Schlüsselwörter
Interoperabilität - Systemvernetzung - digitaler OP Saal - ICCAS - OR.NET
Abkürzungsverzeichnis
BMBF:
Bundesministerium für Bildung und Forschung
BN:
Bayes‘sche Netzwerken
BPMN:
Business Process Model and Notation
CI:
Cochlea Implant (ation)
CIMIT:
Center for Integration of Medicine and Innovative Technology
CPSI:
Consistent and Prioritized presentation of Surgical Information
DIFUTURE:
Data Integration for Future Medicine
DKFZ:
Deutschen Krebsforschungszentrum
FESS:
Functional Endoscopic Sinus Surgery
HD:
High-Definition
HiGHmed:
Heidelberg-Göttingen-Hannover Medical Informatics
ICCAS:
Innovation Center Computer Assisted Surgery
ICE:
Integrated Clinical Environment
IIS:
Institut für Integrierte Schaltungen
IKT:
Informations- und Kommunikationstechnologien
IT:
Informationstechnik
KI:
Künstliche Intelligenz
MAI:
Modellbasierte Automation und Integration
MD PnP:
Medical Device Plug-and Play interoperability program
MGH:
Massachussetts General Hospital
MIRACUM:
Medical Informatics in Research and Care in University Medicine
MoVE:
Modular Validation Environment
OntoRiDe:
Ontology-based Risk Detector
OR:
Operating Room
ORiN:
Open Resource interface for the Network
PRO:
Patient Reported Outcome
SCOT:
Smart Cyber Operating Theatre
SDC:
Service-oriented Device Connectivity
SMITH:
Smart Medical Information Technology for Healthcare
SPM:
Surgical Process Model
TATRC:
Telemedicine and Advanced Technology Research Center der US Army
TNM:
Tumorklassifikation: T=Tumor, N=Nodus, M=Metastasen
TTM:
Tumor-Therapie-Manager
WFO:
Watson For Oncology
1. Einleitung
Der Beruf des Arztes befindet sich aufgrund der digitalen Transformation und dem Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) in der Diagnostik und Therapie medizinscher Fragestellungen aktuell in einem spürbaren Wandel [21]
[22]
[39]
[40], sodass sich klinisch tätige Mediziner in Gegenwart und Zukunft auf neue Herausforderungen einstellen müssen. Gerade im Operationssaal wird der Wandel sichtbar, da durch sog. „Insellösungen“ verschiedener Medizintechnikanbieter zwar einzelne Konzepte und Komponenten sehr weit vorangeschritten sind, doch nicht jede Funktion von einem Anbieter in der gewünschten Form als integriertes Komplettpaket angeboten wird. Der Operateur und das OP-Team werden mit vielen (kleinteiligen) Applikationen konfrontiert (Operations-Mikroskope, HD-Endoskope, Bohr- und Navigationssysteme, Neuromonitoring, auch komplexe Roboter-Assistenzen wie das „da Vinci System®“ [31], moderne Anästhesietechnik usw.), die nur bedingt miteinander kommunizieren und daher mitunter die schwierige und von der Kernarbeit des OP-Teams ablenkende Bedienung eines komplexen „Maschinenparks“ erfordern. Im Zuge der Digitalisierung hat sich u. a. das Innovationszentrum für Computer assistierte Chirurgie (ICCAS) in Leipzig seit Jahren mit der Frage der Interoperabilität von Medizintechnik sowie der intelligenten Operateur-zentrierten Informations- und Technikassistenz beschäftigt und strebt Lösungen an, die den Operateur situationsgebunden „geräuschlos“ unterstützen sollen. Der als Vision formulierte Arbeitstitel „(HNO-) Operationssaal der Zukunft“ zeichnet sich also durch intelligente Hersteller-unabhängige Kommunikation der Medizintechnik, durch Sicherheit und Gebrauchstauglichkeit sowie intraoperativer Applikation sinnvoll flankierender Informationen für den Operateur und das OP-Team aus.
Aus dem Abbild der heutigen realen OP-Bedingungen ([Abb. 1]) ergeben sich für einen intelligenten Operationssaal der Zukunft v. a. Herausforderungen im prä-, peri- und postoperativen Setting. Sinn- und Sinnhaftigkeit moderner IT-Lösungen lassen sich für die Anwender erst dann nachvollziehen, wenn sich spürbare Verbesserungen im operativen Ablauf und im operativen Ergebnis einstellen. Hierbei sind auch gesundheitsökonomische Aspekte zu betrachten, welche zunehmende Bedeutung erlangen. Bspw. existieren zahlreiche Beobachtungen zum DaVinci®-Robotersystems, welche die deutlich höheren OP-Gesamtkosten aufgrund der eingesetzten Technik und der verlängerten OP-Dauer bestätigen, sodass bei vorhandenen medizinischen Vorzügen ein regelhafter Einsatz zumindest unter dem Hintergrund der Wirtschaftlichkeit für ein Krankenhaus kritisch erscheint [23]
[24]. Leider aber fehlen für das letztgenannte Telemanipulator-System kontrollierte Studien, die die signifikante Überlegenheit gegenüber bisherigen Operationsverfahren verifizieren, wie in einem viel beachteten Editorial von Jason D. Wright deutlich gemacht wurde [56]. Somit wird die Debatte über wachsende Gesundheitskosten durch den Einsatz robotergestützter Verfahren immer bedeutsamer und die technischen Entwicklungen künftig noch stärker beeinflussen. Die heutigen wissenschaftlich basierten Weiterentwicklungen geben Anlass zur Hoffnung, dass die aktuelle Implikation modularer, offener Systeme, durch die zunehmende Vernetzung und Kommunikation der Systeme untereinander nicht nur die Konzentration und Assistenz des Operateurs verbessert, sondern auch in einer Kostenreduktion resultiert [1]
[3].
Abb. 1 Abbild typischer Szenarien in heutigen OP-Sälen.
