Psychiatr Prax 2018; 45(08): 403-404
DOI: 10.1055/a-0750-0894
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Haben alternativmedizinische Behandlungsverfahren einen Platz in Psychiatrie und Psychotherapie? – Kontra

Do Methods of Alternative Medicine have a Place in Psychiatry and Psychotherapy? – Contra
Ulrich Schweiger
1   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität zu Lübeck
,
Manfred Anlauf
2   Medizinisches Versorgungszentrum Cuxhaven
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Publication Date:
29 October 2018 (online)

  1. Der Begriff „alternative“ Heilmethoden führt in die Irre, wenn sich dahinter die Behauptung verbirgt, dass es neben wissenschaftlich belegten Behandlungsmethoden andere Therapieverfahren gebe, die wissenschaftlicher Belege nicht bedürften. Eine Zusatzbehandlung mit alternativen Heilmethoden ist ein Widerspruch. Das Etikett „komplementär“ nutzt die Erkenntnis, dass wissenschaftsorientierte Medizin stets der Ergänzung und Entwicklung bedarf, behauptet aber tatsachenwidrig, dieses Komplement bereits zu kennen. Sinnvoller und fairer für den Konsumenten medizinischer Dienstleistungen ist die dreifache Unterscheidung zwischen wissenschaftlich gestützten, als unwirksam erwiesenen oder bisher wissenschaftlich unzureichend überprüften Therapien.

  2. Die Anwendung von wissenschaftlich nicht oder unzureichend geprüften Methoden in Psychiatrie und Psychotherapie ist wie in der übrigen Medizin riskant und ethisch problematisch.

    • Risiko „Unwirksamkeit“. Die Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass Erfahrung oder theoretische Ableitung als Wirksamkeitsnachweis nicht ausreicht. Der natürliche Verlauf von Erkrankungen, ein Observer Bias oder ein Patient Bias (Plazebo) können Wirksamkeit einer Therapie vortäuschen. Bei psychischen Störungen ist dies wegen der großen Variabilität des Spontanverlaufs und der hohen Subjektivität in der Wahrnehmung bestimmter Symptome besonders bedeutsam.

    • Risiko „unerwünschte Wirkungen“. Methoden mit unbekannter Wirksamkeit haben auch ein unbekanntes Risiko von Nebenwirkungen, therapeutisch unwirksame können dennoch nebenwirkungsreich sein.

    • Risiko „verpasste Chance“. Die argumentative oder werberische Stärkung sogenannter komplementär-alternativer Heilmethoden birgt die Gefahr, dass Patienten auf wirksame Behandlungen verzichten.

    • Risiko „Etablierung eines ungünstigen Störungsmodells“. Der Aufmerksamkeitsfokus kann z. B. auf Ernährung, Energieströme in Meridianen oder Simile-Fantasien gelenkt werden, statt auf die Bewältigung von interpersonellen Konflikten oder die Notwendigkeit, wieder in wichtigen Lebensbereichen aktiv zu werden. So können auch die psychologischen Nebenwirkungen von nicht überprüften Therapien in der Psychiatrie und Psychotherapie sehr ungünstig sein.

    • Risiko „ungünstiges Verhältnis von Nutzen, Schaden und Kosten“. Der Patient oder die Gemeinschaft der Versicherten wird finanziell belastet oder unbekannten Risiken ausgesetzt, ohne dass dem ein gesicherter Nutzen gegenübersteht.

