einem erhöhten Wassergehalt des Gehirns und einer
Verminderung der MR-Signalintensität.
Histologie – Zytoarchitektur
Histologie – Zytoarchitektur
Gehirnschnitte von Neokortex, Hippocampus und Kleinhirn zeigten mittels Nissl-Färbung
deutliche Unterschiede zwischen den Gruppen. In der BEx-Bedingung (Gruppe 2) zeigte
die Histologie intakte Strukturen, wohingegen die nicht perfundierten bzw. nur mit
Kontrolllösung perfundierten Gehirne einen deutlichen strukturellen Integritätsverlust
zeigten. In ultrastrukturellen Untersuchungen der CA1-Region des Hippocampus, die
bekanntermaßen gegenüber Anoxie besonders vulnerabel ist, zeigten die Neuronen in
der BEx-Bedingung weniger Anschwellung im Vergleich zur Gruppe 4 mit rascher Aufarbeitung
der Gehirne nach Spülung innerhalb von einer Stunde. Auch im präfrontalen und motorischen
Neokortex zeigte sich eine erhaltene mikrostrukturelle Integrität, was im Hinblick
auf die Betzzellen des Motorkortex, deren Axone ja durchtrennt werden mussten, besonders
hervorzuheben ist.
Biochemie – Apoptose, myelinisierte Fasern
Biochemie – Apoptose, myelinisierte Fasern
Da die BEx-Perfusionslösung auch einen Hemmstoff der Apoptose (Caspase-Hemmer) enthielt,
wundert nicht, dass eine histologische Anfärbung von aktivierter Caspase 3 in Gehirnschnitten
des Hippocampus (CA1-region und Gyrus dendatus) eine Verminderung von deren Aktivität
in der Gruppe 2 verglichen mit allen anderen Gruppen zeigte. Dies traf auch für die
Schnitte aus dem Neokortex zu. Analysen des basischen Myelinproteins zeigten eine
Verminderung der Ordnung bzw. Gerichtetheit von Fasern der weißen Substanz in den
Gruppen 1 und 3 verglichen mit den Gruppen 2 und 4.
Glia – Inflammation
Ein ähnliches Ergebnis hatte eine Färbung mit Markern für Astrozyten und Mikroglia:
In den Gehirnen ohne Perfusion (Gruppe 3) und mit Perfusion durch Kontrollflüssigkeit
(Gruppe 1) fanden sich Anzeichen für Zelluntergang, nicht jedoch in den BEx-perfundierten
Gehirnen und den rasch aufgearbeiteten Gehirnen. Um die Funktionstüchtigkeit der genannten
Zellen zu untersuchen, wurde lokal der Glia-Aktivator Lipopolysacharid (LPS) im Frontalhirn
injiziert, was zu einer Immunantwort in der betreffenden Hirnregion nach 6 Stunden
Perfusion im Sinne einer Erhöhung von Interleukin (IL)-1alpha, IL-1beta, IL-6und IL-8
in Gruppe 2 im Vergleich zu den Gruppen 1 und 4 führte (in Gruppe 3 waren wegen rückläufiger
bzw. fehlender Perfusion während der 6 Stunden entsprechende Messungen nicht möglich).
„Insgesamt zeigen diese Befunde, dass die BEx-Perfusion die Astrozyten und Mikrogliazellen
nicht nur zahlenmäßig, sondern auch im Hinblick auf ihre inflammatorischen Funktionen
aufrechterhalten kann“, fassen die Autoren ihre Ergebnisse zusammen [1, S. 340].
Elektronemikroskopie – Ultrastruktur der Synapsen
Elektronemikroskopie – Ultrastruktur der Synapsen
Die elektronenmikroskopische Untersuchung von Hippocampuspräparaten zeigte intakte
Synapsen (präsynaptische Vesikel) quantitativ in Gruppen 2 und 4 nicht unterschiedlich,
in Gruppen 1 und 3 dagegen auf etwa 50 % reduziert).
