Ernährung & Medizin 2019; 34(02): 94-95
DOI: 10.1055/a-0795-8387
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Tierwohl im Supermarktregal

Anja Fleischhauer
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Publication Date:
17 June 2019 (online)

 

Im letzten Jahr brachte Lidl einen Haltungskompass für Frischfleisch heraus. Kurze Zeit später zog Netto mit seinem Haltungszeugnis nach, dann Kaufland; es folgten Penny und schließlich Aldi. Jedes Handelsunternehmen warf sein eigenes Symbol ins Rennen – bei weitgehend vergleichbaren Kriterien der Tierhaltung. Seit dem 1. April diesen Jahres haben diese Einzelhandelsunternehmen zusammen mit Rewe und Edeka ihre Labels vereinheitlicht. Es gilt für verpacktes Fleisch der jeweiligen Eigenmarken.


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Das neue Haltungskennzeichen der Supermärkte

Das nun einheitliche Label zur Haltungsform der Schlachttiere kennzeichnet Frischfleisch folgendermaßen:

  • Stufe 1 „Stallhaltung“ erfüllt lediglich die gesetzlichen Mindestanforderungen ([ Abb. 1 ]).

  • Stufe 2 nennt sich „Stallhaltung plus“. Schweine haben beispielsweise 10 % mehr Platz im Stall und eine Kette mit einem Stück Holz zum Spielen.

  • In Stufe 3, „Außenklima“, haben die Tiere zusätzlich Kontakt zur Außenwelt in Form einer offenen Stallseite oder einem überdachten Außenbereich. Zusätzlich stehen Stroh oder Picksteine zur Verfügung.

  • Stufe 4 „Premium“ entspricht dem Bio-Standard. Die Tiere haben Auslauf und die Möglichkeit, ihren arteigenen Bedürfnissen nachzugehen: scharren, picken oder wühlen.

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Abb. 1 „Stallhaltung“ als Angabe der gesetzlichen Mindestanforderungen. (Foto: Anja Fleischhauer)

Grundsätzlich ist es gut, dass die Unternehmen mit einer Vereinheitlichung ihrer Labels für mehr Übersichtlichkeit auf dem Markt sorgen. Die Verbraucherzentrale (VZ) kritisiert jedoch an der neuen Haltungskennzeichnung, dass es kaum Fleisch der Stufen 3 und 4 im Supermarkt zu kaufen gibt und es sehr oft nur in der Einstiegsstufe 1 erhältlich ist. Was viele Konsumenten nicht wissen oder verdrängen: Teilweise sind die gesetzlichen Mindeststandards für die Nutztierhaltung so niedrig, dass von Tierwohl keine Rede sein kann. Die VZ fordert darüber hinaus, dass Fleisch, das nach Mindeststandards produziert wird, nicht mit irreführenden Begriffen wie Weidehaltung, artgerecht, tiergerecht oder Tierwohl beworben werden darf. Zuweilen ist auch die Gestaltung der Verpackungen trügerisch, wenn z. B. auf dem Etikett Schweine auf der Wiese abgebildet sind, das Tier aber in Haltungsstufe 1 oder 2 nie an der frischen Luft gewesen ist.

WAS MAN WISSEN MUSS

Das gemeinsame Haltungskennzeichen berücksichtigt und beschreibt nur die Haltung der Tiere. Transport und Schlachtung sind kein Thema und auch das Futter wird erst ab Stufe 3 mit einbezogen: Ab Stufe 3 ist es frei von Gentechnik, ab Stufe 4 stammen 20 % des Futters bzw. bei Rindern 60 % aus der Region oder dem eigenen Betrieb.


