Z Sex Forsch 2019; 32(01): 54-55
DOI: 10.1055/a-0839-7395
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Sexualität und Strafe

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Publication Date:
20 March 2019 (online)

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Um das Buch „Sexualität und Strafe“, herausgegeben von Daniela Klimke und Rüdiger Lautmann, innerhalb der kriminologischen Wissenschaftswelt einordnen zu können, ist der Verweis relevant, dass das „Kriminologische Journal (KrimJ)“, als dessen Beiheft der vorliegende Sammelband erschienen ist, „in der Tradition der kritischen und reflexiven Sozialwissenschaften [steht], wie sie durch den Arbeitskreis Junger Kriminologen, dem AJK, in den 1960er Jahren in die kriminologische Debatte eingeführt wurde“ (zitiert nach dem Klappentext des Buches). Die heute überwiegend nicht mehr ganz so jungen Kriminologinnen und Kriminologen, die Beiträge für das vorliegende Buch verfasst haben, sind folglich der „Kritischen Kriminologie“ zuzuordnen, die – wie der Name schon sagt – aktuelle kriminologische oder (sexual-)forensische Debatten kritisch wissenschaftlich begleiten und kommentieren will und dadurch ganz bewusst eine alternative Perspektive inmitten scheinbar feststehender, nahezu axiomatischer, wissenschaftstheoretischer wie gesellschaftspolitischer diskursiver Rahmenbedingungen anbieten möchte. Und die Ereignisse der letzten Monate und Jahre scheinen die Sorgen der Autorinnen und Autoren zu bestätigen: In Rekordtempo wurde kürzlich eine Reform des Sexualstrafrechts beschlossen, deren Zustandekommen unter anderem durch die Teilnahme mehrerer Bundesministerinnen und -minister in einem „Team Gina-Lisa“ (mit-)bedingt war. Der spätere, deutlich weniger öffentlichkeitswirksam vollzogene Austritt aus ebenjenem Team änderte die Richtung des öffentlichen Diskurses genauso wenig wie die Tatsache, dass „der Fall“ von Frau (Gina-Lisa) Lohfink sich so gar nicht für eine legislative Reformdiskussion eignete. Ganz aktuell wird der sexualitätsbezogene Gefahrendiskurs durch „MeeToo“ international weiter getragen und gipfelte jüngst in der Sorge konservativer Kommentatoren/-innen, dass die Schweden (und Schwedinnen) möglicherweise aufgrund eines allzu strengen Einwilligungserfordernisses bei der Vornahme sexueller (Penetrations-)Handlungen in absehbarer Zeit aussterben müssten. Wer also geglaubt hatte, dass der Diskurs um „Sexualität und Strafe“ in den 1990er-Jahren mit der kollektiven Panik vor forensisch-kriminologisch einschlägig vorbelasteten „Triebtätern“ seinen Höhepunkt gefunden hat, sieht sich getäuscht – die Notwendigkeit eines kritisch-kriminologischen Gegenstandpunkts ist also unbestritten weiterhin vorhanden und nur wenige gesellschaftliche Akteure/-innen schienen gewillt und in der Lage zu sein, diese Notwendigkeit mit Leben zu füllen. Die Kritische Kriminologie versucht mit dem vorliegenden Buch einen Beitrag diesbezüglich zu leisten und wartet mit allerlei wissenschaftlicher Prominenz aus den eigenen Reihen auf.

Den Anfang machen der Herausgeber Rüdiger Lautmann und die Herausgeberin Daniela Klimke selbst, indem sie in einem Einführungsbeitrag ausführlich begründen, warum „noch nie das erotische Feld derart massiv umstellt von Gefahrendiskursen“ (S. 5) war, wie dies aktuell der Fall ist. Sexualdelinquenz wird von verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren/-innen im Sinne eines signal crime (auch) zur Durchsetzung bestimmter Interessen instrumentalisiert und in diesem Zusammenhang wird das Angst- und Feindbild des Pädophilen produziert und gezielt eingesetzt. Dabei wird auf zwei Aspekte hingewiesen, die aus Sicht des Rezensenten über das erste Kapitel hinaus für die Bewertung des Buches von Relevanz sind: Zum einen wird die „Nichtintervention der etablierten Wissenschaften, auch der Kriminalsoziologie“ (S. 8), moniert, wobei gleichzeitig darauf hingewiesen wird, dass die (Klinische) Psychologie durchaus etwas Sinnvolles zur Diskussion beigetragen hat. Schade erscheint deshalb, warum darauf verzichtet wurde, auch außerhalb des Autoren/-innen-Kernbereichs der Kritischen Kriminologie – eben zum Beispiel bei den (Klinischen) Psychologinnen und Psychologen, die sich mit dem Thema zum Teil auch kritisch, aber von einer anderen Perspektive ausgehend beschäftigen – Autorinnen und Autoren zu gewinnen. Zum anderen wird ein spannendes Thema, das der „Krise der Männlichkeit“, angesprochen, aber leider auf empirisches Material zur Untermauerung der damit im Zusammenhang stehenden Thesen verzichtet. Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten über sexualitätsbezogene Grenz(-verletzungen) hätte dieser Aspekt sicherlich noch mehr Aufmerksamkeit verdient.

