ergopraxis 2019; 12(01): 16-22
DOI: 10.1055/a-0732-9065
Ergotherapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Gesundheit stärken und Teilhabe ermöglichen – Ergotherapie in Gesundheitsförderung und Gemeinwesenorientierung

Verena Weiler
,
Julia Müller

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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
04. Januar 2019 (online)

 

Verena Weiler unterstützte durch ihr Projekt „Inklusives Skifahren“ einen Jugendlichen mit Trisomie 21 dabei, eine sportliche Freizeitgestaltung zu finden. Im Nachhinein fragte sie sich, ob ihr Projekt der Gesundheitsförderung oder der gemeinwesenorientierten Ergotherapie zuzuordnen ist. Zusammen mit Julia Müller zeigt sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Ansätze auf.


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Verena Weiler Weiler, Ergotherapeutin BScOT, arbeitet als stellvertretende Einrichtungsleitung in einer Praxis und ermöglicht ihren meist ausgeschlossenen Klientinnen die Teilhabe am gesellschaftlichen und selbstbestimmten Leben im natürlichen Setting.

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Julia Müller Ergotherapeutin BScOT, arbeitet als fachliche Leitung in einer Praxis. Neben dieser Tätigkeit ist sie in die Initiierung und Durchführung gesundheits förderlicher, präventiver sowie gemeinwesenorientierter Projekte involviert. Verena Weiler und Julia Müller verfassten 2016 ihre Bachelorarbeit zum Thema „Ergotherapeuten im inklusiven Breitensport“ ( ERGOPRAXIS 9/16, S. 12).

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Zwei Ansätze können Grundlage eines inklusiven Projektes sein: Je nach Zielsetzung handelt es sich um Gesundheitsförderung oder Gemeinwesenorientierung.
Abb.: Marina Karkalicheva/adobe.stock.com (nachgestellte Situation)

Lernziele

  • Sie können die grundlegenden Prinzipien der Gesundheitsförderung und der Gemeinwesenorientierung benennen und unterscheiden.

  • Sie kennen ergotherapeutische Modelle und Frameworks, die den beiden Ansätzen zugrunde gelegt werden können.

  • Sie sind in der Lage, ein inklusives Projekt nach den genannten Kriterien zu analysieren und einem der Bereiche zuzuordnen.

Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung eine sportliche Freizeitgestaltung ermöglichen: Mit diesem Ziel vor Augen initiierte ich im Dezember 2014 das Projekt „Inklusives Skifahren“. Als Ergotherapeutin unterstützte ich dabei auch Alex, einen 15-jährigen Jungen mit Down-Syndrom.

Im Nachhinein fragte ich mich, ob das Projekt zur Gesundheitsförderung oder der Gemeinwesenorientierung gehörte. Julia Müller und mir fiel im Austausch mit Kollegen immer wieder auf, dass die Begrifflichkeiten „Gesundheitsförderung und Prävention“ und deren Sichtweisen mit der der gemeinwesenorientierten Ergotherapie oftmals ineinander übergingen oder synonym verwendet werden. Denn immer mehr Ergotherapeuten rufen inklusive Projekte ins Leben, wie Sportveranstaltungen für Menschen mit Behinderung oder barrierefreie Stadtfeste. Je nachdem, ob man ein gesundheitsförderliches oder ein gemeinwesenorientiertes Projekt anbietet, ergeben sich unterschiedliche Finanzierungsmöglichkeiten und ergotherapeutische Rollen.

Anhand des „Inklusiven Skifahrens“ stellen wir Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Gesundheitsförderung und der gemeinwesenorientierten Ergotherapie dar. Wir wollen mit diesem Beitrag einen konstruktiven und fachlichen Austausch anstoßen.


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Ziele der Gesundheitsförderung

Die Grundlage der Gesundheitsförderung ist die Theorie der Salutogenese. Damit nimmt sie eine auf Ressourcen gerichtete Perspektive ein und stellt den Prozess der Entstehung, Erhaltung und Förderung von Gesundheit ins Zentrum [1]. Der Einzelne soll die Kontrolle über die eigene Gesundheit erlangen. Gesundheit bedeutet in diesem Zusammenhang nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen, sondern die Fähigkeit, soziale, physische und emotionale Herausforderungen zu meistern und selbst zu beeinflussen [2], [3].

