Dr. rer. nat. Kirstin-Friederike Heise, Herausgeberin physioscience
Täglich flattern mehr oder weniger dringliche Einladungen in meinen elektronischen
Briefkasten, ein Manuskript in ein neues Journal einzureichen. Darunter wohlklingende
Namen wie Annals of Physical Therapy, Annals of Biomedical Technology & Engineering,
Annals of Musculoskeletal Medicine, Journal of Life Science Innovations, International
Journal of Sports and Exercise Medicine, etc. – die Liste ist nahezu endlos. Zumeist
ignoriere ich diese E-Mails und lösche sie unmittelbar. Seit jedoch in diesem Sommer
der unsägliche Begriff „Fake Science“, also der Betrug mit scheinwissenschaftlichen
Arbeiten,
das
Thema in den Medien war, frage ich mich: Ist das auch ein Problem, welches die physiotherapeutische
Forschung betrifft?
Hier gilt es zwei wesentliche Vorgänge des Betruges in der Wissenschaft zu unterscheiden:
Auf der einen Seite das Betrügen mit manipulierten Daten und Ergebnissen, und auf
der anderen Seite der Betrug mit vermeintlich wissenschaftlichen Publikationsplattformen.
Während Ersteres zwar auch eine Folge der Spielregeln des Wissenschaftssystems sein
kann, basiert es doch eher auf dem Handeln des Individuums und verstößt eindeutig
gegen die Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis [1]. Letzteres ist jedoch ausschließlich ein systemisches Problem, bewegt sich in einer
legalen Grauzone und betrifft damit alle Akteure und Profiteure des Wissenschaftssystems
– darüber schreibe ich in diesem Editorial.
Ohne wissenschaftliche Veröffentlichungen existiert man in der wissenschaftlichen
Gemeinschaft quasi nicht. Hinzu kommt, dass einen Organisationen für Fördermittel
ebenfalls zu einem großen Anteil anhand der Publikationsleistung messen. Ohne Publikationen
kein Geld für Forschung, ohne Geld für Forschung keine Forschung, keine Publikationen,
keine Teilnahme an internationalen wissenschaftlichen Konferenzen, etc.
So sind die Spielregeln und das gilt ebenfalls im Bereich der Physiotherapiewissenschaften.
Ich würde sogar die These aufstellen wollen, dass es sich in unserem Bereich noch
ein Stückchen gravierender darstellt, denn wir – ich spreche vor allem, aber nicht
ausschließlich für den deutschsprachigen Raum – sind gerade erst dabei, unseren Fuß
in die Tür der etablierten Fördermittelgeber zu setzen und die Relevanz unserer wissenschaftlichen
Arbeit zu unterstreichen. Außerdem können wir unsere wissenschaftliche Gemeinschaft
noch nicht so einwandfrei identifizieren, da die Physiotherapiewissenschaft noch kein
etabliertes Feld ist, welches außerdem ein enormes Wachstum und eine Weiterentwicklung
sowohl auf der Seite der Akteure als auch der Organe und Medien zur Veröffentlichung
verzeichnet.
„Fake“ (gefälscht/falsch) oder „predatory“ (räuberisch), wie diese vermeintlichen
Fachzeitschriften im Englischen genannt werden, drängen mit wissenschaftlichen Informationen
auf den Markt und treffen den Nerv des Publikationsdrucks im Wissenschaftssystem.
Das hat zur Folge, dass einerseits qualitativ minderwertige Arbeiten die Hürde zur
Veröffentlichung nehmen und andererseits Wissenschaftler auf der Suche nach geeigneten
Journals für ihre Arbeit in die Irre geleitet werden. Die E-Mail-Einladungen dieser
Zeitschriften locken mit dem Versprechen einer garantierten Publikation, schnellem
Peer-review-Verfahren innerhalb von wenigen Tagen oder Angeboten wie vom Discounter
an der Ecke (zwei Publikationen zum Preis von einer).
Aufgrund des hohen Drucks zu publizieren bietet ein vermeintlich leichterer Weg mit
kurzen Bearbeitungszeiten eine willkommene Möglichkeit, die eigene Arbeit in einem
Fachjournal unterzubringen und damit seinen wissenschaftlichen Lebenslauf aufzuwerten.
Die Medienberichte in diesem Sommer führten uns vor Augen, dass die Zahl der Wissenschaftler,
die bewusst oder unwissend auf diesem Weg veröffentlichten, auch erfahrene und nicht
nur unerfahrene Kollegen einschließt. Und das Problem betrifft selbstverständlich
nicht ausschließlich den deutschsprachigen Raum.
Bei der Recherche für dieses Editorial fiel mir der Beitrag eines indischen Kollegen
in die Hände, der darin dasselbe Problem beklagt und eindringlich dazu aufruft, solche
trügerischen Medien zu meiden [2]. Wie drängend das beschriebene Problem ist, zeigt z. B. auch die im Juli dieses
Jahres verabschiedete Richtlinie der kanadischen Regierung, mit dem Ziel der Stärkung
der wissenschaftlichen Integrität [3]. Damit verbunden ist die explizite Ermutigung, adressiert an kanadische, im Auftrag
der Regierung forschende Wissenschaftler, öffentlich über ihre Arbeit zu sprechen.
Darüber hinaus betont die Richtlinie die Förderung einer Kultur, die die wissenschaftliche
Integrität in der Forschung sowie die Erhöhung der Zuverlässigkeit von und des Vertrauens
in Wissenschaft und Forschung der Regierung unterstützt [3].
Aber woran erkenne ich ein vertrauenswürdiges Journal und wie schütze ich mich vor
betrügerischen Plattformen?
