Einleitung
Die Idee, von einer psychischen Erkrankung betroffene Menschen im Sinne eines „Experienced-Involvement
(EXIN)“ als Genesungsbegleiter an der medizinischen Behandlung anderer Menschen zu
beteiligen, hat im Hinblick auf eine Implementierung im psychiatrischen Versorgungssystem
und eine wissenschaftliche Evaluation erst in den letzten beiden Jahrzehnten eine
nennenswerte Ausweitung erfahren [[1]]. Während in angelsächsischen Ländern die „Peer-Arbeit“ als Teil des psychiatrischen
Behandlungsangebotes vielerorts anerkannt und etabliert ist [[2]], finden sich vergleichbare Ansätze in Deutschland bislang noch selten. Seit einigen
Jahren gibt es für Deutschland ein einjähriges Ausbildungscurriculum zum Genesungsbegleiter,
das in einem europäischen Projekt entwickelt wurde und mittlerweile an zahlreichen
Schulungsorten angeboten wird [[3], [4]]. Dies hat zur Folge, dass auch in Deutschland immer mehr Genesungsbegleiter nach
einer Möglichkeit suchen, eine Anstellung im psychiatrischen Versorgungssystem zu
erhalten und ihr spezifisches Wissen sowie ihre eigenen Erfahrungen mit psychischen
Krisen in die Behandlung psychisch kranker Menschen einzubringen. Der Landschaftsausschuss
des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) initiierte im Jahr 2011 einen Aktionsplan
zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, der im Handlungsfeld „Gesundheit“
das Projekt „Einsatz und Bezahlung von ausgebildeten Genesungsbegleitern im LWL-PsychiatrieVerbund
Westfalen“ enthielt (Laufzeit 2015–2017). Dieses Projekt beinhaltete eine zweijährige
finanzielle Förderung der Anstellung von ausgebildeten Genesungsbegleitern und hatte
zum Ziel, den Einsatz von Genesungsbegleitern innerhalb des LWL-PsychiatrieVerbunds
voranzutreiben. Entwickelt wurde das Projekt aufseiten des LWL durch den multiprofessionell
und trialogisch besetzten Arbeitskreis (AK) „Trialog konkret“, der das Projekt während
der Laufzeit kontinuierlich koordinierte. Im Mai 2015 wurde allen Einrichtungen im
LWL-PsychiatrieVerbund die Möglichkeit gegeben, sich für die Teilnahme an dem Projekt
zu bewerben und Genesungsbegleiter einzustellen. Schlussendlich wurden in den LWL-Kliniken
Gütersloh, Herten, Lengerich, Marsberg und Münster insgesamt 6 Genesungsbegleiterinnen
und 2 Genesungsbegleiter (im Folgenden alle 8 als Genesungsbegleiter bezeichnet) in
die Evaluation aufgenommen.
Mit der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts wurde das LWL-Forschungsinstitut
für Seelische Gesundheit am LWL-Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum (RUB)
beauftragt, das hierfür über die gesamte Projektlaufzeit mit dem Institut für Medizinische
Ethik und Geschichte der Medizin der RUB kooperiert hat. Die Ethik-Kommission der
Medizinischen Fakultät der RUB hat die hier vorgestellte Studie beraten und zustimmend
bewertet (Registrier-Nr.: 15–5387).
