Konsens der länderoffenen Arbeitsgruppe zu einem Leitbild für einen modernen Öffentlichen
Gesundheitsdienst
Der Öffentliche Gesundheitsdienst ist in den letzten Jahren immer mehr in die gesundheitspolitische
Diskussion zurückgekehrt. Anlass waren dabei zum einen Krisen, z. B. die EHEC-Krise
oder die Flüchtlingskrise, in deren Bewältigung der ÖGD eine wichtige Rolle gespielt
hat, zum anderen die zunehmenden Personalengpässe im ÖGD. In vielen Ländern können
beispielsweise Arztstellen im ÖGD nur noch schwer besetzt werden. Hinzu kommt, dass
der ÖGD auch bei der Umsetzung des Präventionsgesetzes unterstützend mitwirken soll.
Parallel dazu fand im ÖGD selbst eine Diskussion über die inhaltliche Grundorientierung
der Arbeit in den Gesundheitsämtern statt. Unstrittig ist, dass das Gesundheitsamt
als reine Vollzugsbehörde den Anforderungen schon lange nicht mehr gerecht wird. Der
ÖGD muss heute vielfältige Steuerungs- und Koordinationsaufgaben wahrnehmen, in Netzwerkstrukturen
arbeiten und bei alldem, was der tut, auf hohem fachlichen, wissenschaftlich geprägten
Niveau agieren.
Die Gesundheitsministerkonferenz hat dem bereits 2016 durch einen weitreichenden Beschluss
zur Stärkung des ÖGD Rechnung getragen. Ein Teilbeschluss hat die Entwicklung eines
modernen Leitbilds für den ÖGD angeregt. Ein solches Leitbild wurde zwischenzeitlich
durch eine länderübergreifende AG unter Beteiligung des BVÖGD erarbeitet. Die 91.
GMK am 20./21.6.2018 hat nun den vorgelegten Leitbildentwurf begrüßt und empfiehlt
„allen Akteuren des ÖGD, dieses Leitbild für die eigene Ausrichtung anzuwenden.“ (https://www.gmkonline.de/Beschluesse.html?id=730&jahr=).
Das Leitbild „Der Öffentliche Gesundheitsdienst – Public Health vor Ort“ ist darauf
ausgerichtet, für die Arbeit in den Gesundheitsämtern eine konsistente, moderne Grundorientierung
zu formulieren. Wichtige Aspekte dabei sind die Zusammenarbeit des ÖGD mit der Wissenschaft,
die Orientierung auf Chancengleichheit und Gemeinwohnorientierung sowie eine ethisch
verantwortliche Aufgabenerfüllung. Mit Blick auf die dazu notwendigen Qualifikationen
wird die Bedeutung des Zusammenspiels von ärztlichen, sozial- und gesundheitswissenschaftlichen
Qualifikationen im ÖGD betont. Im Folgenden dokumentieren wir dieses Leitbild als
redaktionellen Beitrag.
Ihre Schriftleitung
Der Öffentliche Gesundheitsdienst: Public Health vor Ort
Präambel
Der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) befindet sich in einem Wandel. Hoheitliche
Schutz- und Überwachungsaufgaben werden um steuernde, partizipative und gesundheitsfördernde
Tätigkeiten ergänzt. Dieses Leitbild will dabei insbesondere den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern in den Gesundheitsämtern Orientierung geben. Es sieht den ÖGD als
einen zentralen Akteur der öffentlichen Sorge um die Gesundheit aller (Public Health)
und schlägt eine Brücke zwischen Theorie und Praxis ebenso wie zwischen Gesundheitsschutz
und Gesundheitsförderung.
Der Öffentliche Gesundheitsdienst im modernen Sozialstaat
Der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) ist ein unverzichtbarer Teil eines modernen
Sozialstaats. Er gehört neben der ambulanten und stationären Versorgung zur Basis
des Gesundheitswesens. Der ÖGD nimmt im Rahmen der Daseinsvorsorge öffentliche Verantwortung
für die Gesundheit der Bevölkerung wahr, ist zivilgesellschaftlich orientiert und
arbeitet partnerschaftlich mit vielen Akteuren zusammen. Dies gilt für alle Ebenen
des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, von den Bundesbehörden über die Landesebene
bis hin zu den Gesundheitsämtern.
