Schlüsselwörter
Flüchtlinge - PTBS - narrative Expositionstherapie - stationäre Regelversorgung -
psychosoziale Integration
Keywords
refugees - PTSD - narrative exposure therapy - inpatient standard care - psychosocial
care
Einleitung
Der geschätzte Anteil von Geflüchteten mit behandlungsbedürftigen psychischen Beschwerden
in Deutschland beträgt 50 % [1]. Die PTBS-Rate ist im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um das Zehnfache erhöht
[2]. Das bisherige Therapieangebot an spezialisierten Einrichtungen ist dafür bei Weitem
nicht ausreichend [3]
[4]
[5].
Fallbericht
Aufnahmeanlass/Diagnostik
Wir berichten über einen 42-jährigen Mann aus Nigeria, uns aus der Institutsambulanz
zugewiesen bei ausbleibender Besserung unter ambulanter Behandlung mit supportiven
Gesprächen, Antidepressiva und Neuroleptika. Auslöser der akuten Krise war die Ermordung
seines Sohnes. In Nigeria war er Folteropfer, Zeuge von Morden und verlor Verwandte
durch gewaltsamen Tod. In Deutschland arbeitete er bei einem privaten Bauunternehmer,
wurde aber nach der psychischen Destabilisierung gekündigt. Die restliche Familie
war in Nigeria. Seine sozialen Kompetenzen waren durch die Symptomatik eingeschränkt,
sodass er bei Aufnahme zurückgezogen und ausgegrenzt im Flüchtlingsheim lebte. Seine
Flüchtlingshelferin war allerdings sehr unterstützend.
Der Patient zeigte schwerste posttraumatische und dissoziative Symptome, Halluzinationen
und Bedrohungserleben sowie Selbstvorwürfe und Trauergefühle. Zudem klagte er zunehmend
über somatische Symptome. Psychodiagnostisch lagen eine PTBS mit dissoziativen Symptomen
und eine schwere depressive Episode vor.
Folgende psychologische Tests wurden eingesetzt: die PTBS Checkliste für DSM-5 (PCL-5)
[6], der Fragebogen zu dissoziativen Symptomen (FDS) [7] und die Symptom-Checkliste (SCL-90-R) [8]. Trotz deutlichen Rückgangs von der Aufnahme bis zur Entlassung (PCL-5-Summenwert
76 auf 51, FDS Gesamtwert 57,5 auf 13,2 und SCL-90-R-GSI-Wert 2,87 auf 1,11) blieb
die Symptomausprägung klinisch relevant.
Therapeutischer Verlauf
Entscheidend für die Krisenintervention zu Beginn waren die Herausnahme aus dem Alltag,
Einzelgespräche sowie die psychopharmakologische Behandlung der Schlafstörungen, Unruhezustände
und des psychotischen Erlebens. Nach Psychoedukation konnte der Patient annehmen,
dass die Sinnestäuschungen Flashbacks waren.
Die anschließend geplante traumafokussierte Behandlung in einer Universitätsambulanz
wurde aufgrund mangelnder Kapazitäten abgesagt. Wir vereinbarten daher die stationäre
Durchführung einer solchen Therapie vor dem Hintergrund der rezidivierenden suizidalen
Krisen und des dauerhaften Arousals, was die psychosoziale Versorgungsplanung nahezu
unmöglich machte.
Die geplante NET zielte v. a. auf die Habituation zu den traumabezogenen Reizen sowie
die Integration der Erinnerungen in das autobiografische Gedächtnis [9]. Neben klassischen Elementen wie In-sensu-Exposition und kognitiver Umstrukturierung,
enthält die NET auch einige Besonderheiten. Ursprünglich als Kurzintervention für
Krisengebiete entwickelt, ist ihre kulturübergreifende Effektivität inzwischen gut
belegt. Schwersttraumatische Szenen werden auf allen Ebenen wiedererfahren, positive
Erlebnisse dazwischen aktivieren Ressourcen. Zur Ermöglichung der Gedächtnisintegration
durch eine raum-zeitliche Rückbindung erfolgt die Verarbeitung der traumatischen Szenen
im Kontext der kompletten Lebensgeschichte, in chronologischer Reihenfolge. Durch
ein Seil und Steine, Blumen, Kerzen und Stöcke wird in der ersten Sitzung eine Lebenslinie
mit bedeutsamen Lebensereignissen abgebildet. Während der Exposition platziert sich
der Patient in der sicheren Gegenwart, die eine Distanz zum „Damals“ sowie die Benennung
der Geschehnisse ermöglicht. Ein Narrativ wird schriftlich erstellt und bei jeder
Sitzung erneut durchlebt und weitergeführt. Dies kann zur Menschenrechtsarbeit verwendet
werden.
Die insgesamt 10 NET-Sitzungen wurden vorwiegend wöchentlich von einer Psychologischen
Psychotherapeutin mit vertiefter Ausbildung in Psychotraumatologie durchgeführt. Aus
kostenökonomischen Gründen wurden nur die schwersten Traumata mit jeweils maximal
2 In-sensu-Expositionen verarbeitet. Die Behandlung erfolgte auf Englisch, die guten
Sprachfertigkeiten des Patienten erübrigten den Einsatz eines Dolmetschers. Der Dialekt
und kulturelle Hintergrund erforderten allerdings den Einsatz von Bildern und bildhafter
Sprache um Vergleiche heranzuziehen und traumatische Szenen genauer nachzustellen.
Dies entspricht der NET-Arbeitsweise und ermöglicht eine intensivere Exposition. Bei
seiner Lebenslinie überwogen die Traumata deutlich, der Patient arbeitete strukturiert
und konnte größtenteils eine „Vogelperspektive“ einhalten.