Tab. 1
Studiendesign
Studienphase
|
Methoden
|
Studienteilnehmer
|
Zielsetzung
|
Initiale Implementierungsphase / Baseline-Datenerhebung
|
a) Sitzung zur Aufgaben definition der GB
|
a) GB und PDL
|
a) Austausch über Vorerfahrungen, Diskussion von Aufgabengebieten
|
b) Vortrag durch Projektmitarbeiter
|
b) GB, PDL sowie gesamtes Team der Station
|
b) Vermittlung der Hintergründe zu EX-IN, Vorstellung des Forschungsprojekts
|
c) standardisierte Befragung
|
c) GB und PDL
|
c) Erhebung von Eckdaten zur Arbeit und Bezahlung von GB
|
Feldkontakt 1: „Beobachtungen“
|
offene, nicht teilnehmende Beobachtung von
|
|
Ermittlung der Rollen der GB innerhalb von teaminternen Kommunikations- und Entscheidungsprozessen,
Potentiale und Hindernisse bei der Integration der GB in Behandlungsteams
|
a) multiprofessionellen Teambesprechungen
|
a) gesamtes Team der Station inkl. GB
|
b) überregionalen GB-Treffen
|
b) GB
|
Feldkontakt 2: „Interviews“
|
qualitative, semistrukturierte Interviews
|
GB
|
Ermittlung subjektiver Erfahrungen und Einschätzungen von GB bezüglich ihrer Akzeptanz
und Integration ins Team sowie ihrer Arbeit mit Patienten
|
Feldkontakt 3: „Fokusgruppen“
|
moderierte Gesprächsgruppen
|
|
Diskussion der Ergebnisse aus den Feldkontakten 1 und 2 mit den Teilnehmern, dadurch
Validierung und Korrektur; Entwicklung von Verbesserungs- und Lösungsansätzen für
die Integration der GB
|
a) an den jeweiligen Kliniken
|
a) Vertreter verschiedener Berufsgruppen (Pflegende, Ärzte, Therapeuten, Sozialarbeiter
u. a.)
|
b) im AK „Trialog konkret“
|
b) Mitglieder des AK
|
c) im Rahmen eines über regionalen GB-Treffens
|
c) GB
|
AK: Arbeitskreis; EX-IN: Experienced-Involvement; GB: Genesungsbegleiter; PDL: Pflegedienstleitung
Zentrale Fragestellungen des Projekts
Zentrale Fragestellungen des Projekts
-
Wie gelingt die Integration von Genesungsbegleitern in psychiatrische Behandlungsteams?
Wie erleben die unterschiedlichen Akteure den Integrationsprozess?
-
Welche Rollen und Aufgaben übernehmen Genesungsbegleiter?
-
Welche Hindernisse treten auf und welche Strategien werden zu ihrer Überwindung entwickelt?
-
Welche spezifischen Fähigkeiten besitzen Genesungsbegleiter?
-
Welchen Einfluss können sie auf die Anwendung von Zwangsmaßnahmen haben?
Zur Klärung dieser Forschungsfragen verfolgte das hier vorgestellte Projekt ein primär
qualitativ-empirisches Forschungsdesign, da sich derart komplexe Interventionen wie
die Integration von Genesungsbegleitern und damit zusammenhängende soziale Prozesse
am besten mithilfe von Methoden aus der qualitativ-empirischen Sozialforschung untersuchen
lassen [[5], [6]]. Eine rein quantitativ-empirische Herangehensweise hingegen kann dazu führen, dass
patientenrelevante Aspekte der Arbeit von Genesungsbegleitern nicht hinreichend abgebildet
werden und der Eindruck entsteht, diese habe keinen nennenswerten Nutzen [[7], [8]]. Auch Mahlke et al. fordern die Ergänzung quantitativer Designs durch qualitative
Ansätze und haben letztere bereits in laufende Forschungsprojekte integriert [[9], [10]].
In diesem Beitrag stellen wir das primär qualitativ-empirische Forschungsdesign dar,
präsentieren ausgewählte Baseline-Daten und diskutieren erste Teilergebnisse der qualitativ-empirischen
Interviewstudie im Hinblick auf den Einfluss von Genesungsbegleitern auf die Anwendung
und Reduktion von Zwangsmaßnahmen.
Methoden
Zur Vorbereitung auf die einzelnen Forschungsschritte der vorgestellten Studie (
[Tab. 1]
) fand in jeder der beteiligten Kliniken zwischen Dezember 2015 und Januar 2016 eine
Mitarbeiterschulung samt Aufklärung über die Studienziele und Arbeitspakete statt.
Im Anschluss an die Mitarbeiterschulung wurde eine standardisierte Befragung mittels
eigens für die Studie entwickelter Kurzfragebögen durchgeführt, welche einerseits
von den jeweiligen Genesungsbegleitern und andererseits von der jeweiligen Pflegedienstleitung
ausgefüllt wurden. Diese Kurzfragebögen beinhalteten 10 bzw. 12 Items, welche Auskunft
über die wöchentliche Arbeitszeit und Aufgabenbereiche der Genesungsbegleiter, Vorerfahrungen
(sowohl der Genesungsbegleiter als auch der Kliniken) sowie über Wünsche und Ziele
der Genesungsbegleiter bezogen auf ihre Arbeitsstelle gaben.