Dieser Artikel soll dem klinisch tätigen HNO Arzt einen Überblick über aktuelle Aspekte technischer Forschung und deren Entwicklungsstufen, Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) im digitalen Zeitalter der Medizin geben. Damit verbunden stellen sich Kernfragen nach Risiken und Nutzen für unsere Patienten. Wieviel Technik braucht die Medizin überhaupt? War die Medizin ohne überbordende (OP-) Technik, bunter Visualisierung auf unzählbaren Monitoren, schicker Navigation und webbasiertem Datentransfer wirklich schlechter? Wo geht die Reise hin? Diese Fragen und Antworten hierzu sollen im Folgenden anhand der 3 Phasen (prä-peri-postoperativ) einer (HNO-) Operation und der zusammenführenden Darstellung konkreter industriegeförderter Projekte national- und international reflektiert werden. Exemplarisch wird die Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse in Zusammenarbeit der HNO-Universitätsklinik und dem ICCAS in Leipzig zur besseren Veranschaulichung erörtert. ([Abb. 2])
Abb. 2 Setting zur präoperativen Vorbereitung [Bildquelle: ICCAS Jahresbericht 2017 [80]].
2. Präoperative Tools im OP Saal der Zukunft
2. Präoperative Tools im OP Saal der Zukunft
2.1 Visualisierungs-Software
Die Verbesserung der Visualisierung patientenbezogener Daten aus bildgebenden Verfahren im präoperativen Bereich ist eines der Kernaspekte klinischer Grundlagenforschung. Hauptziel ist dabei die Darstellung von Risikostrukturen, die Auseinandersetzung mit anatomischen Variationen sowie der Abgleich und die Zusammenführung der Daten gerade bei komplexen Kasuistiken im Zuge einer exakteren OP Planung und damit verbunden einer Erhöhung der Patientensicherheit. Hierzu existieren neue Verfahren mit speziellem Fokus auf eine hohe Genauigkeit und Benutzerfreundlichkeit. Am Beispiel der Planung einer Cochlea-Implantation entstanden in Zusammenarbeit der Leipziger HNO-Universitätsklinik mit dem Fraunhofer Institut in Erlangen für integrierte Schaltungen (IIS) ein 3D-Segmentierungstool namens „CI-Wizard“ zur verbesserten präoperativen Visualisierung des Felsenbeins ([Abb. 3.1], [3.2]). Anhand der Segmentierung von spezifischen Risikostrukturen der lateralen Schädelbasis mittels CT-Datensätzen gelang es im Rahmen einer klinischen Evaluationsstudie [5]
[41] den klinischen Nutzen und die Benutzerfreundlichkeit des Programms zu bestätigen. Dabei konnte zudem gezeigt werden, dass durch die Vorbereitung mit Patientendaten präoperativ die Lernkurve im Umgang mit der komplexen Anatomie des Felsenbeins ansteigt. Für die Implementierung in den klinischen Alltag von besonderer Bedeutung war die Betrachtung des zeitlichen Aufwandes, der im Vergleich mit anderen auf dem Markt befindlichen Visulisierungstools als akzeptabel bewertet wurde (t=9,8 min). Kritisch muss jedoch geprüft werden, ob es im HNO Bereich für präoperative Anwendungen dieser Art bspw. auf dem Gebiet der Ohrchirurgie und der implantierbaren Hörsysteme einen entsprechenden Markt für einen routinemäßigen Einsatz gibt [57]
[58]
[59]
[60]
[61].
Abb. 3.1: Übersichtsdarstellung im CT-Segmentierungsprogramm CI-Wizard am Beispiel des Felsenbeins mit 3D Rekonstruierung der markierten Strukturen der lateralen Schädelbasis ([Bildquelle [5], modifiziert)].
Abb. 3.2: 3D Rekonstruierung der markierten Strukturen der lateralen Schädelbasis im CI-Wizard. ([Bildquelle [5], modifiziert)]
Fernab der regelhaften Kliniknutzung gibt es aber (dem positiven Lernaspekt und der Schulung im Umgang mit komplexer OP-Technik und Anatomie betreffend am Beispiel der Cochlea-Implantation) Bestrebungen, im präoperativen Setting technische Assistenzsysteme weiter zu entwickeln, wie das aktuelle BMBF Verbundprojekt „HaptiVisT“ (06/2016 – 05/2019) zeigt [42]. Unter Nutzung von realen klinischen CT/MRT Daten von Innen- und Mittelohr und der interaktiven Segmentierung (z. B. mittels CI Wizard [5]) der darin abgebildeten Strukturen (u. a. N. fazialis, Cochlea, Ossikel) wird im HaptiVisT Projekt ein haptisch-visuelles Trainingssystem realisiert, welches als sog. „Serious Game“ mit immersiver (Betrachter identifiziert sich zunehmend mit der fiktiven Welt, er taucht sozusagen komplett in die Scheinwelt ein) Didaktik gestaltet wird. Die Evaluierung des Demonstrators hinsichtlich Zweckmäßigkeit erfolgt prozessbegleitend und ergebnisorientiert, um mögliche technische oder didaktische Fehler vor Fertigstellung des Systems aufzudecken. Drei zeitlich versetzte Evaluationen fokussieren dabei auf chirurgisch-fachliche, didaktische sowie haptisch-ergonomische Akzeptanzkriterien. Für den Einsatz in einem modernen HNO-Operationssaal scheinen solche Simulatoren insofern geeignet, als dass von der Norm abweichende anatomische Besonderheiten bei komplexen Patientenfällen individuell erprobt und präoperativ sichtbar gemacht werden können. Eine verbesserte Visualisierung präoperativer Stagingbildgebung bei Kopf-Hals-Tumorpatienten war Gegenstand der Untersuchungen in klinischen Studien von Boehm et al. [6]. Hierbei zeigten sich insbesondere 3-D Rekonstruktionen und deren Integration durch computergestützte Systeme anhand von PET-CT Daten als hilfreiche Instrumente zur differenzierten Diskussion im interdisziplinären Kopf-Hals-Tumorboard sowohl für die präzise operative als auch strahlentherapeutische Behandlungsplanung, Dokumentation und Studienmanagement. Als Instrument zur Entscheidungsfindung und besseren OP Planung erwies sich auch der von Pankau et al. [7] evaluierte „Tumor-Therapie-Manager (TTM)“ [44]
[45]
[46], einem Softwaretool zur präoperativen 3-D Dokumentation und Rekonstruktion. Hierbei bot ein Abgleich von „c“ und „p“ TNM insbesondere für den Lymphknotenstatus eine höhere Genauigkeit bei Verwendung des 3-D TTM präoperativ. Somit können auch Instrumente dieser Art zukünftig zur Diskussion im Tumorboard hilfreich sein um u. a. das Ausmaß der operativen Intervention festzulegen.