Die Gesundheitsförderung orientiert sich an zwei Dingen: zum einen an den Einflussfaktoren der Gesundheit, den sogenannten Gesundheitsdeterminanten wie eine qualitativ hochwertige Bildung [4]. Zum anderen orientiert sie sich an den vorhandenen Ressourcen, zum Beispiel soziale Ressourcen wie unterstützende Eltern.

Durch eine gesundheitsförderliche Lebensweise sowie die Einflussnahme auf die Lebenswelten sollen die Bedingungen der Gesundheit beeinflusst werden [1]. Dies findet im Rahmen des Setting-Ansatzes und damit in der Lebenswelt des Klienten statt, wie am Arbeitsplatz oder im Sportverein.

Die Ziele und Prinzipien der Gesundheitsförderung wurden 1986 in der Ottawa-Charta veröffentlicht und werden stetig weiterentwickelt [2]. In der Fassung von 2012 lautet eines der Ziele „Verbesserung der Gesundheit für alle und Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheiten“ [5].


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Anliegen der Gemeinwesenorientierung

Das Ziel der Gemeinwesenorientierung ist die nachhaltige Verbesserung der Lebenssituation verschiedener Menschengruppen und der materiellen Situation in Stadtteilen. Hierbei erreicht man Teilhabe am ökonomischen, politischen, sozialen sowie kulturellen Leben durch Selbstorganisation und Selbsthilfekräfte (kollektives Empowerment) [6]. Das Handeln wird auf aktuellen sozialen und im Gesundheitswesen auftretenden Herausforderungen (zum Beispiel demografischer Wandel, soziale Ungleichheit) aufgebaut. Es besteht somit aus den Betätigungs- und Teilnahmebedürfnissen einer Community, um gesundheitliche Chancengleichheit sicherzustellen [7].


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Gemeinsame Zielsetzungen

Die Verbesserung der Gesundheit ist nicht nur ein Ziel der Gesundheitsförderung, sondern auch ein mögliches Anliegen der gemeinwesenorientierten Ergotherapie. Da soziale Teilhabe ein wesentlicher Faktor für Gesundheit ist, wirken gemeinwesenorientierte Projekte auch auf gesundheitlicher Ebene. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung erwähnt die Gemeinwesenorientierung als eine Perspektive der Gesundheitsförderung [2]. Denn Gemeinwesenorientierung geht davon aus, dass in der örtlichen Umgebung eines Menschen sowohl seine wesentlichen Belastungsfaktoren als auch die wichtigsten Unterstützungsmöglichkeiten zu finden sind [8]. Diese Annahme korreliert mit dem Setting-Ansatz der Gesundheitsförderung: In der Lebenswelt werden die Bedingungen erfasst, unter denen Menschen spielen, lernen, arbeiten und wohnen. Sie nehmen wesentlichen Einfluss auf ein gesundes Leben [9]. Auch der DVE-Projektgruppe „Gemeinwesenorientierte Ergotherapie“ zufolge versteht sich die gemeinwesenorientierte Ergotherapie als Beitrag zur Gesundheitsförderung, da zentrale Grundüberzeugungen und Ansätze übereinstimmen. Dabei sind die Anliegen der Inklusion und Teilhabe ebenso bedeutsam [10].

Gemeinwesenorientierung ist eine Perspektive der Gesundheitsförderung.


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Für jeden Ansatz die passende Theorie

Mithilfe von Frameworks und Modellen lassen sich Gesundheitsförderung und gemeinwesenorientierte Ergotherapie beleuchten: Sie regen dazu an, über das Betätigungsverhalten, dessen Entstehung, die Ausführung und die Schwierigkeiten zu reflektieren, und setzen individuelle Schwerpunkte [11]. So liegt der Fokus bei den von uns gewählten Modellen in der Gesundheitsförderung darauf, welche Wirkung Betätigung und Kontextfaktoren auf die Gesundheit haben. In der gemeinwesenorientierten Ergotherapie richtet sich der Blick auf die soziale Teilhabe als Ergebnis.