Metabolismus
Messungen der Glukose- und Sauerstoffkonzentrationen in der arteriellen und venösen
Perfusionsflüssigkeit (nur Gruppe 2) zeigten einen nach Erwärmung der Gehirne stabilen
Sauerstoff- und Glukoseverbrauch an. Auch die venösen Natrium- und Kaliumkonzentrationen
stabilisierten sich während der 6-stündigen Perfusion, was ebenfalls eine aktive Natrium-Kalium-Hömöostase
und damit einen intakten Metabolismus anzeigt.
Elektrophysiologie in Gehirnschnitten
Elektrophysiologie in Gehirnschnitten
Wegen erheblicher Gewebeschäden in den Gehirnen der Gruppen 1 und 3 ließen sich elektrophysiologische
Untersuchungen an Neuronen in Gehirnschnitten aus dem Hippocampus (via whole-cell
patch-clamp) nur von den BEx-perfundierten Gehirnen durchführen. Hier zeigten sich
normale Werte für Membrankapazität, Membranwiderstand, Zeitkonstante und Ruhepotenzial.
„Alle abgeleiteten Neuronen reagierten auf überschwellige Depolarisation mit repetitiven
Aktionspotentialen und wiesen sowohl schnelle voltage-gated Natrium-Ionen-Ströme als
auch langsame rectifyer Kalium-Ionen-Ströme auf“ [1, S. 341]. Auch die Schwelle des
Auftretens von Aktionspotenzialen und deren Amplitude waren normal. „Wir fanden also
funktionierende Pyramidenzellen im Hippocampus nach 4 Stunden post mortem begonnener
6-stündiger Gehirnperfusion“, fassen die Autoren zusammen [1, S. 341].
EEG
Zwanzig intrakranielle direkt auf dem Kortex platzierte Elektroden dienten der Elektrokortikografie
(ECoG, eine Art intrakranielles EEG). Es zeigte sich in allen Ableitungen von den
BEx-perfundierten Gehirnen eine Null-Linie. „Dies zeigt an, dass Organisation und/oder
Summation der synaptischen Aktivität einzelner Neuronen nicht ausreichte, um eine
mittels ECOG messbare Aktivität des Netzwerkaktivität zu erzeugen“, kommentieren die
Autoren dieses Ergebnis [1, S. 341].
Nach all den wiederhergestellten Funktionen ist dieses letzte Ergebnis – das Gehirn
als Ganzes funktioniert nicht mehr (vom Geist gar nicht zu reden!) – zunächst enttäuschend.
Möglicherweise handelt es sich dabei jedoch um ein experimentelles Artefakt. Um dies
zu verstehen, muss man das Supplement und die Kommentare genau lesen, die sich vor
allem auf die durch das Experiment aufgeworfenen ethischen Fragen beziehen.
Darf man das alles überhaupt? – Es gehört zweifellos zu den Verdiensten der Autoren,
dass sie so ziemlich jeden und alle gefragt haben, die für eine Antwort zuständig
sein könnten: Von der lokalen Ethikkommission bis hin zur Neuroethics Working Group
der BRAIN-Initiative der National Institutes of Health (NIH)[
1
]. Wie eingangs gesagt, gibt es für den bei der Schlachtung von Tieren entstehenden
Abfall keinerlei ethische Regularien. Das Schlachten selbst – möglichst schnell und
schmerzfrei etc. – ist dagegen geregelt, und für die Behandlung von Versuchstieren
in wissenschaftlichen Experimenten gibt es jede Menge Regeln. Weil das gesamte Experiment
also einerseits erst 4 Stunden nach dem Tod der Tiere begann, aber andererseits darauf
abzielte, die Gehirnfunktion wiederherzustellen, wurde es als eine Gefahr betrachtet,
dass dies tatsächlich geschehen könnte und den Tieren – durch Wiedererlangung von
geistigen Leistungen wie Wahrnehmung oder Schmerzempfindung – Leid zugefügt würde.
Um dies zu verhindern wurden der Perfusionslösung nicht nur Blocker von Zelltodprozessen
beigemischt, sondern auch Blocker neuronaler Aktivität. Nach der Entnahme der Gehirnproben
für die elektrophysiologischen Experimente gab es daher immer auch eine Washout-Phase.