2.2 Digitale Patienten- und Prozessmodelle
Neben dem Aspekt der Visualisierung sind auch die Bestrebungen im Forschungsbereich Digitale Patienten- und Prozessmodelle sehr rege. Durch die wachsende Anzahl medizinischer Diagnostik- und Therapieformen für komplexe Krankheiten, wie bspw. in der Kopf-Hals-Onkologie, werden patientenspezifischere Therapieentscheidungen und Prozesse erforderlich, welche die Chance auf ein besseres klinisches Ergebnis erhöhen. Dies wird jedoch durch die Menge und Vielfalt an erhobenen Patientendaten und deren fragmentierter Speicherung in unterschiedlichen Medien sowie durch die Vielfalt an diversifizierten Therapieoptionen erschwert. Im wissenschaftlich-experimentellen Stadium adressieren Projekte am ICCAS Leipzig dieses Forschungsfeld durch die Modellierung von Entscheidungsprozessen und die Entwicklung von Entscheidungsunterstützungssystemen, patientenspezifischen Therapieprozessmodellen, Methoden zur Extraktion und Strukturierung relevanter Informationen aus Patientenakten und standardisierten Informationsmodellen [4]
[11]
[12]
[13]. Im Rahmen der Arbeit an einem digitalen Patientenmodell zur Entscheidungsunterstützung (Einstieg in Projekte zur künstlichen Intelligenz) wurde als HNO-Anwendungsbeispiel das Larynxkarzinom gewählt, weil es eine hinreichende Komplexität für das zu schaffende Modell erwarten ließ. Methodisch erfolgte die Modellierung auf Basis von Bayes‘schen Netzwerken (BN) in 2 Schritten: 1) in der Modellierung von Graphen-Strukturen und 2) in der Integration probabilistischer Parameter [47]. Sowohl Struktur als auch Wahrscheinlichkeiten wurden von Experten auf der Basis der bestehenden Leitlinien und der Fachliteratur manuell modelliert [4] und in der Folge am Submodell des Larynxkarzinoms erfolgreich validiert [11]. Für die Visualisierung des Modells wurde ein Software-Tool in Kooperation mit der Gesellschaft für technische Visualistik mbH: GTV, Dresden entwickelt, die auch den Verifizierungsprozess durch Vergleich zweier individueller Patientenmodelle unterstützt ([Abb. 4]).
Abb. 4 Bayessche Netzwerke: das Visualisierungstool präsentiert eine Teilmenge des TNM-Staging-Netzwerks. Farbige Schnitte (blau und gelb) weisen auf eine Unstimmigkeit zwischen 2 Netzwerkberechnungen hin. Die zentrale Darstellung (1) gibt den Überblick über die aktuell angewählten Informationsknoten (grauer Ring), die mit den jeweiligen Informationsknoten in der Peripherie (4) verbunden sind, (2) zeigt die allgemeinen Patientendaten, (3) hebt die aktuell dargestellten Informationen in Form einer Liste dar [Bildquelle: ICCAS und [12], modifiziert]
In einer klinischen Evaluationsstudie wurde diese Software an 20 Patientendatensätze mit jeweils 2 berechneten BN-Netzen retrospektiv unter Anwendung originaler und manipulierter TNM-Klassifikationen analysiert. Die Ergebnisse der Studie konnten hierbei zeigen, dass die entwickelte Visualisierungssoftware eine Verifizierung des Patientenfalles in einer angemessenen Zeit ermöglicht und durch eine bessere Transparenz und Nachprüfbarkeit die Wahrscheinlichkeit ungenauer (nicht hilfreicher) Angaben reduziert werden [12]
[48]. Insgesamt zeigt dieser Ansatz die technische Machbarkeit und auch die mögliche klinische Integration von digitalen Patientenmodellen zur Therapieentscheidungsunterstützung im (präoperativen) Tumorboard auf der Basis Bayes’scher Netze, was auch in der Literatur medizinisch-interdisziplinär bestätigt wird [62]
[63]
[64].
Zur Unterstützung optimierter Entscheidungsfindung in der Onkologie existieren ferner zahlreiche wissenschaftliche Bestrebungen, wie bspw. das durch das BMBF geförderte Projekt „dashboard“ ([Abb. 5]). Dieses hierbei entwickelte Tool stellt auf insgesamt 5 Ebenen kompakt Daten über den Patienten dar und greift im Zuge der Therapieentscheidungsfindung auf die o.g. Bayes`schen Netzwerke zurück („patient inspector“, „information quality metrics“, „therapy timeline“, „TNM Staging“, „decision model“ [11]
[28]
[29]). Diese Datenzusammenfassung erfolgt im klinisch-digitalen Alltag bereits mittels eines webbasierten Arztassistenzsystems für computergestützte Tumordiagnosen und Behandlungsprozesse. Somit wird insbesondere im Kopf-Hals-Tumorboard ein erheblicher Nutzen in der interdisziplinären Kommunikation (HNO, MKG, Strahlentherapie, Nuklearmedizin, Neurochirurgie, internistische Onkologie, Pathologie) geschaffen. In der HNO Uniklinik Leipzig wurde im Rahmen eines Forschungsprojektes am ICCAS der wissenschaftliche Prototyp „oncoflow“ seit Ende 2012 bereits erfolgreich getestet, wobei die Dokumentation transparenter und die klinischen Prozessabläufe effizienter gestaltet werden konnten [25]
[26]
[27].
Abb. 5 Patientenspezifisches Dashboard, das den Therapieentscheidungsprozess in einem Tumorboard unterstützt. [Bildquelle: ICCAS [80]].
An dieser Schnittstelle setzen auch großangelegte, industriell geförderte Projekte im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI) an. Am Beispiel des IBM Watson® (WFO – Watson for oncology) [65] oder NAVIFY® von Roche [66]
[67] konnten bereits marktreife und kommerziell erhältliche Produkte der Datenorganisation in der Onkologie zur Bereitstellung im interdisziplinären Tumorboard entwickelt werden. In klinischen Studien wurden dabei effiziente Strukturen und hohe Konkordanzen zwischen medizinischer Expertise und computergestützter Technik nachgewiesen [53]
[54]
[55]. Trotz bzw. gerade aufgrund der konstruktiven Verbindung zwischen Industrieförderung (Produktentwicklung) und wissenschaftlicher Forschung wird dies ein wachsender Markt sein, der für die Entscheidungsunterstützung bei komplexen molekularbiologischen Hintergründen und Diversifikation von teuren und damit sorgfältig zu wählenden individuellen Therapieoptionen in der Onkologie in naher Zukunft eine wachsende Nachfrage bedienen wird.