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Framework für die Gesundheitsförderung

In der Gesundheitsförderung besteht die Annahme, dass Betätigung eng mit Wohlbefinden und Gesundheit verbunden ist. Dabei möchte man erreichen, dass Einzelpersonen und Gruppen an für sie bedeutsamen Betätigungen teilnehmen können. Außerdem ist es das Ziel, ihnen Betätigung zu erleichtern oder sie dabei zu unterstützen, neue Betätigungsmöglichkeiten für sich zu finden und zu entwickeln [12].

Das Do-Live-Well-Framework (ERGOPRAXIS 11-12/18, S. 28) zeigt, welchen Einfluss alltägliche Betätigungen auf Gesundheit und Wohlbefinden haben [13]. Kanadische Ergotherapeuten entwickelten es, um Individuen, Gruppen und Community jeden Alters Möglichkeiten des guten Lebens und eine Auswahl an positiven Aktivitäten aufzuzeigen, um gesund zu leben.


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Framework für die Gemeinwesenorientierung

Als theoretische Basis in der Gemeinwesenorientierung dient beispielhaft das Framework of Occupational Justice [14]. Gemeinwesenorientierte Ergotherapie geht davon aus, dass Betätigungsprobleme aus Sicht der Betätigungsgerechtigkeit zu betrachten sind [15]. So soll jeder Mensch das Recht haben, die Betätigungen auszuführen, die in seinem Fähigkeitsbereich liegen und die ihm wichtig sind. Das Framework zeigt auf, welche Faktoren Betätigungsgerechtigkeit oder -ungerechtigkeit (Occupational Justice/Injustice) beeinflussen (ERGOPRAXIS 2/18, S.10).


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Finanzierung und Gesetzesgrundlagen

Das 2015 in Kraft getretene Präventionsgesetz regelt die Zusammenarbeit von Sozialversicherungsträgern, Ländern und Kommunen sowie die Finanzierung gesundheitsförderlicher Angebote [2]. Möchte man ein gesundheitsförderliches Projekt anbieten, gibt es verschiedene Möglichkeiten für finanzielle Unterstützung: staatliche Institutionen (zum Beispiel die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung), öffentlich-rechtliche Körperschaften (wie Krankenkassen), freie Träger (zum Beispiel der Olympische Sportbund) oder private Träger (Betriebe) [16]. Die Art der Finanzierung ist immer davon abhängig, in welchem Bereich das Projekt später stattfinden soll.

Beide Bereiche haben die Betätigung als Mittel und Zweck gemeinsam.

Die Finanzierung der gemeinwesenorientierten Ergotherapie gestaltet sich aufgrund fehlender gesetzlicher Grundlagen individuell. Plant man ein Projekt mit gesundheitsförderlichen Schwerpunkt, kann man es auch dem Präventionsgesetz und seinen Finanzierungsmöglichkeiten zuordnen. Weitere Möglichkeiten bestehen zum Beispiel durch Förderungsprogramme wie „Soziale Stadt“ [10]. Dabei handelt es sich um ein Städtebauförderungsprogramm des Bundes.


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Das Projekt „Inklusives Skifahren“

Wie zu Beginn beschrieben, betreute ich in einem inklusiven Projekt unter anderem den 15-jährigen Alex, ein lebensbejahender Junge mit Trisomie 21. Ihm blieb lange Zeit die Möglichkeit verwehrt, sich seinen Interessen entsprechend zu betätigen beziehungsweise dem Anliegen der Eltern nach mehr Bewegung nachzugehen. Die Teilhabe am sozialen Leben außerhalb der Förderschule war ihm lange nicht möglich. Alex‘ Eltern gaben den Anstoß zum Projekt, da sie sich für ihren Sohn ein sportliches Hobby mit Gleichaltrigen wünschten. Da ich zuvor schon als Skilehrerin bei einem Verein angestellt war, kam mir die Idee eines Wintersportprojektes: Im Rahmen von „Inklusives Skifahren“ wollte ich Kindern und Jugendlichen mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung das Skifahren ermöglichen. Darüber hinaus sollten sie dadurch Gesundheit und soziales Wohlbefinden erlangen. Während des Projektes handelte ich sowohl nach den Prinzipien der Gesundheitsförderung als auch der gemeinwesenorientierten Ergotherapie.