Leitorientierung im ÖGD
Mit dem Wandel der Gesellschaft insgesamt geht auch ein Wandel des Selbstverständnisses
und der Leitorientierung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes einher. Neben seinen
hoheitlichen Aufgaben muss er verstärkt modernen zivilgesellschaftlichen Erwartungen
und sozialen Herausforderungen gerecht werden und in seiner Arbeitsweise zugleich
auch dem wissenschaftlichen Anspruch an das Gesundheitswesen Rechnung tragen. Er strebt
daher eine stärkere Berücksichtigung von Evidenz in Steuerungsprozessen an. Der ÖGD
setzt sich für gesundheitliche Chancengleichheit ein. Dies prägt als Vision den ÖGD.
Er arbeitet daher
-
orientiert an prioritären Bedarfen der Bevölkerungsgesundheit,
-
ethisch reflektiert und in Respekt vor der Würde des einzelnen Menschen,
-
mit Blick auf gesundheitliche Chancengleichheit,
-
frei von kommerziellen Interessen,
-
auf aktueller wissenschaftlicher Basis,
-
bürgernah, vernetzt und partnerschaftlich mit vielen anderen Akteuren,
-
multiprofessionell und interdisziplinär,
-
ergebnisorientiert, verantwortlich und transparent.
Dabei bezieht sich der ÖGD konzeptionell auf Gesundheit als einen umfassenden körperlichen,
psychischen und sozialen Zustand des Wohlbefindens. Er berücksichtigt dabei die wichtige
Rolle einer gesundheitsförderlichen sozialen und ökologischen Lebenswelt.
Kernaufgaben des ÖGD
Der Öffentliche Gesundheitsdienst fördert und schützt die Gesundheit der Bevölkerung.
Er trägt in einem arbeitsteiligen Gesundheitswesen dazu bei, Public Health in die
Praxis umzusetzen. Die konkreten Aufgaben unterscheiden sich nach Maßgabe der jeweiligen
Ländergesetze. Gemeinsame verbindende Schwerpunkte sind:
-
Gesundheitsschutz (Hygiene, Infektionsschutz, einschließlich Impfen, umweltbezogener
Gesundheitsschutz, Medizinalaufsicht, Ausbruchs- und Krisenmanagement),
-
Beratung und Information, Begutachtung, Gesundheitsförderung und Prävention, niedrigschwellige
Angebote und aufsuchende Gesundheitshilfen, insbesondere bei Personen mit besonderen
Bedarfen (z. B. Kinder- und Jugendgesundheit, Mund- und Zahngesundheit, sozialmedizinische
Aufgaben, wie Schwangerenberatung, Sozialpsychiatrie, Suchtberatung),
-
Koordination, Kommunikation, Moderation, Anwaltschaft, Politikberatung, Qualitätssicherung
(Gesundheitsberichterstattung, Gesundheitsplanung, Gesundheitskonferenzen, Öffentlichkeitsarbeit
usw.).
Darüber hinaus werden in den einzelnen Ländern weitere Schwerpunktaufgaben durch den
ÖGD wahrgenommen, z. B. gesundheitlicher Verbraucherschutz, subsidiäre Versorgung
besonderer Zielgruppen oder Umweltmedizin.
Dabei sind die traditionellen Aufgaben des Gesundheitsschutzes sowie der Fürsorge
und die in den letzten Jahren verstärkt hinzu gekommenen planerischen und koordinativen
Aufgaben gleichermaßen bedeutsam. Vom ÖGD werden heute sowohl hoheitliche Funktionen
als auch das Gemeinwesen unterstützende und beratende Leistungen erwartet. Dies spiegelt
sich auch auf europäischer Ebene in den dort definierten sog. Essential Public Health
Operations (EPHOs) wider. Der ÖGD mit seinen multiprofessionellen Teams leistet einen
wichtigen Beitrag, das Prinzip von „health in all policies“ in die Gremien der jeweiligen
Handlungsebenen hineinzutragen. Der ÖGD unterstützt in bevölkerungsmedizinischen und
gesundheitsplanerischen Fragen des Gesundheitswesens die jeweiligen politischen Entscheidungsträger,
wodurch das Thema „Gesundheit“ im Bewusstsein der Akteure gestärkt wird und als Standortfaktor
auf lokaler Ebene mehr Gewicht erhält.
Arbeitsweisen, Ansätze und Funktionen
Das genannte Aufgabenspektrum erfordert vom ÖGD verschiedene Kompetenzen. Seine Tätigkeit
ist sowohl:
-
risikoorientiert (pathogenetischer Ansatz) als auch ressourcenorientiert (salutogenetischer
Ansatz),
-
hoheitlich als auch partizipativ bzw. partnerschaftlich,
-
bevölkerungs- bzw. sozialraum- als auch einzelfallbezogen.