Tab. 2
Ergebnisse I der Baseline-Erhebung: Anzahl Genesungsbegleiter und Vorerfahrungen an
den Projektkliniken
Klinik
|
Anzahl
|
Vorerfahrungen
|
Gütersloh
|
1 (initial 2)
|
1 EX-IN-Praktikant, dieser im Verlauf als GB im Projekt angestellt
|
Herten
|
2
|
3 EX-IN-Praktikanten (1 auf geschlossener Station, 2 auf offenen Stationen)
|
1 bereits angestellter GB, dieser im Verlauf im Projekt tätig
|
Lengerich
|
2
|
5 EX-IN-Praktikanten, davon 2 als GB im Verlauf im Projekt angestellt
|
Marsberg
|
1
|
1 EX-IN-Praktikant
|
Münster
|
2
|
3 EX-IN-Praktikanten, davon 1 als GB im Verlauf im Projekt angestellt
1 bereits angestellter GB, dieser im Verlauf im Projekt tätig
|
EX-IN: Experienced-Involvement; GB: Genesungsbegleiter
Nach Abschluss der initialen Implementierungsphase wurde mit nicht teilnehmenden,
offenen Beobachtungen der multiprofessionellen Teambesprechungen in 3 der beteiligten
psychiatrischen Kliniken begonnen, die zwischen April und Oktober 2016 durchgeführt
wurden. Die ungefähr im Rhythmus von 3 Monaten durchgeführten überregionalen Treffen
der Genesungsbegleiter, die insbesondere dem standortübergreifenden offenen Austausch
untereinander dienten, wurden ebenfalls in die Beobachtungen eingeschlossen. Insgesamt
wurden 25 multiprofessionelle Teambesprechungen und 5 überregionale Genesungsbegleitertreffen
beobachtet. In den nächsten methodischen Schritten wurden 9 qualitative, semistrukturierte
Interviews mit den Genesungsbegleitern (bei einem Genesungsbegleiter erfolgte im Verlauf
ein zweites Interview) sowie eine homogene und 5 heterogene Fokusgruppen durchgeführt.
Die 9 Interviews mit den Genesungsbegleitern wurden unter Zuhilfenahme eines im Verlauf
regelmäßig angepassten Leitfadens semistrukturiert und per Audioaufzeichnung mitgeschnitten.
Alle Genesungsbegleiter hatten im Vorfeld sowohl dem Interview als auch der Audioaufzeichnung
zugestimmt. Für die weiteren Analyseschritte wurden die Audiodateien der Interviews
wörtlich transkribiert und umfassend anonymisiert. Die Textdateien wurden unter Verwendung
der Software MAXQDA Plus 12 induktiv und deduktiv codiert. Diese Analyseschritte erfolgten
in Zusammenarbeit mit allen Autoren, sodass sowohl eventuelle Vorannahmen durch verschiedene
berufliche Perspektiven (Psychiatrie, Soziologie, Medizinethik, Philosophie, Peer-Arbeit)
als auch der eigene fachliche Hintergrund vor Analysebeginn gründlich reflektiert
werden konnten. Das Codieren der umfangreichen Daten folgte dem Prinzip der qualitativen
Inhaltsanalyse [[12]]. Alle Ergebnisse wurden in Teamsitzungen diskutiert und die abschließende Interpretation
der Daten durch alle Autoren kritisch überprüft.
