Drug Res (Stuttg) 2018; 68(S 01): S25-S26
DOI: 10.1055/a-0733-0904
Symposium der Paul-Martini-Stiftung
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Medikamentenpriming am Beispiel der Therapie der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS)

Wolfgang Rascher
Kinder- und Jugendklinik, Universitätsklinikum Erlangen
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Prof. Dr. Dr. h. c. Wolfgang Rascher
Kinder- und Jugendklinik
Universitätsklinikum Erlangen
Loschgestraße 15
91054 Erlangen

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Publikationsdatum:
19. November 2018 (online)

 

Unter Priming versteht man eine Beeinflussung der Verarbeitung der Wahrnehmung und des Denkens, indem ein bestimmter vorangegangener Reiz die Denk- und Verhaltensweise bei einer darauf folgenden Reaktion beeinflusst. Es beschreibt die Bahnung einer Reaktion.

Auch Medikamente werden zur Bahnung eingesetzt (Prostaglandine zur Erweichung und Erweiterung des Zervix vor einer Kürettage des Uterus, Priming mit Sexualsteroiden vor einem Stimulationstest von Wachstumshormon bei präpubertären Kindern).

Unter ADHS versteht man eine Funktionsstörung mit den Kernsymptomen einer ausgeprägten motorischen Unruhe (Hyperaktivität), leistungsbeeinträchtigenden Konzentrationsstörungen (Unaufmerksamkeit, erhöhte Ablenkbarkeit) sowie erheblichen Einschränkungen, das eigene Verhalten zu planen und zu steuern (Impulskontrollstörung). Diese Symptome treten wiederholt mindestens in zwei Lebenssituationen durchgängig auf und können situationsbedingt in ihrer Intensität schwanken.

Die Behandlung des ADHS erfolgt mit Psychoedukation und Verhaltenstherapie und mit Hilfe von Medikamenten (Psychostimulanzien wie Methylphenidat, Amphetamin, Lisamfetamin bzw. mit Atomoxetin oder Guanfacin). Die medikamentöse Therapie dient dazu, im Rahmen eines multimodalen Therapieansatzes die Patienten einer Verhaltenstherapie zugängig zu machen (positives Medikamentenpriming). Die Medikamente, die bei ADHS wirksam sind, modifizieren neuronale Abläufe im Gehirn und beeinflussen dadurch die psychische Verfassung (Empfinden und Verhalten). Die gegenwärtigen Erklärungsmodelle der Wirkung von Psychostimulanzien auf das Aufmerksamkeitsdefizit bei ADHS-Patienten erklären in Teilaspekten gut den therapeutischen Effekt, aber sie liefern keine überzeugenden Erklärungen für die Wirkung auf die Symptome Hyperaktivität und Impulsivität [1].

Medikamentenpriming ist negativ, wenn die primäre Pharmakotherapie allein der Änderung der psychischen Verfassung dienen soll. Dann kann die medikamentöse ADHS-Therapie als Einstieg betrachtet werden, psychische Störungen bzw. Befindlichkeiten nur medikamentös zu behandeln (Medikalisierung von Entwicklungsauffälligkeiten im Verhalten und in der Emotionalität). In diesem negativen Sinne werden Reaktionen gebahnt, dass psychische Probleme leicht mit Psychopharmaka gelöst werden können.

In den letzten 20 Jahren ist ein enormer Anstieg der Diagnose eines ADHS in vielen westlichen Ländern zu verzeichnen. (USA von 6,1% 1997 auf 10,2% 2016) [2]. Die repräsentative Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) fand bei insgesamt 4,8% der Kinder und Jugendlichen die Diagnose ADHS [3]. Weitere 4,9% der Teilnehmer an der Studie galten als Verdachtsfälle. Im Alter von 11 – 17 Jahre wurde bei jedem zehnten Jungen und bei jedem 34. Mädchen ADHS diagnostiziert.

Es gibt Hinweise, dass das ADHS in Deutschland zu häufig diagnostiziert wird und auch Fehldiagnosen vorkommen [4]. Der Barmer BEK Ärztereport 2013 [5] mit dem Themenschwerpunkt ADHS zeigte in Deutschland einen Anstieg der ADHS-Diagnose (ICD F90) seit dem Jahr 2006 bis auf 2011 um insgesamt 49%. Dabei stiegen die Raten bundesweit um 42% von 2,92% auf 4,14% der pädiatrischen Bevölkerungsgruppe.

Große regionale Unterschiede in der Diagnose und Therapie des ADHS zeigen, dass offensichtlich nicht gleiche Diagnosekriterien und vergleichbare Kriterien für die Verordnung von ADHS-Medikamenten in Deutschland angewandt werden [5], obwohl das durch Leitlinien und Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses der Fall sein sollte [6].

In Verlaufsuntersuchungen konnte die zunächst berichtete Überlegenheit der medikamentösen Therapie gegenüber einer Verhaltenstherapie nicht mehr gezeigt werden [7], und auch der Substanzmissbrauch wird durch die medikamentöse Behandlung nicht verhindert [8]; er ist sogar erhöht [9].

Der kurzfristige Erfolg der Pharmakotherapie bestärkt die Meinung, dass auffälliges Verhalten als Krankheit verstanden wird und medikamentös therapiert gehört. Ein Eingehen auf die veränderte Lebenswelt des Kindes, die notwendige erzieherische Aufgabe, den richtigen Umgang mit der Emotion und dem Verhalten zu erlernen, wird nicht ausreichend berücksichtigt.


Prof. Dr. Dr. h. c. Wolfgang Rascher

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Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


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