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Ergotherapeutische Modelle als Grundlage

Die gesundheitsförderliche Zielsetzung bestand für Alex darin, den Prognosen bezüglich seiner Gesundheit wie Herzerkrankungen entgegenzuwirken und sie zu verbessern beziehungsweise zu erhalten. Innerhalb der Lebenswelten kann sich ein inklusives und gesundheitsförderliches Angebot positiv auf die gesundheitlichen Bedingungen auswirken, da Möglichkeiten für soziale Kontakte und Bewegung geschaffen werden ([ABB. 2], S. 18). Durch das Projekt beeinflussten wir seine mangelnde Bewegung [16].

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ABB. 2 Die vier Teile des Do-Live-Well-Frameworks stehen miteinander in Verbindung und beschreiben, was zur Betrachtung von Gesundheit und Wohlbefinden im Alltag gehört.

Aus Sicht der gemeinwesenorientierten Ergotherapie war das Ziel des Projektes, Kindern und Jugendlichen mit einer geistigen und/oder körperlichen Behinderung die jährliche Teilnahme am inklusiven Wintersportangebot zu ermöglichen.

Das Framework of Occupational Justice ([ABB. 3], s. 19) zeigt, dass Jugendliche mit geistiger Behinderung Betätigungseinschränkungen erleben. Sie nehmen seltener an Freizeitsportarten teil, was den fehlenden und/oder nicht an den Bedürfnissen von Jugendlichen mit geistiger Behinderung angepassten Angeboten zuzuschreiben ist [18]. Auch Schwächen von persönlichen und individuellen Faktoren haben Einfluss auf die Betätigungsausführung. Dieser Betätigungsungerechtigkeit kann man mithilfe von Kontextfaktoren entgegenwirken. So nutzten wir meine ergotherapeutischen Kenntnisse, die Offenheit der Skischule und die Unterstützung der Eltern, um ein angepasstes inklusives Wintersportangebot anzubieten.

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ABB. 3 Das Framework of Occupational Justice zeigt mit strukturellen Faktoren und Kontextfaktoren auf, wie sich Occupational Injustice (Betätigungsungerechtigkeit) auswirkt.

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Ergotherapeutische Vorgehensweise im Projekt

Kernelement der Ergotherapie ist die Betätigung. In der Gesundheitsförderung und der gemeinwesenorientierten Ergotherapie ist sie ebenfalls Mittel und Zweck [19], [20]. Daher nutzte ich im Projekt die Enablement Skills aus dem Canadian Model of Client-Centered Enablement (CMCE) – allerdings auf unterschiedliche Art und Weise [21].

Beim gesundheitsförderlichen Vorgehen kann man sich am Projektmanagement-Tool „quint-essenz“ orientieren (www.quint-essenz.ch) [22]. Es bietet Qualitätskriterien für eine systematische Reflexion sowie praxisgerechte Instrumente für die Planung, Durchführung und Evaluation von Projekten und Programmen.

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ABB. 4 Das gemeinsame Skifahren ermöglichte es den Jugendlichen, soziale Teilhabe zu erfahren.
Abb.: diego cervo/adobe.stock.com (nachgestellte Situation)

Mithilfe des Occupation-Based Community Development Framework kann man ein standardisiertes Vorgehen für ein gemeinwesenorientiertes Projekt umsetzen. Es wurde für die Ergotherapie entwickelt, um durch Empowerment und Gruppenprozesse Betätigungsgerechtigkeit zu erlangen [19].

Beide Ansätze können zu Beginn einer Intervention dazu verhelfen, ein Verständnis für die Zielgruppe und den Kontext zu erlangen. Hierfür dienen fachliche Hintergründe sowie die ergotherapeutischen Modelle und Frameworks, Praxiserfahrungen und die der Zielgruppe als Fundament. Dies ermöglicht gleichermaßen einen Beziehungsaufbau mit der Zielgruppe, in diesem Fall Alex und seinen Eltern, sowie der Wanderskischule, den Skiliftbetreibern, Hüttenwirten, dem Skiverband usw. Ich koordinierte hierbei den Rahmen für gemeinsame Reflexion und einen ständigen Dialog zwischen allen Beteiligten [22]. Ich nahm aus Sicht der beiden Bereiche vorerst dieselbe aktive Rolle als Initiatorin eines inklusiven Projektes ein.


