Zeitschrift für Klassische Homöopathie 2018; 62(03)
DOI: 10.1055/a-0665-3418
Leserbrief
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Publication Date:
18 September 2018 (online)

Es ist Herrn N. Winter sehr zu danken für diese ausgezeichnete Artikelserie, die sich lohnt, jetzt, wo sie vollständig publiziert ist (ZKH 2/17 – 2/18), noch einmal im Ganzen zu lesen. Sie ist doppelt bedeutsam im Sinne des Dialogs nach innen mit den verschiedenen homöopathischen Strömungen und nach außen in der Kommunika„tion mit der Schulmedizin. Es geht um eine möglichst vollständige Beschreibung der Wirklichkeit, und jeder Pol (Kausalität, Reproduzierbarkeit der Ergebnisse einerseits – Akausalität, Ähnlichkeit, inkonstante Zusammenhänge durch Kontingenz andererseits) allein wird der Komplexität des Lebendigen nicht gerecht. Auch innerhalb der Homöopathie zeigen sich im Lauf der Geschichte diese beiden Pole: Es gibt Strömungen, die mehr der rationalen Wissenschaft entsprechen, die das Reproduzierbare betonen, und andere, die die Ähnlichkeit mehr aus dem Intuitiven schöpfen. Da muss ich mich selber auch an der Nase nehmen, wenn N. Winter mehr gegenseitigen Respekt vor den Erfahrungen der Anderen einfordert. Jede Richtung versucht, die andere abzuwerten („das ist der Tod der Homöopathie!“). „Und es scheint für unsere Profession auch eine Zeit gekommen zu sein, in der wir alle unsere Erfahrungen ernst nehmen müssen und nicht mehr scheinbar ‚irrationale‘ Aspekte ignorieren müssen“ (Winter, ZKH 1/18). Das Konzept der Komplementarität gilt sowohl für das Innere der Homöopathie als auch nach außen.

Für den Dialog mit dem Außen ist diese Artikelserie bedeutsam, wobei ich nicht den Dialog mit den Skeptikern meine, die in ein rigides Glaubenssystem verstrickt sind (siehe dazu Carstens Stiftung, Dr. Jens Behnke, Homöopathiekritik zwischen Wissenschafts-Dogmatismus und politischem Agendasetting), sondern den Dialog mit Wissenschaftlern, die sich ernsthaft bemühen, dem Wirkmechanismus, der dem Ähnlichkeitsprinzip oder der Hochpotenzwirkung zugrunde liegt, auf die Spur zu kommen.

Zur Rolle des Homöopathen als Heiler, als Heilerin, meint Winter (ZKH 2/18): „Kein Neutral-Werden, sondern ein Leer-Werden, um im tiefsten Inneren mit den Schwingungen des Gegenübers in Resonanz zu treten – vielleicht ist es das, was Hahnemann mit dem ‚vorurteilslosen Beobachter‘ in § 6 Organon anvisiert“. Diese Ansicht möchte ich unterstützen mit einem weiteren Zitat „Hahnemanns aus dem „Ärztlichen Beobachter“ (RAML Band 4):

„Um das an Kranken zu Beobachtende genau wahrzunehmen, muss man alle seine Gedanken darauf richten, sich gleichsam aus sich selbst setzen ... Diese Fähigkeit, genau zu beobachten, ist wohl nie ganz angeerbt; sie muss größtenteils durch Übung erlangt, durch Läuterung und Berichtigung der Sinne ... vervollkommnet ... werden.“

Ich denke, dass wir Hahnemanns „vorurteilslosen Beobachter“ missverstehen, weil wir heute vom Unbewussten wissen und von den Prozessen wie Übertragung, Gegenübertragung, Projektionen etc. Vorurteilslosigkeit ist nach modernem Verständnis nicht möglich. Aber wenn Winter vom Leer-Werden schreibt und Hahnemann vom Aus-sich-selbst-Setzen durch Läuterung der Sinne, dann ist damit eine Art des Einschwingens auf das Gegenüber in der Anamnese gemeint, ein In-Resonanz-Treten, das Arzneifindung und Heilung ermöglicht. Auch in diesem Punkt ist Hahnemann wieder einmal seiner Zeit voraus, und wir Heutigen können uns nur „keuchend hinterherbemühen“ (H. Fritsche).

Dr. Anton Rohrer, Großlobming, Österreich