Balint Journal 2018; 19(03): 90-96
DOI: 10.1055/a-0663-8058
Studentischer Balint-Preis
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Vier Töchter auf einen Streich

Four Daughters in One Prank
Alina Gundela Saymé
1   Universität Hamburg
› Author Affiliations
Further Information

Publication History

Publication Date:
24 September 2018 (online)

Meine Famulatur absolvierte ich zeitweise auf der Intensivstation. Die Arbeit war abwechslungsreich und das Team fiel durch die herzliche und freundliche Umgangsweise auf. Auffallend war auch die enge und kooperative Zusammenarbeit zwischen Pflege und Ärzten. Innerhalb kürzester Zeit fühlte ich mich als vollwertiges Mitglied im Team und bemerkte, wie ich mich beim Aufstehen auf die Arbeit freute. Die letzten Tage auf Intensiv wurde ich einem schwierigeren Fall zugeteilt, um auch dort die entsprechenden Aufgaben kennenzulernen. Auch in den Wochen davor sah und pflegte ich ähnlich aussichtslose Patienten. Doch dieser Patient blieb mir im Gedächtnis.

Meine Aufgaben bestanden darin in Zusammenarbeit mit einer Pflegekraft, einen Tag lang Vitalparameter zu überprüfen, Lagerungen durchzuführen, Körper & Bett sauber zu halten und bei allen sonst noch anfallenden Arbeiten zu unterstützen. Erst im Laufe des Tages wurde ich mit medizinischen Fakten gefüttert. Das Schicksal des Mannes erschütterte mich zutiefst und ließ mich den 50-jährigen Mann aus einem anderen Blickwinkel betrachten.

Er litt an Alkoholabusus, Kokainismus, Hepatitis C, Herzschwäche (Hyperkaliämie), Bauchwassersucht (Aszites), wurde beatmet und war nicht bei Bewusstsein. Von der Pflege und den Ärzten wurde mir erklärt, dass sein Leben nur von Maschinen aufrechterhalten wurde und, dass selbst diese den Tod nur für ein paar Wochen aufschieben würden. Das war der erste Moment, indem ich nachdachte. Wie hoffnungslos war sein Leben, dass er es in Alkohol und Drogen ertränkte? Welche Qualen und Schmerzen musste dieser Mensch durchstehen? Wo waren seine Familie und seine Freunde? Was war der Auslöser für diese abscheuliche Abwärtsspirale?

Gegen Ende der Schicht erfuhr ich von einem Angehörigengespräch, das am Folgetag bei „meinem“ Patienten stattfinden sollte. Entsprechend gespannt war ich am nächsten Tag. Bekam ich Familienmitglieder zu Gesicht? Wie ließ sich diese ganze Situation aufklären und verstehen?

Doch es kam ganz anders. Genau zum Zeitpunkt des Angehörigengespräches kamen gleich zwei Notfälle und meine für mich zuständige Pflegekraft eilte zum Geschehen. Zumir sagte sie nur: „Geh einfach mit ins Zimmer und schau zu“.

Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, wie ich diese Anweisung einordnen sollte. Einerseits war es eine einmalige Gelegenheit, aber so nah am Geschehen wollte ich doch gar nicht sein? „Na ja egal“, dachte ich in dem Moment. “Susie[1] hat gesagt, ich soll ins Zimmer, also auf ins Patientenzimmer und Ohren auf. Wer weiß, was ich alles mitnehmen kann für später… Schließlich gehört das auch zu den Aufgaben einer Ärztin und somit auf meinen Lernplan“.

Im Zimmer angekommen, stelle ich mich kurz vor und bemerkte neben der Oberärztin, die das Gespräch führen sollte, eine Assistenzärztin in Einarbeitung und eine PJ-Studentin. Neben dem Patientenbett sah ich eine junge Frau, die sich wenig später als Tochter vorstellte.

Die Oberärztin fing an, den allgemeinen Zustand des Vaters zu beschreiben und Hoffnungslosigkeit machte sich breit. Mit jedem neuen gesundheitlichen Problem, welches die Oberärztin erläuterte, füllten sich die Augen der Tochter zunehmend mit Tränen.