Ergebnisse
Baseline-Daten
Alle 5 Kliniken verfügten über unterschiedliche Vorerfahrungen mit Genesungsbegleitern,
insbesondere durch Praktika im Rahmen der EX-IN-Ausbildung (▶
[Tab. 2]
). Die wöchentliche Arbeitszeit, die initial in den jeweiligen Kliniken zwischen Pflegedienstleitung
und Genesungsbegleitern vereinbart worden war, war heterogen mit einer Spannweite
von 5 bis 20 Stunden. Die Genesungsbegleiter arbeiteten auf offenen Stationen (wobei
einer im Verlauf auf eine geschlossene Akutstation wechselte), ein Genesungsbegleiter
in einer Tagesklinik. Es gab einige Genesungsbegleiter, die in der Vergangenheit bereits
selbst Patienten in der Klinik waren, in der sie eingestellt wurden (3 von 8). Die
Tätigkeiten sämtlicher Genesungsbegleiter umfassten Einzel- und Gruppengespräche mit
Patienten sowie variierend verschiedene Gruppenangebote, u. a. „Kreatives Schreiben“,
„Soziales Kompetenztraining“ oder „Genusstraining“. Ein Genesungsbegleiter bot Hausbesuche
nach Entlassung der Patienten an (▶
[Tab. 3]
). Die Bezahlung der Genesungsbegleiter erfolgte in der Entgeltgruppe 3a TVöD-KR und
wurde an den Kliniken während des Projektzeitraums zur Hälfte aus Projektmitteln und
zur anderen Hälfte aus Eigenmitteln bestritten.
Qualitativ-empirische Interviewstudie
Diejenigen Genesungsbegleiter, die in einer Tagesklinik oder auf einer offenen, nicht
akut aufnehmenden allgemeinpsychiatrischen Station eingesetzt waren, hatten im Rahmen
ihrer Tätigkeit wenige Berührungspunkte mit Zwangsmaßnahmen. Andere hingegen, die
im Rahmen ihrer aktuellen Anstellung oder eines vorherigen Praktikums auf einer Akutstation
tätig waren, hatten Erfahrungen mit der Anwendung von Zwangsmaßnahmen gemacht. Hinzu
kommt, dass einige Genesungsbegleiter in der Vergangenheit als Patienten selbst Zwang
erlebt hatten.
Die befragten Genesungsbegleiter (GB) berichteten, dass ein wichtiges Mittel, um deeskalierend
wirken zu können und so den Einsatz von Zwangsmaßnahmen eventuell bereits im Vorfeld
verhindern oder verringern zu können, ihr durch ihre eigene Krisenerfahrung besonders
geprägter Kontakt zu den Patienten sei:
-
GB 1: […] wenn die halt hören, dass man selber mal solche Krisen hatte und, ja, das
könnte ich mir schon vorstellen, dass da der Kontakt vielleicht dann eher entstehen
könnte.
-
GB 2: Und dadurch, dass ich sagen konnte: 舘Ich war selber mal in der Situation. Ich
weiß gerade wie es dir geht‘, wurde er dann wirklich ruhiger.
Tab. 3
Ergebnisse II der Baseline-Erhebung: Einsatzort und Tätigkeiten der Genesungsbegleiter
Einsatzort
|
Tätigkeiten (unter anderem)
|
Allgemeinpsychiatrische Tagesklinik
|
Einzel- und Gruppengespräche, Gruppe „Kreatives Schreiben“
|
Offene allgemeinpsychiatrische Station
|
Einzelgespräche, Arbeit mit Tools (Timeline, Genesungs- und Krisenplan), Begleitung
sozialer Aktivitäten
|
Offene Station, Schwerpunkt Depression und Persönlichkeitsstörung
|
Einzelgespräche, Genusstraining, Schreibwerkstatt, Entlassgruppe
|
Offene Station, gemischte Diagnosen
|
Einzel- und Gruppengespräche, Begleitung von Patienten, Nachsorge inkl. Entlassgruppe,
Hausbesuche
|
Offene Station mit Schwerpunkt Ersterkrankungen, junge Erwachsene, Psychosen
|
Einzelgespräche, Soziales Kompetenztraining, Recovery-Gruppe
|
Offene allgemeinpsychiatrische Station
|
Patientengespräche, Psychoedukationsgruppe, Recovery- / Salutogenese-orientierte Gruppe
|
Offene allgemeinpsychiatrische Station
|
Patientengespräche, Recoverygruppe
|
Ambulanz sowie offene Akutstation, Einsatz als „Springer“
|
Patientengespräche, Recoverygruppe, Begleitung der Patienten außerhalb der Klinik,
Soziales Kompetenztraining, Seniorengruppe
|
Des Weiteren wurde die den Genesungsbegleitern in der Regel mehr und insbesondere
flexibler zur Verfügung stehende Zeit als Aspekt identifiziert, der bei der Verhinderung
von Zwangsmaßnahmen im Vorfeld zum Tragen kommen könnte:
-
GB 3: Ich glaube, wenn da jemand so viel Zeit wie ich hätte, eine Stunde mit jemanden
zu reden, wenn ich mich eine Stunde einfach zu jemanden dazu setzen könnte, der halt
so von der Rolle ist, aufgeregt oder so – einfach nur da sein. Ich könnte mir vorstellen,
dass man dadurch eine Fixierung verändern, verhindern könnte.