Nach dem Einführungskapitel folgt der erste Inhaltsbereich des Buches, der aus drei Einzelbeiträgen besteht und die Überschrift „Diagnosen einer erregten Kriminalpolitik“ trägt. Unabhängig von der Frage, ob es überhaupt schon einmal eine Ära einer unaufgeregten Kriminalpolitik gab, ob also Kriminalpolitik nicht ein gewisses Maß an Aufgeregtheit immanent ist, werden zunächst die beiden „Fälle“ Edathy (Autor: Aldo Legnaro) und Kachelmann (Autor: Johann Schwenn) dargestellt und kritisch – und dabei manchmal etwas einseitig – diskutiert. Es muss wohl als ein Symptom des von den Autorinnen und Autoren allgemein festgestellten Missstandes interpretiert werden, dass bereits zum Zeitpunkt des Erscheinens des Buches neue „Fälle“ die öffentliche Debatte bestimmten und Herr Edathy und Herr Kachelmann, ihrer bürgerlichen Existenz zuvor beraubt, zumindest vorübergehend von der Bildfläche verschwanden. Der dritte Beitrag dieses Abschnitts wurde von Monika Frommel verfasst und beschäftigt sich mit der sogenannten Schutzlückenkampagne, bei der von manchen Proponenten/-innen mehr moralisierend-ideologisierend als rational und empirisch begründet Schutzlücken im bestehenden Strafrecht attestiert wurden und werden, die durch eine strengere Sanktionspraxis geschlossen werden sollten. Frau Frommel, die bei dieser Frage sicher zu den renommiertesten Kriminologen/-innen Deutschlands zu zählen ist, liefert mehrere Argumente, die einer solchen Strafrechtsverschärfung kritisch gegenüberzustellen sind. Wie die Geschichte zeigte, weitgehend vergebens.

Der zweite Abschnitt des Buches, der aus vier Kapiteln besteht, befasst sich mit dem Thema Pornografie und der Wertung pornografischen Materials als „gefährlich“. Zunächst stellt Kurt Starke eine argumentativ umfangreiche Zusammenstellung zentraler Aspekte über den Irrglauben darüber vor, pornografische Darstellungen verbieten zu können. Dabei verdeutlicht er eindrücklich, warum es bereits auf der Ebene der Betrachter/-innen scheitern muss: Was Pornografie, was Kunst, was anstößig, was erregend, was unverschämt und was notwendig ist, setzt eine höchst individuelle Bewertung voraus. Anschließend stellt Michael Stiels-Glen eine interdisziplinäre Stellungnahme über die „Affäre“ Edathy zur Diskussion, die mit den bereits genannten Argumenten im vorherigen Kapitel inhaltliche Überschneidungen aufweist. Im dritten Kapitel dieses Abschnitts behandeln Michael Dellwing und Jennifer Drescher ein nach wie vor sehr aktuelles Thema, das wahrscheinlich auch in naher Zukunft seine Aktualität nicht einbüßen wird: Die Veröffentlichung eigener Nacktfotos im Internet. Unter Verwendung empirischer Daten zeigen die Autoren/-innen auf, dass dieses Bildmaterial ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen kann und deshalb nicht einseitig vor dem Hintergrund des „Sextings“ und „Cybermobbings“ diskutiert werden darf, will man es umfassend analysieren und verstehen. Im letzten Beitrag bringt Ulrich Kobbé schließlich den Tabubegriff in den Diskurs um die gefährlichen Bilder ein und diskutiert dessen Relevanz vor dem Hintergrund unterschiedlicher Bild- und Textquellen.