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Die ergotherapeutische Rolle

Als Ergotherapeutin zeigte ich mögliche Umsetzungen sowie Stärken und Ressourcen aller Beteiligten auf und nutzte so meine Kernkompetenz „Fürsprechen“. Ich achtete verstärkt darauf, Möglichkeiten zu schaffen, dass Alex und seine Eltern ihre Perspektiven, Wünsche und Entscheidungen im gesamten Prozess äußern können [11]. Somit übernahm ich in der gemeinwesenorientierten Ergotherapie wie auch in der Gesundheitsförderung die Koordination. Das Zusammenarbeiten erfolgte verstärkt durch alle Beteiligten. Ziel war es in der Gemeinwesenorientierung, dass sich durch Aktivierung und Einbeziehung aller in allen Phasen das Projekt später selbst tragen kann und jeder Beteiligte Befähigung erfährt. So nahm die Skischulleitung zum Beispiel Kontakt zum Busunternehmen oder den Hüttenwirten auf und besprach mit diesen die allgemeinen Abläufe des Mittagessens, der Abholstationen etc. Ich beteiligte Alex und seine Eltern, indem ich sie dazu anregte, mit den Skilehrern in Kontakt zu treten und über deren Unsicherheiten, Stärken und Wünsche zu sprechen. Nachdem ich mir ein umfassendes Gesamtbild mit den entsprechenden Ressourcen gemacht hatte, ging es in die Projektplanung, Ziele und Strategien wurden erstellt.


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Zielsetzung im Projekt

Stellt man die Ziele der Gesundheitsförderung und der gemeinwesenorientierten Ergotherapie hinsichtlich des Projektes einander gegenüber, fällt auf, dass das Hauptziel der gemeinwesenorientierten Ergotherapie das Schaffen eines inklusiven Wintersportangebotes war ([TAB.]). Die Gesundheitsförderung bezieht jedoch zusätzlich die Stärkung der individuellen gesundheitsförderlichen Lebensweise durch individuelle Stärkung der Handlungsfähigkeit ein [24]. Somit setzte ich bei der Durchführung des Projektes die Kernkompetenzen Adaptieren, Entwerfen/Konstruieren, aber auch Spezialisieren ein: Ich adaptierte unter anderem die Zusammensetzung der Gruppen und passte die Skiausrüstung individuell an die Bedürfnisse der Kursteilnehmer an. Dies geschah durch Verdickungen der Skistockgriffe oder durch Verlängerungen der Skischulschnallen, um diese leichter schließen zu können.

TAB.

Vergleich der Ziele der Gesundheitsförderung und der gemeinwesenorientierten Ergotherapie im Projekt „Inklusives Skifahren“

Gesundheitsförderung

Gemeinwesenorientierte Ergotherapie

  • Engagement in körperlicher, für Alex bedeutungsvoller Freizeitbeschäftigung zur Aktivierung, um somit die Balance zwischen Freizeit, Arbeit und Selbstversorgung herzustellen

  • Jugendliche mit geistiger Behinderung nehmen an einer Freizeitaktivität teil.

  • Skifahren in einer Peer Group, um mit anderen in Verbindung zu treten

  • Das Angebot orientiert sich an den Interessen und Bedürfnissen der Zielgruppe.

  • Fähigkeiten und Potenzial entwickeln, um Vergnügen und Freude an der Betätigung zu erreichen

  • Ein inklusives Wintersportangebot wird geschaffen.

 

  • Die Skilehrer werden für die Bedarfe und Ressourcen von Jugendlichen mit geistiger Behinderung sensibilisiert.

In der Gesundheitsförderung zeigt sich neben theoretischen Aspekten und Erläuterungen der Maßnahmen und Lebensweisen (Ernährung, Balance zwischen Anstrengung und Pausen etc.) anhand des Skifahrens, wie sich Sport positiv auf die Körperfunktionsebene auswirkt. Hierbei nahm ich für den Projektzeitraum zusätzlich die Rolle der Skilehrerin ein. In der Rolle der gemeinwesenorientierten Ergotherapeutin stellte ich die notwendigen Anpassungen beim Skifahren durch die Beratung des Skilehrers sicher. Zusätzlich coachte ich alle Beteiligten in Bezug auf gemeinschaftliche Aktivitäten, wie zum Beispiel Einbezug der Zielgruppe in das Kursgeschehen und die Teilnahme an Mahlzeiten. Unter dem gesundheitsförderlichen Aspekt nutzte ich die Ressource der schon bestehenden Kooperation zwischen Skischule und Hüttenwirten, um diese über die Auswahl der Mahlzeiten und die Bereitstellung von Ruheplätzen zu beraten.