Der amerikanische Bibliothekar Jeffrey Beall kritisierte schon früh die uneingeschränkte
Forderung nach freier Verfügbarkeit von Publikationen, bei der die Autoren für die
Publikation ihrer Arbeit horrende Summen bezahlen [4]. Seine Kritik richtet sich gegen ein intransparentes Publikationssystem, welches
dazu führt, dass betrügerische Plattformen Kapital aus dem Publikationsdruck schlagen
können. Beall initiierte eine Liste mit potenziell räuberischen Verlage, Zeitschriften
und Konferenzanbietern [5]. Diese ständig aktualisierte Liste bietet eine Hilfestellung bei der Identifizierung
von Pseudofachzeitschriften.
Ein essenzieller Aspekt des wissenschaftlichen Publikationsprozesses ist die sorgfältige
Untersuchung des Manuskriptes durch andere Wissenschaftler anhand eines Peer-Review-Verfahrens.
Sie lesen das Manuskript kritisch und empfehlen entweder, es zur Publikation anzunehmen,
abzulehnen oder – in den meisten Fällen – es nochmals zu überarbeiten. Ein ohne ein
solches oftmals verblindetes Begutachtungsverfahren veröffentlichter Artikel wird
im Grunde als nicht valide und nicht wissenschaftlich bewertet. Diese Arbeit, die
die Gutachter unentgeltlich und zusätzlich zu allen anderen professionellen Aufgaben
erledigen, hat damit einen unschätzbaren Wert für die Qualitätsgarantie in der Wissenschaft.
Es ist evident, dass eine solche fundierte Begutachtung sowohl Expertise als auch
Zeit bedarf.
Netzwerke (digitale und real weltliche) ermöglichen den Informationsaustausch und
die Kooperation mit Kollegen auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene.
Die Kommunikation innerhalb solcher Netzwerke ist oftmals direkter und daher auch
zeitlich unmittelbarer, was eine großartige Bereicherung für den wissenschaftlichen
Diskurs darstellt und eine gewinnbringende Ergänzung zu den Printmedien bietet. Innerhalb
solcher Netzwerke lassen sich Erfahrungen austauschen und bieten auch einen Beitrag
zur Qualitätssicherung für wissenschaftliche Arbeiten. In diesem Zusammenhang möchte
ich auf den Beitrag von A. Schäfer, C. Braun, B. Elsner, C. Kopkow und K. Lüdtke in
dieser Ausgabe verweisen (s. S. 194 ff.).
Mentoring-Programme für angehende Wissenschaftler verdeutlichten bereits in anderen
Wissenschaftsbereichen, dass sie wesentlich die Weichenstellung beeinflussen, ob Wissenschaftler
erfolgreich, produktiv und zufrieden ihrer Forschung nachgehen können. Diese Programme
unterstützen Neulinge dabei, ihren Weg zu finden und bieten eine effektive Möglichkeit,
Kontakte und Kooperationen zu knüpfen und sich einen Namen in der wissenschaftlichen
Gemeinschaft zu machen. Dies sind die wesentlichen Voraussetzungen, um sich mit den
Spielregeln des Systems vertraut zu machen und nicht auf trügerische Angebote hereinzufallen.
Strukturen für Mentoring-Programme erfordern selbstverständlich ebenfalls ökonomische
Ressourcen und die Bereitschaft zu persönlichem Engagement. Andere wissenschaftliche
Arbeitsbereiche zeigen jedoch, dass die Kultivierung effektiven Mentorships innerhalb
des Wissenschaftsbetriebes langfristig dem gesamten System zugutekommt [6].
Ein Paradigmenwechsel zeichnet sich im Bereich des Open Access ab, also der freien
Verfügbarkeit von wissenschaftlichen Ergebnissen. Ein Paukenschlag war in diesem Zusammenhang
die Meldung Anfang September dieses Jahres, dass eine Reihe nationaler Forschungsförderorganisationen
der Europäischen Kommission und dem Europäischen Forschungsrat folgen und Open-Access-Publikationen
verpflichtend für Empfänger ihrer Fördergelder vorschreiben [7]. Wie schon angedeutet, ist das System der freien Verfügbarkeit nicht unumstritten.
Bisher tragen vor allem die Autoren die Kosten für die freie Verfügbarkeit wissenschaftlicher
Veröffentlichungen. Das soll und wird sich unweigerlich mit dieser maßgeblichen Neugestaltung
der Förderauflagen ändern. Die Kritik, dass Bezahlschranken den Zugang zu Wissen verhindern
und damit das grundlegende Universalitätsprinzip der Wissenschaft untergraben, treibt
diese fundamentalen strukturellen Umwälzungen an. Nur dann, wenn Ergebnisse diskutiert,
auf Nachvollziehbarkeit hin überprüft, reproduziert und gegebenenfalls widerlegt werden
können, sind sie als wissenschaftlich zu bezeichnen. Der Grundcharakter der Wissenschaft
als Institution besteht in der kritischen Betrachtung und kann sich folglich nur dann
entfalten, wenn diese Verzahnung aus kritischer Reflexion, Überprüfung und Basierung
neuer Untersuchungen auf bestehendem Wissen uneingeschränkt möglich ist.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Vergnügen beim kritischen Lesen der aktuellen
Ausgabe der physioscience. Vielleicht nehmen Sie sich auch mal die Zeit, um die Liste der Gutachter und der
Kollegen im wissenschaftlichen Beirat anzuschauen, die einen großen Anteil an der
Güte dieser Fachzeitschrift haben.