Ob die eigene Erfahrung mit Zwang für einen Genesungsbegleiter hilfreich sein kann,
um Zwang bei Patienten entgegenzuwirken, wurde von den Interviewpartnern intensiv
reflektiert. Dabei stand erneut der als „besonders“ wahrgenommene Kontakt zu den Patienten
im Mittelpunkt, der vor allem über die ähnlichen Krisenerfahrungen zustande komme.
Die eigenen Krisenerfahrungen mit zum Teil eigenem Erleben von Zwangsmaßnahmen wurden
von den Genesungsbegleitern aber auch als problematisch wahrgenommen, insbesondere
weil sie bei der Anwendung von Zwangsmaßnahmen bei Patienten eine mögliche „Trigger-quelle“
darstellen können:
-
GB 1: […] nicht dass dann nachher wieder was hochkommt und die [die Genesungsbegleiter,
Anm. der Autoren] sich dann daneben legen können, sage ich jetzt mal ganz krass, ich
denke mal, da muss man sich gut kennen und auch auf sich aufpassen […].
-
GB 7: Ich denke das ist gut für den Patienten, weil ich das nachvollziehen kann. Ich
muss nur wegen mir aufpassen, dass das mich nicht so sehr runter zieht.
Als zusätzlichen Gesichtspunkt führte ein Interviewpartner an, dass man als Genesungsbegleiter
nicht nur auf die Patienten selbst, sondern auch auf die anderen Teammitglieder einwirken
und so zu einer Deeskalation beitragen könne:
-
GB 4: Dass Genesungsbegleiter, die selber auch Erfahrung haben damit, dass sie auch
dem Kollegen gegenüber benennen können, gegenüber welchen Dingen sie auch im Vorfeld
aufmerksamer sind. Im Vorfeld, auf das und das da müsst ihr aufpassen. Damit es gar
nicht eskaliert.
Diskussion
Studiendesign und Baseline-Daten
Das hier vorgestellte Projekt befasste sich mit der Integration von Genesungsbegleitern
in psychiatrischen Krankenhäusern, die bis dahin geringe Vorerfahrungen mit der Arbeit
von Genesungsbegleitern hatten. Die Initiierung und finanzielle Förderung durch den
Träger (LWL) und die im Projektverlauf enge Anbindung und Rückkopplung an den trialogisch
besetzten AK „Trialog konkret“ leisteten dabei einen wichtigen Beitrag zum gegenseitigen
Austausch und zur vernetzten Entwicklung der Arbeit von Genesungsbegleitern im LWL-PsychiatrieVerbund.
Die parallele Förderung und Umsetzung eines wissenschaftlichen Evaluationsprojekts
(an dem im Sinne einer Peer-Partizipation in der Forschung mit A.W. eine Genesungsbegleiterin
beteiligt war) stellten im Hinblick auf eine anvisierte dauerhafte Etablierung von
Genesungsbegleitern in psychiatrischen Behandlungsteams eine wichtige Ergänzung dar,
da die Ergebnisse der Forschung dazu beitragen können, dass Hindernisse und Herausforderungen
der Integration identifiziert und erfolgreiche Lösungsansätze entwickelt werden können.