3. Perioperative Tools im OP Saal der Zukunft
3. Perioperative Tools im OP Saal der Zukunft
Die rasanten Entwicklungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie in der Medizintechnik verändern wesentlich die Anforderungen an den chirurgischen Arbeitsplatz. Systeme zur intraoperativen Navigation und assistierten Instrumentenführung sollen dabei die Arbeit des Chirurgen erleichtern, ohne aber den Blick von der wesentlichen Arbeit abzulenken ([Abb. 6]).
Abb. 6 Operateurzentriertes Setting im OP Saal der Zukunft [Bildquelle: ICCAS Jahresbericht 2017 [80]].
3.1 Theoretische Modelle für ein chirurgisches Cockpit
Die internationalen Forschungsprojekte zur Umsetzung eines „chirurgischen Cockpits“ umfassen die Entwicklung von Konzepten zur Gestaltung eines „digitalen“ Operationssaales, in dem eine auf die Bedürfnisse der Chirurgen angepasste Technik zum Einsatz kommt, die durch Kompatibilität und Kommunikation der Systeme untereinander effektiv genutzt werden kann [1]
[3]
[9]
[10]. Auf nationaler Ebene arbeitet stellvertretend eine ICCAS Projektgruppe namens „Modellbasierte Automation und Integration (MAI)“ an der Entwicklung eines prototypischen IT-Systems zur Verwaltung, Steuerung und Überwachung von Operationsprozessen. Ziel der wissenschaftlichen Arbeiten ist ein fachspezifisches „Chirurgisches Cockpit“, welches den Chirurgen umfassend, situationsspezifisch und intelligent assistiert.
Eine Automatisierung von intraoperativen Prozessen und eine sequentielle Datenanalyse gelten dabei als Voraussetzung für computergestützte Interventionen in modernen integrierten Operationssälen. Es geht darum, die relevante Information über aktuelle Situationen dem Arzt zur Verfügung zu stellen und für eine situationsabhängige Gerätekonfiguration in Kombinationen mit anderen unterstützenden Dienstleistungen zu sorgen. Zu diesem Zweck müssen die intraoperativen Prozesse als chirurgische Prozessmodelle programmiert werden (SPMs). Für eine maschinell interpretierbare Darstellung von sog. SPMs wurde am ICCAS eine erweiterte „Geschäftsprozessmodellierungssprache“ (BPMN 2.0) im OR klinisch getestet. Im Ergebnis der theoretischen Arbeiten konnte eine effiziente Modellierungssprache für Arbeitsabläufe im integrierten OP Saal beschrieben werden [15]
[16]
[17]. Zur Unterstützung im OP Saal dienen ferner Softwareprogramme zur perioperativen Sicherheitsüberwachung und internen Gerätekommunikation, um Fehler im Arbeitsablauf seitens des medizinischen Personals zu minimieren. Am Beispiel einer Cochlea-Implantation wurde am ICCAS u. a. das webbasierte Softwaremodul „Ontology-based Risk Detector“ (OntoRiDe) getestet, welches relevante Risikostrukturen nach Anleitung erkennt (Ontologie: formal geordnete Darstellung und Begriffszusammenfassung), den gesamten OP-Ablauf auf einem Monitor anzeigt und mittels Alarm Rückkopplung gibt [18]. Aktuell wird diese Sicherheits- und Warnsoftware und das ontologische Modell allgemein an weiteren Operationen interdisziplinär erprobt, um endgültig Aussagen über den praktischen Nutzen zu geben und die Anwendung im klinischen Alltag zu diskutieren [68]
[69]
[70]. Weitere Forschungsbemühungen zum chirurgischen Cockpit haben das Ziel, die Fülle an perioperativen Patientendaten mittels eingesetzter Softwareprogramme zu komprimieren (z. B. im BMBF Projekt „CPSI“ - Consistent and prioritized presentation of surgical information). Diese Komponenten, welche zwischen dem OR-Netzwerk und den Monitoren geschaltet werden, erzeugen eine Selektion und Reduktion an Daten durch automatisches Umschalten chirurgischer Informationen, abhängig von ihrer Relevanz für die aktuelle OP Situation. In einem klinischen Fallbeispiel im Rahmen der endoskopischen Nasennebenhöhlenchirurgie (FESS) wurde am ICCAS eine Darstellung mit Anpassung der gegebenen Informationen im Setup mit 2 Displays evaluiert ([Abb. 7]) und von den Chirurgen als sehr positiv und effizient im Arbeitsablauf bewertet.
Abb. 7 Beispiel für die Zuordnung von Informationen nach Kategorien auf 2 verschiedenen. Monitoreinstellungen [Bildquelle: ICCAS Jahresbericht 2017 [80]].
3.2 Theoretische Modelle für chirurgische Assistenzsysteme
Bezüglich der zahlreich auf dem Markt verfügbaren medizintechnischen Assistenzsysteme haben die aktuellen theoretischen Forschungsbestrebungen primär das Ziel, die Integration und Systemvernetzung untereinander zu verbessern. Beispielhaft konnte im Projekt „context aware medical assistance“ am ICCAS ein Setup geschaffen werden, welches die Interoperabilität sowie den Arbeits- und Verhaltensablauf im OP Saal steuern soll. Hierbei fand im Rahmen klinischer Studien der Standardisierungsprozess „IEEE 11073 SDC“ [3] Anwendung, welcher auch im OR.NET eingesetzt wird (s.u.). Dieser internationale Standard dient der Realisierung von herstellerunabhängiger, interoperabler Vernetzung patientennaher Medizingeräte. Im Detail besteht diese Standardlösung aus einer serviceorientierten Kommunikationstechnologie, dem so genannten MDPWS (Medical Device Profile for Web Services), einem Domain-Informations- und Servicemodell und einem Konnektor zwischen den ersten beiden Mechanismen. Getestet wurde das System an insgesamt n=24 FESS-Eingriffen (an Phantomen) mit dem Ergebnis einer angemessenen Robustheit der implementierten Verarbeitungspipeline [1]
[19]
[20]. Das Prinzip der modularen Bauweise technischer Assistenzen kam ebenfalls im Projekt MoVE (Modular Validation Environment) multizentrisch auf Basis der standardisierten Gerätebeschreibungen (IEEE 11073 SDC_service-oriented device connectivity) [3]
[36]
[37] zum Einsatz, um den Übergang aus der theoretischen Idee in den Klinikbetrieb zu erproben. Diese Standardlösung scheint demnach für künftige vernetzte offene OP Systeme im Zuge einer Markteinführung als geeignet [71].