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Ein gutes Beispiel: das Label „Für mehr Tierschutz“

Der Deutsche Tierschutzbund besitzt als marktunabhängige Organisation bereits seit 2013 ein eigenes, zweistufiges Label, mit dem Masthühner, Schweine, Eier und Milch zertifiziert werden ([ Abb. 2 ]). In der Einstiegsstufe haben die Tiere deutlich mehr Platz, sie können sich tierspezifisch beschäftigen und werden gentechnikfrei ernährt. In beiden Stufen ist das Kürzen der Schwänze bei Schweinen und das Schnäbelkupieren bei Legehennen verboten. Die Premiumstufe bietet z. B. Schweinen doppelt so viel Platz, einen mit Stroh eingestreuten Stall und Auslauf oder offene Bereiche. Das Besondere dieses Siegels: Es geht über die Haltung hinaus und formuliert auch verbindliche Anforderungen an den Tiertransport und die Schlachtung. Im Schlachthof wird z. B. kontrolliert, ob die Tiere sicher und tief betäubt sind. Außerdem dürfen Ferkel nicht ohne Betäubung kastriert werden, und die Schlachtung trächtiger Kühe ist grundsätzlich verboten.

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Abb. 2 „Für mehr Tierschutz“: das Label des Deutschen Tierschutzbunds. (Foto: Anja Fleischhauer)

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Ferkelkastration ohne Narkose

Das Parlament entschied kürzlich, die Übergangsfrist, die die betäubungslose Ferkelkastration von bis zu 7 Tage alten Tieren erlaubt, bis Ende 2020 zu verlängern. Eigentlich hätte damit Ende 2018 Schluss sein sollen. Laut Tierschutzbund ist diese Art der Kastration in den meisten konventionellen Mastbetrieben leider Routine. Warum wird überhaupt kastriert? So wird verhindert, dass das Fleisch einen „Ebergeruch“ entwickelt und schlecht schmeckt. Aber nicht alle Eber schmecken nach Eber, sondern nur 5–10 %. Es gibt auf jeden Fall Alternativen zur oftmals schnell und grob durchgeführten Maßnahme, bei der die Tiere schlimme Schmerzen erleiden. Tierschutzbund und Grüne fordern beispielsweise eine Impfung, die den Sexualhormon-Kreislauf hemmt. Dabei werden keine Hormone zugeführt, sondern ein Medikament regt die Bildung von Antikörpern gegen körpereigene Hormone an. In vielen Ländern ist das längst gängige Praxis. Es ginge aber auch ohne Hormonblocker: Neuland-Betriebe vollziehen die Ferkelkastration schon seit über 10 Jahren unter Vollnarkose und behandeln die Tiere anschließend mit Schmerzmitteln – das kostet aber Geld.


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Das kommt: staatliches Tierwohl-Label

Die Vergangenheit hat gezeigt, dass ein gesetzliches Haltungskennzeichen Transparenz schafft und dass Tierschutz und Tierwohl durchsetzbar sind. Beispiel Legehennen: Hier wurde die Haltung in Legebatterien verboten. Die Haltungsform ist auf jedem einzelnen Ei vermerkt. Dies funktioniert gut und der Verbraucher hat die Wahl, sich frei zu entscheiden.

Ab 2020 soll nun auch Frischfleisch mit einem staatlichen Tierwohl-Label in den Handel kommen. Das Label ist zunächst nur für Schweine vorgesehen, als nächstes ist Geflügel an der Reihe. Für Puten gibt es bislang gar keine Mindeststandards für die Haltung (siehe Kasten).

Das staatliche Tierwohl-Label ist dreistufig und die Kriterien liegen zwar alle über den gesetzlichen Mindeststandards, in der ersten Stufe aber nicht deutlich darüber. In der Einstiegsstufe ist das Kürzen der Schwänze nicht verboten, und ein Schwein von 50 bis 110 Kilogramm hat 0,9 statt 0,75 Quadratmeter Platz. Sollte ein staatliches Label Fleisch auszeichnen, das unter Bedingungen produziert wurde, die nicht mit dem Tierwohl vereinbar sind?