Mit Blick auf die Ergebnisse der Baseline-Erhebung zeigt sich, dass die Umsetzung
der Arbeit von Genesungsbegleitern über die verschiedenen Kliniken hinweg heterogen
ausfiel. Diese Heterogenität war für die eingangs genannten Forschungsfragen jedoch
nicht von Nachteil, sondern stellte sich im Gegenteil bei der Untersuchung des Integrationsprozesses
von Genesungsbegleitern und ihrer Rollenfindung als wertvoll heraus. Die regelmäßig,
an wechselnden Standorten durchgeführten überregionalen Genesungsbegleitertreffen,
gegen deren Ende jeweils ein Mitglied des AK „Trialog konkret“ hinzukam, boten Genesungsbegleitern
dabei die Möglichkeit, sich gegenseitig auszutauschen und etwaige Wünsche und Probleme
an den AK weiter zu tragen. Dadurch konnten die Genesungsbegleiter nicht nur voneinander
lernen und in ihrer jeweiligen Rolle bestärkt und gefestigt werden, sondern auch konkrete
Unterstützung durch den beim Träger angesiedelten AK bekommen, z. B. durch die Finanzierung
eines Supervisors. Der AK „Trialog konkret“ blieb somit in seiner Funktion der Entwicklung
und Begleitung des Projekts unmittelbar an die Genesungsbegleiter angebunden.
Bezüglich des gewählten primär qualitativ-empirischen Forschungsansatzes kann konstatiert
werden, dass sich ein derartiges methodisches Vorgehen vor dem Hintergrund der Offenheit
des Implementierungsprozesses und der limitierten Vorerfahrungen mit Genesungsbegleitern
in den jeweiligen Kliniken als hilfreich und umsetzbar erwiesen hat. Die Einnahme
einer solchen explorativen und offenen Haltung im Forschungssetting erscheint besonders
sinnvoll, um die soziale Realität an den jeweiligen Kliniken möglichst breit gefächert
erfassen und abbilden zu können.
Einfluss der Genesungsbegleiter auf die Anwendung von Zwang
In einer von Steinert et al. durchgeführten Online-Befragung von ärztlichen Leitern
psychiatrischer Kliniken in Deutschland hatten knapp 24 % angegeben, dass der Einsatz
von Genesungsbegleitern auf psychiatrischen Stationen dazu beitragen könne, freiheitseinschränkende
Maßnahmen in der Psychiatrie zu reduzieren [[13]]. Die von uns interviewten Genesungsbegleiter sahen in ihrer Arbeit ebenfalls das
Potenzial, der Anwendung von Zwang vorzubeugen bzw. Zwang in der Psychiatrie zu reduzieren.
Dabei identifizierten sie zum einen unspezifische Faktoren wie das ihnen in aller
Regel flexibler zur Verfügung stehende Zeitkontingent, wodurch mehr Ressourcen für
deeskalierende Maßnahmen im Einzelfall vorhanden seien. Auf der anderen Seite wiesen
die
Interviewpartner auch auf spezifische Fähigkeiten ihrer Berufsgruppe hin. Durch ihre
oftmals eigene Krisenerfahrung könnten Genesungsbegleiter einen authentischen und
in gewisser Hinsicht „besonderen“ Zugang zu Patienten in psychischen Ausnahmesituationen
herstellen und deeskalierend und präventiv tätig werden, bevor es zu einer Zwangsmaßnahme
kommt. Auf der Suche nach Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen wäre der
Einsatz von Genesungsbegleitern auf psychiatrischen Akutstationen in diesem Sinne
ein innovativer Ansatz, der aus diesem Grund weiter erprobt und wissenschaftlich evaluiert
werden sollte. Dabei sollte in jedem Fall darauf geachtet werden, dass Genesungsbegleiter
nur dann im Akutbereich eingesetzt werden, wenn sie sich dies auch explizit zutrauen,
und dass durch geeignete Maßnahmen – zum Beispiel durch regelmäßige Nachbesprechungen
oder Supervisionen – dafür Sorge getragen wird, dass Genesungsbegleiter durch das
Miterleben von Zwangsmaßnahmen nicht selbst psychisch destabilisiert werden.