  3. Wissenschaftliche Medizin und Erfahrung in einen Gegensatz zu bringen, ist verfehlt. Wissenschaftsorientierte Medizin zeichnet sich aus durch Vorurteilslosigkeit und hohe Integrationsfähigkeit. Die Provenienz gesicherter Therapieverfahren ist für sie prinzipiell gleichgültig und von nur historischem Interesse. Beispielsweise basierte der therapeutische Einsatz von Lithium über mehr als 100 Jahre nur auf Einzelfallbeobachtungen. Unter anderem wurde der Effekt lithiumhaltiger Mineralwässer beschrieben. In den 1960er-Jahren belegten dann erste kontrollierte randomisierte Studien die Wirksamkeit bei bipolarer Störung und Depression. Ein wichtiges Beispiel ist auch die Anwendung von Achtsamkeitstechniken in der Behandlung von Depression und Angststörungen. Diese Techniken entstanden ursprünglich im religiösen Kontext des Buddhismus. Wissenschaftliche Studien zeigten dann, dass einzelne in dieser Tradition stehende Techniken geeignet sind, metakognitive Prozesse zu beeinflussen und sich – mit einem neuen Rational – sehr gut als Bestandteil bestimmter psychotherapeutischer Methoden wie der metakognitiven Therapie oder der dialektisch-behavioralen Therapie eignen. Ihre Wirksamkeit wurde durch kontrollierte randomisierte Studien gezeigt. Diese Beispiele verdeutlichen, dass Erfahrung ein wichtiger Ausgangspunkt von Hypothesenbildung ist, wissenschaftliche Überprüfung aber nicht ersetzt. Kein ernsthafter Vertreter von Psychiatrie und Psychotherapie würde bei den genannten Therapien auf den Wissensstand der 1960er-Jahre zurückkehren wollen. Ebenso wenig können diese Beispiele eine generelle therapeutische Wirksamkeit von Naturheilkunde oder buddhistischen Praktiken beweisen.

  4. Alternative Medizin wird häufig als sanft und menschenfreundlich beworben, was unredlich ist, soweit die Behandlung mit unzureichend wissenschaftlich geprüften Methoden die oben skizzierten ethischen Probleme bergen. Darüber hinaus führt diese Art der Werbung zu einer reduzierten und für die Patienten stigmatisierenden Wahrnehmung wissenschaftsorientierter Psychiatrie und Psychotherapie als nebenwirkungsreich oder inhuman. Tatsächlich steht bei der wissenschaftsorientierten Medizin der Anspruch von Menschen auf eine nach dem gegenwärtigen Wissensstand optimale Behandlung im Mittelpunkt. Sie strebt nach einer Behandlung mit möglichst geringen Nebenwirkungen nicht nur in der Pharmakotherapie, sondern auch mit den verschiedenen Methoden der Psychotherapie sowie einer großen Zahl von wissenschaftlich überprüften Empfehlungen zur Lebensführung.

  5. Behandlungsmethoden, die nach Meinung des Proponenten einen Platz in der psychiatrischen Behandlung haben sollen, müssen sich einer vorurteilsfreien wissenschaftlichen Überprüfung stellen. Voraussetzungen hierfür sind: Krankheitsereignisse und ihre therapeutische Beeinflussung sind zwar individuell aber nicht singulär, sie sind daher typisier- bzw. wiederholbar. Zur Typisierung können rationale und konsensfähige Kriterien entwickelt werden, die unter anderem zur Definition von Krankheitsentitäten (kodifiziert in ICD und DSM) und von therapeutischen Prozessen führen, möglichst scharf getrennt nach den Elementen, die wahrscheinlich therapeutisch wirksam sind. Über die therapeutische Wirksamkeit von Therapien und ihre Abgrenzung von Spontanverlauf und verschiedenen Quellen von Bias kann dann aufgrund gut definierter Kriterien entschieden werden. Diese Voraussetzungen werden von Vertretern alternativer Heilkunden nicht selten grundsätzlich bestritten oder gelten als unerfüllbar.

  6. Ohne Zweifel enthalten sogenannte komplementär-alternative Heilmethoden (siehe 1.) Elemente mit möglicher therapeutischer Wirksamkeit, die aber bisher unzureichend geprüft wurden und einer klaren Differenzialindikation in Psychiatrie und Psychotherapie entbehren. Hierzu gehören einfache und invasive Körperkontakte (z. B. Akupunktur) oder Phytopharmaka. Die Übernahme ganzer „Narrative“ (Humoralpathologie, Homöopathie, TCM, Ayurveda u. a.) erscheint dagegen sinnlos, wenn die oben skizzierte Wissenschaftsmethodik nicht eingehalten wird. Nachweislich Leben verlängert und Krankheiten vermieden oder geheilt hat bisher nur das Zusammengehen und die Wechselwirkung von naturwissenschaftskonsistenten Wirksamkeitsmodellen und davon unabhängigen Wirksamkeitsnachweisen (Evidenz). Dies ist die fruchtbare Dialektik moderner wissenschaftlicher Medizin.