Der dritte Abschnitt besteht aus zwei Einzelbeiträgen, die sich mit dem Thema der intimen Dienstleistung (Prostitution) beschäftigen. Während im ersten Beitrag Thorsten Benkel die „Prostitutionsgesetzgebung zwischen Reputationswandel und Interventionspolitik“ kritisch auf den Prüfstand stellt, diskutiert Udo Gerheim, inwiefern die unterschiedlichen „nationalstaatlichen Prostitutionsregime […] Ausdruck spezifischer Macht-Diskurse und sozialer Kämpfe sind“ (S. 173).

Der vierte Abschnitt befasst sich mit dem Thema der Pädosexualität und der damit im Zusammenhang stehenden Frage des (Alters-)Schutzbereichs der Kindheit. Den Anfang macht Helge Peters, der als pädophil diagnostizierte Personen als Opfer thematisiert, wobei an dieser Stelle hin und wieder ein Verweis auf die äußerst umfangreiche angloamerikanische Literatur zu dieser Thematik wünschenswert gewesen wäre. Der nächste Beitrag von Max Welter und Bruce Rind diskutiert eine (eigene) empirische Untersuchung über die Frage, unter welchen Rahmenbedingungen bei welchen Altersgruppen sexuelle Aktivitäten im Rahmen der weiteren psychosexuellen Entwicklung als problematisch – oder das Gegenteil, also als völlig unbedenklich – eingestuft werden müssen oder können. Dabei zeigte sich, dass dem juristischen Konstrukt der sexuellen Selbstbestimmung auch unter psychosexueller Perspektive eine zentrale Rolle zukommt. Im letzten Beitrag dieses Abschnitts diskutieren die Herausgeber/-innen Daniela Klimke und Rüdiger Lautmann die „mediale Konstitution der Moralpanik um die Missbrauchsdelikte“ (S. 223).

Im abschließenden fünften Abschnitt werden „weitere Perspektiven bestrafter Sexualität“ (S. 247) vorgestellt. Zunächst thematisiert Ortwin Passon die sexualwissenschaftlichen und juristischen Implikationen des Barebacking, womit der Autor „den gewollten, risikobewussten, einvernehmlichen, ungeschützten Sexualverkehr (sowohl anal als auch oral) homo- oder bisexueller Männer“ (S. 248) bezeichnet. Im nächsten Beitrag stellen Thomas Feltes, Katrin List und Andreas Ruch empirische Untersuchungen über Ausmaß, Hintergrund und Präventionsmöglichkeiten bei sexueller Diskriminierung und Viktimisierung an Hochschulen vor. Anschließend beschäftigt sich Océane Pérona mit dem Forschungsstand zum Thema „Sexualität und Strafe“ in Frankreich; dieser Beitrag zeigt interessante Aspekte auf und stellt alternative Perspektiven bereit, wobei aber etwas unklar bleibt, nach welchen Kriterien Inhalte und zitierte Literatur genau ausgewählt wurden. Im insgesamt letzten Beitrag des Buches diskutiert Jean Clam, „unter welchen Bedingungen [die zeitgenössische Kultur] es nicht für notwendig halten würde, diese Praktiken [der symbolischen Markierungen der Körper] durch die Rechtssysteme unserer Gesellschaften zu ahnden und unter strafrechtliche Verfolgung zu stellen“ (S. 296).

Die wesentliche Stärke des Buches besteht darin, dass die eingangs formulierte Zielsetzung, dem (Meinungs- und Wissenschafts-)Einheitsbrei eine alternative Sichtweise auf das affektiv so stark besetzte Thema der Sexualität und insbesondere der Sexualstraftaten entgegenzusetzen, zweifelsohne gelungen ist. Dabei berücksichtigen die einzelnen Abschnitte und Beiträge unterschiedliche Themen, die sämtlich von gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Relevanz sind. Wünschenswert wäre gewesen, dass (auch) die Kritische Kriminologie die Forderung (kritisch) aufnimmt, alternative Sichtweisen einzubeziehen und die eigenen Positionen dadurch konstruktiv und kritisch zu reflektieren. Man bleibt offenbar gerne unter sich – ein Vorwurf, der für Gegner/-innen wie Vertreter/-innen kritischer Reflexionen oft in gleichem Maße zutrifft. Dies ist bedauernswert, weil wertvolle Gegenstandpunkte dadurch oftmals nicht die Resonanz erlangen, die sie verdient haben. Es bleibt zu hoffen, dass dem vorliegenden Buch dieses Schicksal erspart bleibt und es eine möglichst große Bekanntheit und Verbreitung erlangt.

Martin Rettenberger (Wiesbaden)