Stärken und Schwächen der Studie
Aus dem angelsächsischen Bereich sind qualitativ-empirische Arbeiten zu Genesungsbegleitern
bekannt, die 2013 von Walker und Bryant in einer Metasynthese zusammengefasst worden
sind [[11]]. Nach unserem Kenntnisstand ist unsere Studie eine der ersten Untersuchungen, die
die Integration von Genesungsbegleitern unter Einsatz von 3 qualitativ-empirischen
Methoden im deutschsprachigen Raum untersucht.
Als besondere Stärke unserer Studie ist somit der Einsatz verschiedener qualitativer
Methoden (Beobachtungen, Interviews und Fokusgruppen) hervorzuheben, welche es den
Beteiligten ermöglicht haben, ihre Erfahrungen und Eindrücke bezüglich der Integration
von Genesungsbegleitern in akutpsychiatrische Behandlungsteams ausführlich zu schildern.
Das so gewonnene Datenmaterial erlaubt ein umfassenderes und stärker kontextualisiertes
Verständnis der Situation aus Sicht der Akteure als beispielsweise durch rein quantitative
Ansätze gewonnene Daten. Auch das durch die qualitative Methodenwahl bewusst flexibel
gestaltete Design der Studie hat sich in der Praxis als wertvoll erwiesen, da so auf
kurzfristige Veränderungen (Wechsel von Stationen, kurzfristiges Ausscheiden, kurzfristige
oder zeitlich verzögerte Neueinstellungen), die jede Pilotimplementierung mit sich
bringen kann, rechtzeitig reagiert und so auch wichtige Daten über diese veränderten
Situationsbedingungen gewonnen werden konnten.
Limitierend ist anzumerken, dass die Kontextualisierung qualitativer Daten aus subjektgebundener
Perspektive geschieht und dementsprechend eine Generalisierung der Daten, wie beispielsweise
bei quantitativen Designs, nicht ohne weiteres zulässig ist. Die Wahl der Interviewmethode
birgt das Risiko, dass Interviewpartner, insbesondere bei sensibleren Themen, kontrovers
eingeschätzte Meinungen zugunsten von sozial erwünschteren Aussagen aufgeben. Die
Zusicherung umfassender Anonymisierung, der Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zum
Forscher sowie die in den Daten abgebildete Diversität an Aussagen und Meinungen führen
uns jedoch zu dem Schluss, dass eine mögliche Verzerrung unserer Daten durch soziale
Erwünschtheit eher gering ausgefallen ist. Um mit der Methode einhergehende Verzerrungs-
und Fehlerquellen dennoch auf ein Minimum zu reduzieren, die Subjektivität der Daten
zu mindern und diese auf Plausibilität zu überprüfen, wurden die Beobachtungs- und
Interviewdaten der Teilnehmer in 6 Fokusgruppen mit den unterschiedlichen Akteuren
diskutiert, ergänzt und so methodisch trianguliert.
Fazit
Die Integration von Genesungsbegleitern in psychiatrische Behandlungsteams wirft verschiedene
Fragen auf, u. a. welche konkreten Aufgaben durch Genesungsbegleiter übernommen werden
sollen. Die Unterstützung durch den Klinikträger und Ansprechpartner in den jeweiligen
Kliniken sowie überregionale Treffen inkl. Supervisionsangebot ermöglichen Genesungsbegleitern,
sich auszutauschen und so ihre Rollen und Aufgabenfelder zu finden.
Der Einsatz von Genesungsbegleitern kann einen spezifischen Beitrag dazu leisten,
durch deeskalierende Maßnahmen die Anwendung von Zwang in der Psychiatrie zu reduzieren.
Danksagung
Dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) und der LWL-Abteilung für Krankenhäuser
und Gesundheitswesen, LWL-PsychiatrieVerbund Westfalen (Prof. Dr. M. Noeker; T. Profazi)
danken wir für die finanzielle und ideelle Förderung des Projekts (Projektlaufzeit
09/2015-09/2017). Ferner danken wir allen Mitgliedern des AK „Trialog konkret“ des
LWL für ihr Engagement und ihre konstruktive Begleitung des Projekts. Prof. Dr. Jan
Schildmann danken wir für seine methodische Beratung. Schließlich danken wir allen
Genesungsbegleitern und Mitarbeitern der beteiligten LWL-Kliniken für ihre Mitarbeit
und Unterstützung unserer Forschung.