Die Arbeitsweise umfasst dabei untersuchende, analysierende, planende, beratende,
vernetzende, moderierende, koordinierende, steuernde, überwachende, kontrollierende
und eingreifende Funktionen. Je nach Aufgabe sind dazu Kenntnisse aus unterschiedlichen
medizinischen Fachgebieten, wie der Infektiologie, der Hygiene, der Kinder- und Jugendmedizin,
der Toxikologie, der Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, Zahnmedizin und Psychiatrie
sowie auch Prävention und Gesundheitsförderung, der Epidemiologie, der Sozialen Arbeit,
der Psychologie und anderen Wissenschaftsbereichen essentiell.
Für die Erfüllung dieser Aufgaben arbeitet der ÖGD multiprofessionell, interdisziplinär
und vernetzt. Medizinische – insbesondere fachärztliche – Qualifikationen bilden nach
wie vor die Basis im Öffentlichen Gesundheitsdienst, sozialwissenschaftliche und gesundheitswissenschaftliche
Qualifikationen sowie eine moderne Verwaltung sind heute jedoch ebenso unverzichtbar.
Wissenschaftlichkeit ist eine unverzichtbare Grundlage des ÖGD. Er benötigt eine enge
Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Einrichtungen, insbesondere auch im Bereich
Forschung und Lehre.
Zunehmende Bedeutung gewinnt darüber hinaus das systematische Zusammenspiel örtlicher
Behörden des Öffentlichen Gesundheitsdienstes mit überregionalen Stellen (z. B. Landes-
und Bundesbehörden), um Kompetenzen besser zu nutzen und Konzepte zu entwickeln und
somit den ÖGD in seinen vielfältigen Aufgaben zu stärken.
Stärken des ÖGD
Der ÖGD hat traditionell einen bevölkerungsbezogenen Blickwinkel und arbeitet sozialkompensatorisch,
gemeinwohlorientiert und frei von kommerziellen Interessen. Dies unterscheidet ihn
von vielen anderen Akteuren des Gesundheitswesens. Wie kein anderer Akteur bündelt
er zudem ein breites Spektrum an fachlicher Kompetenz aus unterschiedlichen wissenschaftlichen
Disziplinen. Auf der örtlichen Ebene zeichnet er sich durch seine Bürgernähe und die
Einbindung in die kommunalen Strukturen mit vielfachen Arbeitsbeziehungen zu anderen
kommunalen Behörden (z. B. Schul-, Sozial- oder Jugendamt) und Institutionen aus.
Er verfügt über Zugangsmöglichkeiten zu den verschiedenen Institutionen, Zielgruppen
und Lebenswelten vor Ort (Krankenhäuser, Arztpraxen, Kindertagestätten, Schulen, Senioren-
und Pflegeheime, Wohnbezirken, Stadt- oder Gemeindeteilen usw.). Neben den bevölkerungsmedizinischen
Aufgaben wird der ÖGD bei Bedarf für besondere Personengruppen auch individualmedizinisch
tätig und bietet aufsuchene Hilfen an.
Den ÖGD stärken
Für die Weiterentwicklung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes sind 3 Punkte von entscheidender
Bedeutung:
-
Der ÖGD braucht eine breite und nachhaltige politische Unterstützung aller Ebenen,
von Kommune bis Bund. Es ist notwendig, die Personalentwicklung und Personalausstattung
im ÖGD am Umfang seiner fachlichen Aufgaben auszurichten und nicht allein an finanzpolitischen
oder verwaltungspolitischen Vorgaben.
-
Die Rolle des Öffentlichen Gesundheitsdienstes im Zusammenspiel der Akteure im Gesundheitswesen
muss entlang der genannten Kernaufgaben profiliert werden, insbesondere mit Blick
auf die Stärkung der bevölkerungs- und sozialraumbezogenen Arbeit.
-
Die Verbindung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes mit der Wissenschaft muss sowohl
in der Forschung als auch in der Aus- und Weiterbildung sowie in der Praxis gestärkt
werden.
Ein starker ÖGD ist eine Voraussetzung für das Funktionieren des Public Health-Systems
insgesamt. Dieser Feststellung der Wissenschaftsakademien ist in einem substanziellen
Entwicklungsprozess Rechnung zu tragen. Es gilt, den Öffentlichen Gesundheitsdienst
zukunftsfähig zu gestalten. Dazu will dieses Leitbild einen Beitrag leisten.
Dieses Leitbild wurde von der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) 2016 angeregt und
in einem offenen Diskussionsprozess mit dem ÖGD, Verbänden, zuständigen Gremien sowie
der Wissenschaft konsentiert und von der GMK 2018 befürwortet.
Länderoffene Projektgruppe „Leitbild ÖGD“