„Wenn diese Blocker (während des Experiments) irgendwann entfernt worden wären, hätte
das Forschungsteam möglicherweise EEG-Aktivität gefunden“, kann man in einem der Kommentare
daher lesen [3, S. 300]. Im Supplement wird darüber hinaus beschrieben, dass man während
des gesamten Experiments Anästhetika „zur Hand“ hatte und zudem das Gehirn sofort
gekühlt hätte, wenn man spontane Hirnstromaktivität festgestellt hätte: „It is remotely
conceivable that as the technology develops, the brain may regain the ability to emit
global (i. e., ECoG/EEG) signals. However, in the event that this were to occur, we
were ready to swiftly implement countermeasures, including, but not limited to, reducing
the temperature of the brain in order to diminish metabolic activity, and/or administering
general anesthetic agents (which were already at-hand during the perfusion experiments)
to maintain an isoelectric ECoG reading. (…) Given the possibilities for inadvertent
suffering posed by the restoration and maintenance of remnant awareness, any experimentation
aimed at purposefully maintaining a brain with global electrical activity, without
the aforementioned interventions to diminish such activity, should be subject to more
extensive ethical review“ [[4]].
Weil man also aus ethischen Gründen sehr vorsichtig war, konnten man gar nicht finden,
was eigentlich gefunden werden sollte: die Wiederherstellung der Gehirnfunktion. Und
die Autoren schreiben explizit, dass man jetzt weiter experimentieren kann, so weit,
wie es die – noch zu erfolgende – Diskussion der ethischen Aspekte eben erlaubt. Die
Kommentatoren sprechen durchaus bereits davon, dass dies auch ein Modell für das funktionierende
menschliche Gehirn darstellen könnte und es daher höchste Zeit wird, dass man darüber
diskutiert.
In den Kommentaren geht es u. a. um die Frage, was diese Arbeit für die Transplantationsmedizin
heute schon bedeutet. Wenn die Frage des Hirntods wieder unklarer erscheint, zumal
die Arbeitsgruppe Gehirne für bis zu 36 Stunden „am Leben“ gehalten hat [[5]], wird dessen Feststellung möglicherweise wieder schwieriger und damit das Transplantieren
unwahrscheinlicher. Kostet die Arbeit also womöglich manchem, der auf ein Organ wartet,
das Leben. Hierzu eine Zahl aus einem der Kommentare: Im Jahr 2017 verstarben in den
USA täglich etwa 18 Patienten auf den Wartelisten für Organe, die ihren Tod hätten
verhindern können. Bei uns fehlen ebenfalls Spender. In den Worten der Kommentatoren:
„If technologies similar to BrainEx are improved and developed for use in humans,
people who are declared brain dead (especially those with brain injuries resulting
from a lack of oxygen) could become candidates for brain resuscitation rather than
organ donation. Certainly, it could become harder for physicians or family members
to be convinced that further medical intervention is futile“ [6, S. 302f]. Jede Diskussion
um den Hirntod macht diese Situation nicht besser.
Aufwind hingegen werden die Firmen bekommen, die „Kryokonservierung“ von Verstorbenen
oder nur von deren Köpfen verkaufen. Wenn man ein großes Gehirn heute 4 Stunden nach
dem Tod (fast) wiedererwecken kann, warum sollte das dann in 200 Jahren nicht nach
200 Jahren im Gefrierfach gehen? Schon heute ist bei der Kühlungsbehandlung (Hypothermie)
nach plötzlichem Herztod, anschließender Reparatur des Herzens und Wiedererwärmung
vor allem das richtige Vorgehen und Timing beim Erwecken, nicht beim Herunterkühlen,
von entscheidender Bedeutung [[7]]. Man wird also darüber mit Sicherheit weiterforschen. Was dabei herauskommt, wissen
wir heute nicht. Alle sind sich einig, dass wir jetzt mehr darüber reden müssen. Das
ist gut so.