Neben den o.g. Standardisierungs- und Vernetzungsmodellen gibt es im Zuge der primär technischen Weiterentwicklung im Bereich der perioperativen Navigation neue Verfahren und Ansätze für die endoskop-geführte minimal-invasive Chirurgie. Im Projekt „BIOPASS“ [8] wird bspw. am NNH-Modell das Ziel verfolgt, endoskopische Informationen mit denen des OP-Ablaufs zu kombinieren und in eine für Software lernbaren Situationen zu beschreiben. Die dadurch erzielte Intelligenz der Software soll dem Chirurgen bei seiner Arbeit helfen und gleichzeitig Hardware-bedingte Anforderungen und Fehlereinflüsse verringern. In Forschungsarbeiten werden aktuell die identifizierten klinischen und technischen Anforderungen genutzt, um primäre Funktionen für das BIOPASS-System umzusetzen. Ein erster Prototyp wurde am ICCAS entwickelt um speziell die Interaktion zwischen Anwender und intelligenter Software am Beispiel eines HNO-Eingriffs (FESS) zu simulieren [8] ([Abb. 8]). Ein wesentlicher Fokus liegt dabei auf den präsentierten Informationen und der Navigation durch die anatomischen Regionen in der Endoskopsicht. In weiterführenden Arbeiten wird ein Demonstrator entwickelt, der die einzelnen Funktionen der beteiligten Projektpartner zusammenführt mit dem Ziel, eine Navigation ohne die Notwendigkeit zusätzlicher Marker, Trackingkameras und konventioneller Bildgebung (wie bspw. CT, MRT) zu erproben. Ob jedoch eine spätere Implementierung dieser Navigationsidee in moderne OP Säle realistisch erscheint, muss unter Betrachtung der etablierten Systeme in späteren Studien beleuchtet werden [72]
[73].
Abb. 8 Konzeptentwurf für die Navigationssystemschnittstelle mit verschiedenen Aspekten der analysierten chirurgischen Situationsinformation [Bildquelle: ICCAS Jahresbericht 2017 [80]].
Dies berührt gleichermaßen auch andere theoretische Assistenzmodelle, wie das „Equipment Management Center“ [9] auf Grundlage von Alarm- (audiologisch, visuell) und monitorbasierten Assistenzsystemen, die dem Kernaspekt der Bewahrung und Erhöhung der Patientensicherheit in einem zunehmend technisierten, komplexen Operationssaal Rechnung tragen. Dies sollte bei allen technischen Entwicklungen oberste Priorität haben.
4. Postoperative Tools im OP Saal der Zukunft
4. Postoperative Tools im OP Saal der Zukunft
Im Zuge einer Verbesserung der operativen Arbeitsabläufe ist es Ziel mittels der beschriebenen Assistenzsysteme sowie einer sequentiellen Speicherung von OP Daten bereits während der OP die postoperative Dokumentation vorzubereiten ([Abb. 9]).
Abb. 9 Postoperative Dokumentation beginnend im periopertiven Setting. [Bildquelle: ICCAS Jahresbericht 2017 [80]
4.1 Postoperative Dokumentation
Das sog. Datenlogging (siehe Kapitel 5) inkludiert hierbei v. a. eine perioperative Video- und Fotodokumentation, die als entsprechende Vorlage für OP-Berichte u.ä. genutzt werden soll. Wie in den unten aufgeführten OP-Projekten ist es ferner geplant, auch OP-Textbausteine, Diagnosen und Prozeduren (sofern gewünscht) automatisch in eine entsprechende Maske einzufügen. Damit sollen „workflow“-Optimierungen geschaffen werden, die einen faktischen Nutzen für den Operateur und das medizinische OP Personal haben sollen. Auch ist es damit möglich, einen (eventuell) präoperativ zeitlichen Mehraufwand aufgrund der technischen Vorbereitungen auszugleichen [3]
[23]. Am Beispiel des ICCAS „process navigator“ werden anhand der eingeschlagenen OP-Pfade einer NNH-OP entsprechende postoperative Schritte (z. B. Verschlüsselung von Subprozeduren, Bilder des OP Situs) automatisch erfasst ([Abb. 10.1], [10.2]). Die technische Realisierung ist auf diesem Gebiet, unter Beachtung nationaler Datentransfer- und Datenschutzbestimmungen, bereits weit gedient (s.u.: SCOT, MD PnP, OP 4.1).
Abb. 10.1 Workflow Informationssystem am Beispiel einer NNH-OP [Bildquelle: ICCAS [80]].[]
Abb. 10.2 Informationsdarstellung im „Process Navigator“. Dargestellt sind die vom System vorgeschlagenen . OP Pfade, die damit verbundenen (Sub-)Prozeduren, die zukünftige Ressourcennutzung und die verbleibende OP-Dauer. [Bildquelle: ICCAS [80]]
4.2 Tumornachsorge
Dass gerade bei komplexen onkologischen Patienten eine Zusammenführung der operativen Parameter wichtig erscheint, um die Wege der Entscheidungsfindung und operativen Interventionen zu optimieren, zeigen die Arbeiten von Müller und Zebralla et al., basierend auf der aktuell umfangreich diskutierten Notwendigkeit, das subjektive Erleben des Patienten in den Vordergrund zu stellen: „patient reported outcome“ (PRO) [14]
[43]
[74]. Hierbei fließen im Softwareprogramm „OncoFunction“ standardisiert primär funktionelle Daten (zu Themen wie: Dysphagie, Dysphonie, Dyspnoe, Schmerz- und B-Symptomatik, psychoonkologische Komorbiditäten) aus der Tumornachsorge der betroffenen Patienten ein, um notwendige Interventionen wegen konsekutiver Funktionsstörungen besser bzw. zeitgerechter erkennen und planen zu können. Wie beim oben genannten „dashboard“ liegt bei diesem Screening-Tool auch hier der Schwerpunkt auf einer schnellen und übersichtlichen Darstellung für den behandelnden HNO-Arzt ([Abb. 11]). Eine Einbindung in den klinischen Alltag ist bei diesem Projekt bereits gegeben und wird weiter zum Aufbau einer Patientendatenbank verfolgt.