RECHTLICHE VORGABEN

Tierschutz gilt nicht für alle Tiere

In der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung sind die Mindestanforderungen für die Haltung einiger Tierarten geregelt, wie z. B. wie viel Platz sie im Stall haben, was sie zu fressen bekommen und wie sie gepflegt werden. Die Verordnung hat aber Lücken und für viele Tiere existieren gar keine verbindlichen Standards. Für Puten, Milchkühe, Mastrinder, die älter als 12 Monate sind, und Schafe etc. gibt es schlichtweg keine gesetzlich festgelegten Haltungsbedingungen.


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Warum Schweinen der Schwanz gekürzt wird

Die Praxis des routinemäßigen Kupierens der Schwänze ist in der EU schon seit über 20 Jahren verboten. Laut nationaler Haltungsverordnung werden Amputationen nur in Einzelfällen erlaubt, nämlich um die Tiere zu schützen. Schweine sind sensibel und intelligent. Manch einer sagt, sie seien schlauer als Hunde. Schweine wollen spielen, mit der Schnauze voran wühlen, sich beschäftigen. Haben sie dazu keine Gelegenheit, weil zu viele Tiere im zu kleinen Stall gehalten werden oder es maximal eine Kette mit einem Stück Holz daran gibt und weder Stroh, noch Körner oder Maiskolben zum Hin- und Herschieben, dann kann es passieren, dass die Tiere sich gegenseitig verletzen und ihre Artgenossen beißen, nämlich in den Ringelschwanz. Das Schwänzebeißen kann mitunter zu einer ziemlich blutigen Angelegenheit ausarten. Aus diesem Grund dürfen Landwirte hierzulande ihren Schweinen die Schwänze kürzen. „In der Einstiegsstufe sind die Haltungsbedingungen des staatlichen Tierwohlkennzeichens zu niedrig angesetzt. Wenn die Regierung etwas für den Tierschutz tun will, sollte sie grundsätzliche Entscheidungen treffen. Das Schwänzekürzen ist nur im Einzelfall erlaubt, in Deutschland ist es in der konventionellen Haltung aber die Regel“, sagt Sabine Holzäpfel von der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg. Es sollen derzeit mehr als 90 % aller Ferkel betroffen sein, wenige Tage nachdem sie geboren wurden.


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Blick ins Ausland: Label Rouge

Ein Blick nach Frankreich zeigt, dass es auch anders geht. Das staatlich kontrollierte Gütesiegel Label Rouge kennzeichnet konventionell erzeugtes Fleisch mit deutlich höheren Haltungsstandards, nämlich Geflügel aus „bäuerlicher Auslaufhaltung“ oder „bäuerlicher Freilandhaltung“ mit unbegrenztem Auslauf ([ Abb. 3 ]). Diese Begriffe definieren laut sog. EU-Vermarktungsnormen für Geflügel, wie die Tiere gefüttert werden, wie viel Platz sie haben und wie groß ihr Auslauf ist. Auf dem Etikett sind neben der Herkunftsregion auch das Schlachtalter, der Schlachthof, das Futter und die Zertifizierungsstelle vermerkt. Label-Rouge-Geflügelfleisch kann man auch in Deutschland kaufen, z. B. bei Edeka, Rewe, Hit, Kaufland, Wasgau und Globus.

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Abb. 3 Deutlich höhere staatliche Vorgaben z. B. das Label Rouge in Frankreich. (Foto: Anja Fleischhauer)

Anja Fleischhauer, Stuttgart


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Abb. 1 „Stallhaltung“ als Angabe der gesetzlichen Mindestanforderungen. (Foto: Anja Fleischhauer)
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Abb. 2 „Für mehr Tierschutz“: das Label des Deutschen Tierschutzbunds. (Foto: Anja Fleischhauer)
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Abb. 3 Deutlich höhere staatliche Vorgaben z. B. das Label Rouge in Frankreich. (Foto: Anja Fleischhauer)