ergopraxis 2019; 12(01): 32-33
DOI: 10.1055/a-0732-9482
Ergotherapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Soft Skills einschätzen – Assessment: Mini-ICF-APP

Beate Muschalla
,
Michael Linden
,
Stefanie Baron
,
Margarete Ostholt-Corsten

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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
04. Januar 2019 (online)

 

Das Mini-ICF-Rating für Aktivitäts- und Partizipationsbeeinträchtigungen erleichtert das Bewerten von psychischen Einschränkungen. Damit unterstützt es Befund, Verhaltensbeobachtung und Behandlungsplanung von Erwachsenen mit psychischen Erkrankungen. Wie das Instrument funktioniert, erklären die Entwickler des Assessments.


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Psychische Erkrankungen führen zu Einschränkungen, die schwer messbar sind. Sie äußern sich nicht nur als typische Krankheitssymptome wie Halluzinationen oder Essstörungen. Häufig sind Fähigkeiten wie Flexibilität und Umstellungsfähigkeit betroffen, die man im alltäglichen Leben benötigt. Es gibt viele Beispiele, wie es aufgrund von psychischen Erkrankungen zu Fähigkeitsbeeinträchtigungen kommen kann [1, 7]: Beeinträchtigungen in der Kontaktfähigkeit können beispielsweise bei Personen mit sozialer Phobie oder in akut manischem Zustand auftreten.

Mit dem Mini-ICF-Rating für Aktivitäts- und Partizipationsbeeinträchtigungen (Mini-ICF-APP) lassen sich diese Fähigkeiten und Beeinträchtigungen auf 13 Fähigkeitsdimensionen beschreiben (FÄHIGKEITSDIMENSIONEN) [1–5].

Verschiedene Anwendungsweisen

Das Mini-ICF-APP ist ein international validiertes und in der Sozialmedizin und Rehabilitation oft verwendetes Assessment [1]. Es bildet Soft Skills ab, also Fähigkeiten der Interaktion und Selbststeuerung. Das Fremdbeurteilungsinstrument kommt in der klinischen Praxis, in der Planung von Behandlungen, bei Begutachtungen oder wissenschaftlichen Untersuchungen zum Einsatz. Die Durchführung erfolgt als Beobachtung und/oder Interview, deren Ergebnisse man in einem Ratingbogen dokumentiert. Es gibt über die Fremdratingversion hinaus einen analogen Kurzfragebogen mit 13 Items zum subjektiven Fähigkeitsprofil (Selbstrating Mini-ICF-APP-S) sowie eine Interviewversion zum Feststellen der aktuellen Arbeitsanforderungen (Mini-ICF-APP-W).


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13 Fähigkeitsdimensionen

Die Forschungsgruppe „Psychosomatische Rehabilitation“ der Charité Berlin entwickelte das Mini-ICF-APP 2009 aus der klinischen Praxis heraus, um Fähigkeiten bei psychischen Erkrankungen mithilfe der ICF zu beschreiben [1]. Dazu formulierte sie 13 Fähigkeitsdimensionen wie die „Anpassung an Regeln und Routinen“. Diese Dimension beschreibt zum Beispiel die Fähigkeit, sich an Regeln zu halten, Termine verabredungsgemäß wahrzunehmen und sich in Organisationsabläufe einzufügen. Dies beinhaltet die Erfüllung von täglichen Routinen, das Einhalten von Verabredungen und pünktliches Erscheinen. Für jede Dimension liefert das Mini-ICF-APP eine allgemeine Definition sowie Fragen für den Interviewer/Beobachter.

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Das Mini-ICF-APP kann man als Interview oder als Beobachtungsinstrument einsetzen.
Abb.: metamorworks/adobe.stock.com

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Fähigkeiten beschreiben

Die Beschreibung von Fähigkeiten darf sich nicht nur auf Spontan- und Globaläußerungen von Klienten stützen, sondern setzt fachkundige Exploration und Verhaltensbeobachtung voraus. Es ist zum Beispiel möglich, dass eine Ergotherapeutin in einer Handwerksgruppe systematisch eine Beobachtung anhand der 13 Fähigkeitsdimensionen durchführt. Hier kann sie beurteilen, wie die Klienten in der Gruppe kooperieren, ihre Arbeitspläne erstellen oder sich flexibel auf Veränderungen einstellen.

Fähigkeitsbeurteilungen sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich, da sie kontextabhängig sind. Unter der Fähigkeit „nähen können“ versteht man beispielsweise je nach Kultur oder Lebenssituation vielerlei. Dies gilt genauso, wenn beurteilt werden soll, ob jemand „gut“ nähen kann. Es besteht ein unterschiedliches Anforderungsausmaß an die Anpassungsfähigkeit und Durchhaltefähigkeit, je nachdem, ob ein kreatives Kleidungsstück als Freizeitaktivität genäht werden soll oder ob Nähen in einer Firma im Akkord mit strikten Vorgaben hinsichtlich Muster und Material erfolgt.