Abb. 11 Die entwickelte interaktive Visualisierung des individuellen Patienten über Jahre hinweg im Vergleich zu allen Patienten. Eine Reihe von Filtern zu Funktionsstörungen und psychoonkologischen Komorbiditäten ermöglicht einen Ausbau weiterer Vergleichsgruppen. [Bildquelle: ICCAS [80]].
Während die meisten Projekte und klinischen Studien jedoch im prä- und perioperativen Setting ansetzen, gibt es im postoperativen Sektor noch weiteren Bedarf an benutzerfreundlichen Anwendungsmöglichkeiten, welche im klinischen Alltag von großem Nutzen wären.
5. Von der Projektidee zum Medizinprodukt: „Der digitale OP Saal“
5. Von der Projektidee zum Medizinprodukt: „Der digitale OP Saal“
Im nationalen und internationalen Umfeld der Medizintechnik gibt es bereits konkrete wissenschaftliche Projekte zur Realisierung eines integrierten und vernetzten Operationssaals. Neben der reinen Produkteentwicklung und Verbesserung spielt jedoch für die Umsetzbarkeit die medizinische Daten- und Informationsverarbeitung eine besondere Rolle (s. o.). Auch mit Bezug auf die Kopf-Hals-Chirurgie mündeten daher die Forschungsbemühungen der letzten Jahre im Bereich der Medizininformatik in der Errichtung integrativer Standards, die bereits heute vielfach Anwendung finden (u. a. DIFUTURE - Data Integration for Future Medicine; HiGHmed - Heidelberg-Göttingen-Hannover Medical Informatics; MIRACUM - Medical Informatics in Research and Care in University Medicine; SMITH - Smart Medical Information Technology for Healthcare) [49]
[50]
[50]
[52]. Ziel ist die Verwendung identischer Dienste und Funktionalitäten, um die Interoperabilitätsarchitekturen und den geplanten Datennutzungs- und -zugriffsprozess bestmöglich zu nutzen. Hierfür müssen Allianzen zwischen Kliniken, Forschungseinrichtungen und IT-Unternehmen geschaffen werden um parallele Strukturen zu verhindern. Dies eint die Medizininformatik und Medizintechnik, was im Folgenden beleuchtet werden soll.
5.1 Smart Cyber Operating Theater (SCOT)
Im von der japanischen Regierung unterstützen und finanziell getragenen Vorhaben „Smart Cyber Operating Theatre (SCOT)“ werden am Beispiel neurochirurgischer Eingriffe bereits sehr konkret unterschiedliche Medizinprodukte auf Basis offener Ressourcenschnittstellen im Systemnetzwerk verbunden. Dieses als „ORiN“ bezeichnete Konzept (Open Resource interface for the Network) wurde initial für die Industrie entwickelt und erweist sich nun auch aufgrund seiner Flexibilität für medizinische Angelegenheiten als geeignet [30]. „ORiN“ als Basis-Kommunikationstool zwischen den operativ einzusetzenden Assistenzsystemen bietet ein einheitliches Zugriffsmodell samt Datendarstellung und kann mit den verschiedenen Geräten, unabhängig vom Modell oder Hersteller interagieren. Im SCOT-Projekt arbeiten die Forscher aktuell an der Erweiterung namens „OPeLINK“ [30]
[32], welches das System für weitere Hersteller und Standards öffnet. Intraoperativ aufgezeichnete Daten stehen in diesem System über den Server („client server system“) auch zur postoperativen Nutzung für Dritte zur Verfügung (z. B. Bilddokumentation, OP Zeiten, OP Prozeduren u.ä.), was jedoch für den europäischen und speziell deutschen Markt aufgrund der strengen Datenschutzrichtlinien als kritisch anzusehen ist [39]
[75]
[76]. Durch die Verwendung dieser Technologien entwickeln die japanischen Kollegen zudem neue Anwendungen wie die Aufzeichnung von Behandlungsprotokollen und die Erstellung von Behandlungsdatenbanken, die optimierte Entscheidungsfindung mittels Navigationssystem oder ein präzisionsgeführtes Behandlungssystem. Damit sollen operative Eingriffe transparenter, nachvollziehbarer, schneller und v. a. exakter werden, um die Patientensicherheit zu erhöhen [30]. Dieses wissenschaftlich-kommerzielle SCOT-System zeichnet sich, gerade auch im Vergleich der unten aufgeführten Projekte, bereits durch eine hohe Marktreife aus. Es ist jedoch fast ausschließlich im Komplettpaket zu erwerben und - trotz OPeLINK – aktuell nur bedingt kompatibel mit OP-Modulen anderer Anbieter [77]
[78].
5.2 Medical Device Plug-and-Play Interoperability Program (MD PnP)
Gegenstück im Bereich der US-amerikanischen Forschungsbestrebungen ist das im Jahre 2004 gegründete „MD PnP-Projekt (Medical Device Plug-and-Play Interoperability Program)“ [33]
[34]. Auch hier gilt als Motivation das aktuelle „Nicht-Vorhandensein“ eines intranetartigen Systems für die Verbindung von medizinischen Geräten und klinischen Informationssystemen. Dieses klinische Projekt ist mit dem Massachusetts General Hospital (MGH), dem CIMIT (Center for Integration of Medicine and Innovative Technology) und dem Partners HealthCare System verbunden, zusätzlich unterstützt von TATRC (Telemedicine & Advanced Technology Research Center der US Army). Die US-amerikanischen Forscher verfolgen dabei einen vielschichtigen Ansatz um wichtige Barrieren für die Interoperabilität anzugehen, einschließlich der Entwicklung und Unterstützung geeigneter offener Standards (z. B. ASTM F2761-09 Integrated Clinical Environment: ICE) [35]. Zu den Zielen der Projektleitung gehören ferner die Definition eines sicheren Patientenpfades im Systemnetzwerk, die Erstellung und Analyse klinischer Szenarien und deren folgende Implementierung in den Klinikalltag. Das MD PnP Programm steckt zum aktuellen Zeitpunkt jedoch noch in den Versuchsstadien, allerdings mit vielversprechenden Ansätzen und Funktionalitäten [79] - ähnlich derer in den folgenden beschriebenen Projekten.