Durch die Bearbeitung der positiven und mäßig belastenden Kindheitserinnerungen zu
Beginn der NET erlernte der Patient das Prozedere. Aufgrund der emotionalen Belastung
konnte er sich manchmal nur mithilfe von Bedarfsmedikation oder Skills, etwa Aromatherapie,
wieder regulieren. Während der Exposition mit Ereignissen, bei denen er Zeuge von
Ermordungen war oder gefoltert wurde, war ein erhöhter Einsatz von antidissoziativen
Interventionen notwendig [10].
Hinsichtlich des Todes seines Sohnes entstand zunächst eine Trauerblockade mit Schuldgefühlen
und Akzeptanzproblemen des Verlusts. Es kam zum stärksten Wiederanstieg von Schlafstörungen
und Unruhezuständen. Wut und aggressive Ausbrüche gegen Mitpatienten erforderten die
pflegerische und therapeutische Intervention. Laut der NET entstehen solche Emotionen
sekundär durch die Traumaverarbeitung. Sie werden Teil des „Furchtnetzwerks“ und provozieren
somit traumatische Erinnerungen und flucht- und kampfartige Reaktionen [9]. Während der Gedächtnisaktivierung sieht die NET deshalb auch kognitive Interventionen
vor. Dadurch erkannte der Patient, dass er die Geschehnisse nicht beeinflussen hätte
können und eher die Täter Schuld oder Scham empfinden sollten. Die vertrauensvolle
therapeutische Beziehung im Sinne von NET ermöglichte dem Patienten korrigierende
Erfahrungen diesbezüglich. Nach Psychoedukation über Trauerreaktionen und Umgang mit
Trauer wurde der Patient unterstützt den Verlust zu akzeptieren und seinen Abschied
individuell zu gestalten.
Nachdem eine leichte Stimmungsaufhellung auftrat, erfolgte die Einteilung in eine
körperlich nicht anspruchsvolle Arbeitstherapie, die weitestgehend durchgehalten wurde.
Die stabilen Phasen wurden länger. Dies spiegelte sich auch in den psychologischen
Tests wider. Die Entlassung wurde mit Beurlaubungen zur Außenorientierung vorbereitet.
Die weitere Behandlung erfolgt nun durch die PIA und ambulante Ergotherapie.
Bisher kam es zu keiner stationären Wiederaufnahme. Der Patient nahm regelmäßig an
Behandlungsangeboten im Rahmen der PIA teil. Es kam zu einer weiteren Besserung des
Symptom- und Leistungsbilds, sodass er in naher Zukunft eine Stelle auf dem ersten
Arbeitsmarkt anstrebt.
Diskussion
Der Überlebenskampf trotz schwerster Traumatisierung sowie das erreichte Funktionsniveau
in Deutschland deuteten auf psychische Ressourcen des Patienten hin und verbesserten
die Prognose bei störungsspezifischer Psychotherapie. Die Symptomzunahme nach der
Ermordung des Sohnes machte die stationäre Vorstellung erforderlich. Dies entspricht
dem Modell des kumulativen Effekts der Traumata auf die Symptome [11].
Diagnostisch interpretierten wir die kognitiven Einschränkungen und die psychotischen
Symptome als dissoziative Psychopathologie. Die soziale Situation kam erschwerend
hinzu. Neben Entlastung und Schutz ermöglichte das stationäre Setting eine genauere
Einschätzung sowie eine unterstützende Psychopharmakotherapie. Dysfunktionale Verhaltensweisen
konnten dadurch auch zeitnah festgestellt und bearbeitet werden. Ebenso waren kurzfristige
Interventionen zur Emotionsregulation möglich. Das multiprofessionelle Setting ermöglichte
auch die adäquate Durchführung somatischer Untersuchungen und Behandlungen in anderen
Facheinrichtungen. Dies war bei Wechselwirkung somatischer und psychischer Symptome
dringend indiziert.
Es gibt bisher keine wissenschaftlich zuverlässige Erfassung der psychotherapeutischen/psychiatrischen
Versorgung von Flüchtlingen in Deutschland [12]. Bemühungen beim Ausbau der Angebote in der Regelversorgung gepaart mit Spezialzentren
für die Behandlung traumatisierter Flüchtlinge machen sich zwar bemerkbar [12]
[13]. Es bedarf aber eines weiteren Ausbaus der psychodiagnostischen, psychotherapeutischen
und interkulturellen Infrastruktur sowie auch Dolmetsch-, Finanzierungs- und Vernetzungsstrategien
[12]
[13]. Der Verlauf zeigt, dass durch die NET die weitere psychosoziale Versorgungsplanung
erst möglich wurde. Das bisher ausreichende ambulante Setting nach Entlassung werten
wir angesichts der rezidivierenden Krisen im Vorfeld der NET als Zeichen für eine
anhaltende Stabilisierung. Dies ist aus unserer Sicht ermutigend für die weitere Anpassung
der Regelversorgung an die Bedürfnisse dieser Klientel. Vor allem der Ausbau von Kompetenzen
für kulturübergreifende, traumafokussierte Kurzzeitinterventionen in der Regelversorgung
könnte inadäquate Interventionen und Wartezeiten vermeiden und somit auch Chronifizierung
vorbeugen und Ressourcen schonen.
-
Die Durchführung einer NET bei Flüchtlingen ist im Rahmen der stationären Regelversorgung
möglich.
-
Bei erheblicher Symptombelastung und fehlendem „sicheren Raum“ kann das stationäre
Setting sogar als Voraussetzung für die Durchführung der NET gesehen werden.
-
Der Rückgang der Symptombelastung durch eine traumafokussierte Behandlung ist eine
Voraussetzung für eine weitere psychosoziale Versorgungsplanung und gelingende Integration.