Aus Sicht der gemeinwesenorientierten Ergotherapie war mit der Erarbeitung der individuellen Anpassungen für die Zielgruppe die Hauptarbeit für mich als Ergotherapeutin beendet. Das Ziel, ein inklusives Wintersportangebot zu gestalten, war erreicht. Im gesundheitsförderlichem Rahmen bestand die Zusammenarbeit mit mir für den gesamten Projektzeitraum, in diesem Fall für 3 Jahre. Zum Schluss eruierte ich die Erfahrungen und Auswirkungen der Interventionen auf Grundlage der erstellten Dokumentation und Reflexion. Hierdurch kann beispielsweise der weitere Bedarf oder die Effektivität des Vorgehens ermittelt werden [24].

In der Praxis gehen beide Bereiche fließend ineinander über.


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Finanzierung des Projektes

Die Finanzierung des Projektes wurde durch verschiedene Standbeine sichergestellt. Alex‘ Eltern meldeten mich als ehrenamtliche Betreuerin bei einem Verein für Menschen mit Behinderung innerhalb des Wohnortes an. Dadurch erhielt ich eine Aufwandsentschädigung, welche die Eltern finanziell entlastete. Ansonsten bezahlten sie die normalen Skischulgebühren, die für alle Skischüler gelten. Von der Skischule bekam ich den normalen Tagessatz als Gehalt.


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Fließender Übergang

Das Projekt „Inklusives Skifahren“ ist abgeschlossen, da Alex und auch andere Kinder mittlerweile alleine Ski fahren können. Die intensive Analyse hat gezeigt, dass Gesundheitsförderung und Gemeinwesenorientierung in der Praxis nahtlos ineinander übergehen. Zu Beginn des Projektes fanden überwiegend die Grundsätze der gemeinwesenorientierten Ergotherapie Anwendung, da der Hauptaspekt die Teilhabe war. Im Verlauf wurden die Auswirkungen des Skifahrens auf die Gesundheit zunehmend deutlich, weshalb auch der gesundheitsfördernde Aspekt zunahm.

Zur Gesundheitsförderung gibt es im Vergleich zur Gemeinwesenorientierung mehr Leitfäden und gesetzliche Vorgaben. Die Gemeinwesenorientierung hat noch wenig Struktur, da staatliche Vorgaben und Aufgaben nicht klar beschrieben sind. Somit ist es schwieriger, hierfür Fördermittel zu erhalten.

Die präzise Trennung der Bereiche ist nach wie vor ein komplexes Thema. Es gibt in Deutschland immer mehr Modelle für beide Bereiche, die jedoch praktisch noch nicht ausreichend erprobt und ausgereift sind. Die Ergotherapie entspricht im Sinne des aktuellen Paradigmas den Grundsätzen beider Bereiche, denn Betätigung hat Auswirkung auf die Gesundheit, wie von Wilcock beschrieben [25], und Handlungsfähigkeit kann Teilhabe ermöglichen.


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Zwei Ansätze können Grundlage eines inklusiven Projektes sein: Je nach Zielsetzung handelt es sich um Gesundheitsförderung oder Gemeinwesenorientierung.
Abb.: Marina Karkalicheva/adobe.stock.com (nachgestellte Situation)
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ABB. 2 Die vier Teile des Do-Live-Well-Frameworks stehen miteinander in Verbindung und beschreiben, was zur Betrachtung von Gesundheit und Wohlbefinden im Alltag gehört.
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ABB. 3 Das Framework of Occupational Justice zeigt mit strukturellen Faktoren und Kontextfaktoren auf, wie sich Occupational Injustice (Betätigungsungerechtigkeit) auswirkt.
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ABB. 4 Das gemeinsame Skifahren ermöglichte es den Jugendlichen, soziale Teilhabe zu erfahren.
Abb.: diego cervo/adobe.stock.com (nachgestellte Situation)