5.3 Projekt OP 4.1N
Als eine Art Zusammenführung der beschriebenen operativen Teilaspekte im deutschsprachigen Raum können die Arbeiten des eingetragenen Vereins OR.NET e.V. (s.u.) sowie – bei eingeschränkter Vergleichbarkeit - im Projekt OP 4.1 angesehen werden. Im seit August 2017 laufenden Projekt OP 4.1 [38] auf Initiative der urologischen Abteilung der Heidelberger Universitätsklinik in Kooperation mit Industriepartnern, dem Deutschen Krebsforschungszentrum (dkfz) sowie dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi Deutschland) werden konkrete chirurgische Anwenderkonzepte untersucht. Primäres Ziel sind benutzerzentrierte, offene und erweiterbare Softwareplattformen im OP Saal. Dabei geht es nicht um eine direkte Gerätevernetzung, anders als bei SCOT, MD PnP und OR.NET. Basierend auf Konzepten der Industrie 4.0 soll die OP 4.1 Plattform unterschiedliche Prozess- und Patientendaten digital integrieren sowie den verschiedenen Akteuren im Operationsumfeld wichtige Informationen zum richtigen Zeitpunkt zur Verfügung stellen. Ähnlich zu einem Betriebssystem für Smartphones wird angestrebt, eine Plattform zu schaffen, die es Unternehmen jeder Größe ermöglicht, neue Software-Lösungen via Apps auf leistungsfähige Art und Weise in den Operationssaal zu transferieren. Diese gemeinsame, dienstbasierte Integrationsplattform soll die Grundlage für eine einfache Umsetzung von Forschungsergebnissen in die klinische Praxis bilden und gleichzeitig die Markteintrittshürde für kleinere, innovative Unternehmen senken. Das Projekt 4.1 ist somit eher an der realen Umsetzung technischer Ideen interessiert, als an der Grundlagenforschung innovativer Ideen im Zuge der Interoperabilität, des Daten- und Patientenmanagements.
5.4 Projekt OR.NET
Forschung und Entwicklung für das OR.NET laufen aktuell im Verein OR.NET e.V. zusammen, der sich aus den Ergebnissen der Arbeiten des BMBF Verbundprojektes OR.NET von 2012 bis 2016 mit mehr als 50 Projektpartnern gründete ([Abb. 12]) [29].
Abb. 12 Offizielles Logo des Vereins OR.NET e.V. [Bildquelle: [29]].
Der Verein, der aus Unternehmen, Kliniken und Forschungsinstituten besteht, verfolgt ähnlich der SCOT- und MD PnP-Projekte Ansätze zur sicheren, automatischen dynamischen Vernetzung computergesteuerter Medizingeräte im „digitalen OP Saal der Zukunft“. Dabei sollen vorhandene Systeme weiterentwickelt, kritisch evaluiert und letztlich in Normierungsaktivitäten überführt werden, wobei die Vernetzung und Interaktion der Komponenten mit medizinisch zugelassener Software eine besondere Herausforderung an die Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) im medizinischen Umfeld darstellt ([Abb. 13]).
Abb. 13 Darstellung der Verbindung (via „Connector-hardware“) und Weiterentwicklung medizinischer Assistenzsysteme im Netzwerk des OR.NET basierend auf dem Gerätestandard SDC (s.u.) [Bildquelle: ICCAS [80]].
Übergeordnetes Ziel technischer Entwicklungen für die Medizin soll die Verbesserung der Qualität und Sicherheit in der Gesundheitsversorgung sein. Hierbei stellt die Sicherheit und Alltagstauglichkeit von vernetzten Medizinprodukten und IT-Systemen ein zentrales Qualitätskriterium als Element des Risikomanagements dar. Aufgrund der zunehmenden Technik und der komplexen Mensch-Technik-Interaktion im medizinischen Umfeld gewinnt die Berücksichtigung dieses Aspektes rasant an Bedeutung. Diesen Zielen widmet sich der eingetragene Verein. Über das OR.NET Projekt konnten bisher zahlreiche technische Lösungen realisiert werden, welche den beschriebenen Informationsüberfluss durch die Pluralität der verschiedenen Assistenzsysteme reduzieren sowie die mangelnde Systemvernetzung, die OP-Dokumentation und die ergonomischen Probleme für den Operateur verbessern [1]
[3]. Im ICCAS Leipzig wurde ein solcher OR.NET Demonstrator implementiert der als Forschungs-OP für wissenschaftliche Studien geeignet ist ([Abb. 14]).
Abb. 14 OR.NET Demonstrator (Versuchs-OP) im ICCAS Leipzig [Bildquelle: ICCAS Leipzig [80]].
Zu konkreten technischen Besonderheiten im OR.NET zählen im präoperativen Setting der sog. „context manager“ zur Festlegung des Sitzungskontexts durch Selektion der notwendigen medizinischen Geräte, des aktuellen Patienten und der entsprechenden Intervention via Tablet, um Voreinstellungen und Profile abrufen zu können. Mit Übertragung der Patienteninformationen an die ausgewählten Geräte wird dabei der präoperative Aspekt der OP abgeschlossen ([Abb. 15.1–15.3]).
Abb. 15 1–3 Monitor-Eingabefelder im „Context-Manager“: (1) Patienten-, Operateur- und Operationsauswahl, (2) Auswahl der verfügbaren medizinischen Assistenzsysteme,. (3) Checkliste vor OP-Beginn [Bildquelle: ICCAS Leipzig [80]].
Perioperativ soll eine zentrale Fernsteuerung verschiedener medizinischer Geräte und Systeme implementiert werden, um ein Operateur-fixiertes Arbeiten zu gewährleisten [2]. Mittels zentral und ergonomisch angebrachten Monitor(en) sowie (bei Wunsch) Einblendung von relevanten Informationen bspw. in das Okular eines Mikroskops und das zentrale Einspielen von CT- und Navigationsdaten soll ein ungestörtes Umfeld im OP Saal geschaffen werden ([Abb. 16]). Ferner gehören via Standardisierungssoftware SDC [2]
[3] vernetzte Systeme wie intelligente Fräsen, OP Sauger, chirurgische Navigationssysteme, ein adaptives OP Licht u. a. zum „mitdenkenden“ Inventar um die Arbeit des Chirurgen zu vereinfachen ([Abb. 17]) [80].