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Den Kontext berücksichtigen

Das Beurteilen der Einschränkung erfolgt unter Berücksichtigung des Kontextes. Zum Beispiel:

  • Arbeitsplatz: Beurteilen der Arbeitsfähigkeit

  • Berufsfeld: Analyse im Rahmen von Arbeitslosigkeit, beruflicher Rehabilitation/Wiedereingliederung beziehungsweise Beurteilen der Berufsfähigkeit

  • Hotel als Metapher für das Einschätzen der Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt: An welcher Position in einem Hotel könnte jemand arbeiten (bei gleichzeitigem Berücksichtigen von personenbezogenen Kontextfaktoren wie Alter, Konstitution, Ausbildung)?

  • Restaurantbesuch als Metapher für die Beurteilung der Fähigkeit zum selbstständigen Leben. Hierfür benötigt man alle 13 Fähigkeiten auf einem grundlegenden Niveau: unter anderem die Fähigkeiten, ein geeignetes Lokal zu finden, die An- und Abreise zu planen, eine Auswahl aus der Speisekarte zu treffen usw.

  • Ergotherapie oder Trainingswerkstatt: Testumgebung für standardisierte Beobachtung

  • Verlauf: Einschätzen krankheits- oder trainingsabhängiger Entwicklungen (was ist heute anders als letztes Jahr?)

Bei der Beobachtung und Beurteilung von Fähigkeiten sollte man stets den Kontext berücksichtigen.


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Beeinträchtigungsgrad bestimmen

Für das Beurteilen der Fähigkeit im Fremdrating wird die beobachtete und erfragte Beeinträchtigung in Abgleich gebracht mit den im Einzelfall tatsächlich bestehenden Anforderungen [1, 7]:

  • Ratingstufe 0: keine Beeinträchtigung. Es gibt keine Probleme, der Klient entspricht den Normerwartungen.

  • Ratingstufe 1: leicht ausgeprägte Beeinträchtigung. Der Betroffene selbst hat Probleme, die Anforderungen zu erfüllen. Es fällt aber nicht auf, und daher resultieren daraus keine wesentlichen negativen Konsequenzen.

  • Ratingstufe 2: mäßig ausgeprägte Beeinträchtigung. Es bestehen deutliche Probleme, die geforderten Aktivitäten auszuüben. Dies fällt auf und hat negative Folgen.

  • Ratingstufe 3: erheblich ausgeprägte Beeinträchtigung. Der Klient ist wesentlich in der Ausübung der geforderten Aktivitäten eingeschränkt. Er kann Rollenerwartungen in wesentlichen Teilen nicht gerecht werden und benötigt teilweise Unterstützung von Dritten.

  • Ratingstufe 4: voll ausgeprägte Beeinträchtigung. Der Klient ist nicht in der Lage, die geforderten Aktivitäten auszuüben. Er muss entpflichtet werden und die Aktivitäten müssen durch Dritte übernommen werden.


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Umfassend dokumentieren

Man sollte nicht nur die Ratingstufen (0–4) dokumentieren, sondern in einem Text beschreiben, was mit der Einschätzung des beobachteten Verhaltens genau gemeint ist. Man beschreibt zum Beispiel, worin die Anforderungen an die Fähigkeit bestehen. Dies ist der konkrete Kontext, auf den sich die Einschätzung bezieht, wie in einer Handwerksgruppe selbstständig eine Aufgabe entsprechend einer Vorgabe ausführen (Fähigkeitsdimension zur „Anpassung an Regeln und Routinen“). Mittels Verhaltensbeispielen kann man beschreiben, woran eine Beeinträchtigung festgemacht wird: „Der Klientin müssen gelegentlich die Abläufe der Arbeitsschritte nochmals gesondert erläutert werden. Sie kommt bei dieser selbstständig durchzuführenden Aufgabe nur mit Unterstützung voran.“


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Valides Instrument von Leitlinien empfohlen

Das Assessment Mini-ICF-APP ist international umfangreich validiert und hat eine hohe Beobachterübereinstimmung von r=0,7–0,9 [1, 4–6]. Sozialmedizinische Leitlinien empfehlen es als handhabbares, zuverlässiges und valides Instrument [2, 3].

Die Beurteilung der 13 psychischen Fähigkeiten hat sich in der klinischen Praxis bei psychischen Problemlagen bewährt. Das kann im verhaltensorientierten Bereich der Ergotherapie eine wertvolle Strukturierungshilfe für die Erstellung von Fähigkeitsbefunden sein. Auch für die Exploration und Beschreibung von Arbeitsanforderungen sind die Fähigkeitsdimensionen von Nutzen.


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Das Mini-ICF-APP kann man als Interview oder als Beobachtungsinstrument einsetzen.
Abb.: metamorworks/adobe.stock.com