Nervenheilkunde 2019; 38(04): 216
DOI: 10.1055/a-0853-2448
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Aspergers Kinder

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Publication Date:
04 April 2019 (online)

Edith Sheffer. Aspergers Kinder. Die Geburt des Autismus im „Dritten Reich“. Frankfurt am Main: Campus Verlag 2018; 340 Seiten, gebunden, 29,95 Euro, ISBN 978–359–350–943–3

Mit dem wissenschaftlichen Blick der Historikerin und der Empathie einer Mutter verfolgt die Autorin, Historikerin am Europe Center der Stanford University, Kalifornien, die Entstehung und Entwicklung der Diagnose Autismus, die eng mit dem Namen Asperger verbunden ist. Als ich 1985 meine Ausbildung zum Pädiater begann, wurde bei einem von 2500 Kindern eine Autismus-Diagnose gestellt; 2016 wurde bereits bei einem von 68 Kindern eine Autismus-Spektrum-Diagnose gestellt. Um eine Antwort auf die Frage nach der Ursache dieser rasanten Diagnosekarriere zu erhalten, beschreibt Sheffer die gesellschaftliche Situation in Österreich in den 1920er- und 1930er-Jahren speziell in Wien, wo Hans Asperger lebte und arbeitete. Sein Arbeitsschwerpunkt war die Entwicklungsdiagnostik von Kindern aus unteren sozialen Schichten. Zu diesem Zeitpunkt waren die Ziele der Heilpädagogik im Wien der Nachkriegszeit durchaus auf die Förderung und Unterstützung der benachteiligten Kinder ausgerichtet. Die Autorin zeigt, dass Aspergers Kriterien zur individuellen Entwicklungsbeschreibung der Kinder von ihm anfangs nicht als Diagnosekriterien verwendet wurden. Das ändert sich allerdings drastisch mit der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich; jetzt verwendete Asperger seine Diagnostik als Ausleseinstrument. Wer nicht „gemütvoll“ ist, oder nicht erkennen lässt, dass er eine wertvolle Rolle in der nationalsozialistischen Gemeinschaft ausfüllen könnte, wird der Euthanasie zugeführt. Asperger hat an seinem Arbeitsplatz, der Jugendfürsorgestätte „Am Spiegelgrund“, persönlich den Tod vieler Kinder veranlasst und damit dazu beigetragen, den Namen „Am Spiegelgrund“ zum Inbegriff nationalsozialistischer Barbarei zu machen. Mehr als 750 Kinder wurden hier nachweislich von Ärzten und Schwestern qualvoll getötet.

Der ärztliche Vater seiner Patienten, der am Beginn seines beruflichen Werdegangs sich in die Persönlichkeit seiner ihm anvertrauten jungen Patienten einfühlte, verwendete diese Fähigkeit unter den Bedingungen einer Diktatur gegen seine Patienten, um die eigene Karriere zu fördern – und das mit Erfolg über das Ende der Diktatur hinaus. Asperger starb nach seiner letzten beruflichen Station als Chefarzt einer Kinderklinik. Dass das grausame Schicksal von Aspergers Kindern heute Ärzte, Pädagogen und Angehörige von Kindern mit dieser Diagnose nicht erschauern lässt, sollte Anlass sein, über die Funktion von Medizin und Pädagogik in einer Zeit der systematischen, digitalen Überwachung und des herrschenden Konformismus nachzudenken. Autismus ist eine Diagnose, die mit vermeintlich medizinischer Seriosität einem jungen Patienten ein lebenslanges Außenseitertum und eine Medikation mit psychoaktiven Substanzen beschert. Tötung auf Wunsch ist seit Jahren ein wiederkehrendes Thema in der öffentlichen Diskussion.

Ein Arzt und Pädagoge, dessen Patienten ebenfalls vom Nationalsozialismus tödlich bedroht wurden, war Janusz Korzcak. Während Asperger seine Patienten in den Tod schickte, um damit seine Karriere zu festigen, ging Janusz Korcak freiwillig mit seinen jungen Patienten in die Gaskammer. Er konnte ihren Tod nicht verhindern, aber er ließ sie bis zum Schluss nicht allein. Ihr Schicksal ist heute nur noch wenigen Menschen bekannt. Förderung und Unterstützung des Individuums fristen seit langem eine Pseudoexistenz in Sonntagsreden, während rücksichtsloser Egoismus die Menschen antreibt. Dieses Buch von Sheffer sollte nicht nur für Ärzte und Pädagogen eine Pflichtlektüre sein.

Stephan Hohenschild, Hamburg