Abb. 16 Steuerung der medizinischen Geräte über ergonomisch angebrachte Monitore am OP-Mikroskop [Bildquelle: [3], modifiziert].
Abb. 17 Netzwerküberwachung der medizinischen Assistenzsysteme und Dattenlogging zur sequentiellen Datenspeicherung perioperativer Prozesse. [Bildquelle: ICCAS Leipzig [80]].
Perioperativ erfolgt zudem ein sog. Datenlogging ([Abb. 17]) zur sequentiellen und lückenlosen Datenspeicherung der gewonnenen operativen Parameter. Damit soll die Brücke zur postoperativen Dokumentation geschlossen werden, da OP Abschnitte besser nachvollziehbar und transparenter gemacht werden können. Ziel ist dabei auch die Erfassung intraoperativer Prozeduren und Diagnosen, die sich im vorangelegten Operationsbericht wiederspiegeln. Es sollen sich damit insgesamt Verbesserungen und v. a. eine signifikante Zeitersparnis im postoperativen Ablauf ergeben.
Zur klinischen Evaluation des OR.NET erfolgten an der HNO-Universitätsklinik Leipzig im Jahr 2016 und 2018 gemeinsam mit dem ICCAS Demonstrationen des „OP-Saals der Zukunft“ am Beispiel einer sanierenden Ohr-OP sowie einer Cochlea-Implantation, um die theoretische Idee in ein praktikables Setting zu übertragen ([Abb. 18]).
Abb. 18 Ergonomischer Versuchsaufbau der technischen Komponenten des OR.NET im ICCAS für die HNO-chirurgischen Anwendungsfälle. [Bildquelle: ICCAS Leipzig [3]
[80], modifiziert].
Für diese HNO-ärztlichen Eingriffe wurden in 2 klinischen Studien das präoperative Management, die technische Präparation des OP Saals, der operative Ablauf an Phantomen sowie der postoperative workflow untersucht und von insgesamt n=40 Studienteilnehmern evaluiert (Studie 1: n=5 HNO Ärzte, n=2 Herzchirurgen, n=1 Anästhesist, n=2 OP Schwestern; Studie 2: n=15 HNO-Ärzte, n=15 Medizinstudenten). Es kamen hierfür qualitative Befragungen mittels strukturierten Interviews und quantitativen, intervallskalierten Fragen zur Anwendung. In der ersten Pilotstudie [3] wurde dabei mehrheitlich die mangelnde Ausbildung im Umgang mit technischen Systemen und integrierten OP Sälen betont trotz zunehmender Bedeutung im klinischen Berufsalltag. Als Schlüsselaspekt der künftigen Anwendung wurde von Allen die Hard- und Softwarestabilität offener Systeme genannt. Eine Zunahme der Patientensicherheit (Median 7,5) sowie eine Verbesserung des intraoperativen Workflows (Median 9) konnten alle Teilnehmer bescheinigen. Obwohl n=3 Probanden eine Zunahme der OP-Vorbereitungszeit für möglich hielten, wurde die letztliche OP-Zeitersparnis in einem integrierten OP-Saal positiv bewertet (Median 8). Im Rahmen der zweiten klinischen Evaluationsstudie am Beispiel einer Cochlea-Implantation im OR.NET an Phantomen im Vergleich zu einer CI-OP im „normalen“ OP Saal waren die workflow-Ergebnisse im OR.NET sehr positiv. Sowohl im prä-, als auch im peri- und postoperativen Setting wurden die technischen Möglichkeiten und deren Vernetzung im Ablauf als durchweg „ziemlich hilfreich“ evaluiert. Als Gesamtnote gaben die Probanden eine Schulnote „2“, bei Limitation einer komplexen, „technisierten“ Arbeitsatmosphäre und einer noch nicht signifikant fassbaren Zeitersparnis. Im Kontext der zeitnahen Umsetzung der technischen Ideen stehen somit zunächst Teilimplementierungen der o.g. Systeme bei OR.NET im Vordergrund. Zur Erreichung der Marktreife wird (wie bei den anderen OP Projekten) weiter mit Nachdruck geforscht und entwickelt. Hierzu gehören erfreulicherweise auch wissenschaftliche Partnerschaften, wie zwischen OR.NET und SCOT, um gemeinsam das Thema „offene Vernetzung von Medizingeräten und IT Systemen in Operationssaal und Klinik“ und die damit verbundenen technologischen Herausforderungen zu erschließen [80].
Schlussbemerkung
Insbesondere die OR.NET- bzw. MD PnP- und SCOT-Projekte haben das Potenzial zur Integration unterschiedlicher technischer Medizinprodukte und Assistenzsysteme in einem vernetzten OP-System auf Basis offener Ressourcenschnittstellen. In klinischen Studien konnte gezeigt werden, dass im prä-, peri- und postoperativen Setting für den klinisch tätigen Mediziner durchaus Behandlungsvorteile vorliegen können. Im medizinischen Zeitalter der zunehmenden Digitalisierung bleibt jedoch im Gesamtkontext kritisch abzuwägen, inwiefern sich die chirurgischen Arbeiten im Speziellen tatsächlich verbessern lassen, wie hoch die Benutzerfreundlichkeit und der zeitliche (Mehr-) Aufwand ist und welche Vorteile sich für den zu behandelnden Patienten ergeben. Zusammen mit Informatikern, Ingenieuren und Klinikern sind somit noch weitreichende wissenschaftliche Studien und Evaluationen von Nöten. Wie viel Technik benötigen der Arzt und die Medizin im 21. Jahrhundert? Diese Frage lässt sich somit (noch) nicht mit letzter Gewissheit klären. Auf Grundlage der geschilderten Entwicklungen geben die Innovationen jedoch Grund zur Hoffnung, dass die aktuell teils überfordernden technischen Hilfsmittel im OP Saal künftig „geräuschloser“ ihre Dienste verrichten und den Arzt tatsächlich entlasten können. Insgesamt erscheint der „intelligente (HNO-) Operationssaal der Zukunft“ keine fiktive Idee mehr, sondern Abbild realistischer Umsetzung im Sinne einer konstruktiven, kosteneffektiven und patientenorientierten modernen Medizin.