Die Atmosphäre im Zimmer war drückend und kaum noch auszuhalten, als die Ärztin der Tochter eröffnete wie schlecht es für den Vater aussah und worauf es zwangsweise hinauslaufen würde.

Die Tochter sollte Abschied von ihrem Vater nehmen und zwar für immer. Das schien für alle Anwesenden, ausgenommen der Oberärztin, zu viel zu sein. Die Tochter fing an zu schluchzen, die Assistenzärztin wischte sich Tränen aus den Augen und reichte der ebenfalls weinenden PJ-Studentin ein Taschentuch rüber. Auch mir standen Tränen in den Augen und mein Herz blutete vor Anteilnahme und Mitgefühl. Was würde ich machen, wenn dort mein Vater läge? Die Medizin war nicht mehr in der Lage, den geliebten Vater zu heilen. Der eigene Vater wird sterben und die Kinder mussten dabei zusehen.

Alles Gedanken, die sich alle furchtbar schrecklich anfühlen und unglaublich schwer zu ertragen sind.

Die Oberärztin sah die Tochter verständnisvoll an und klärte sie über den weiteren Behandlungsverlauf auf. Da sowohl Tochter als auch Sohn in einer Vorsorgevollmacht[2] standen, wurden letzte Fragen geklärt. Den Rest des Gespräches habe ich nicht mitbekommen. Alle (ausgenommen der Oberärztin) waren dabei, ihre Gefühle in Schach zu halten. Bloß nicht wieder weinen!

Gegen Ende des Gespräches sagte die Oberärztin, dass sich die Tochter zusammen mit dem Bruder alles gut durch den Kopf gehen lassen sollte. In dieser schwierigen Phase könne sie selbstverständlich jederzeit (auch bei Nacht) dem Vater einen Besuch abstatten.

Das Gespräch wurde beendet und jeder ging seine Wege. Die Oberärztin und Assistenzärztin gingen zu den vielen anderen Patienten, die PJ-Studentin zum PJ-Seminar und ich zu Susie.

Auf dem Weg zu ihr, war ich unglaublich verwirrt und erkannte die vielen Unklarheiten bei meinem Patienten. Die Ärztin hatte von einem Bruder gesprochen? Wo war der Bruder? Wieso war die Tochter so erschüttert über den Drogen-und Alkoholmissbrauch? Das musste sie doch schon länger wissen oder zumindest gehört haben? Kann ein Vater ein solch extremes Suchtverhalten erfolgreich gegenüber seiner Familie verbergen?

Ich fühlte mich leer und gleichzeitig platzte ich fast vor den unzähligen Rätseln. Bei Susie angekommen, ging es gleich wieder zurück ins Patientenzimmer, weil auch Susie im Gespräch mit der Tochter Unklarheiten beseitigen wollte.

So kam es, dass die Tochter uns in die Lebens-und Leidensgeschichte ihres Vaters einweihte:

„Nun es ist so…Er hat vor langer Zeit seinen Zwillingsbruder verloren, woraufhin der Alkohol in sein Leben trat. Kurz danach verließ ihn meine Mutter und somit auch ich und mein Bruder…

Ich glaube danach war für ihn erstmal alles egal. Er hatte ja alles verloren, was ihm wichtig war. Sein Bruder war für ihn unverzichtbar und meine Mutter die große Liebe. Zugegeben mit uns Kindern kamen Streitigkeiten in die Beziehung, aber letztlich hat der Alkohol unsere Familie zerstört und meinen Vater vereinnahmt.

Ich glaube einmal, hat er einen Anlauf unternommen. Er wollte sich von den Drogen lösen und Kontakt zu uns Kindern aufnehmen. Ich habe es im Gegensatz zu meinem Bruder versucht. Sein Anblick hat mich damals ziemlich geschockt. Seine Gesichtszüge waren verzerrt und die Wangen unnatürlich stark eingezogen. Sein Erscheinen machte mir klar, wie sehr die Scheidung, der Tod seines Bruders und die Abwesenheit von mir und meinem Bruder seinen Lebenssinn zerbrochen hatten. Da waren nur noch Scherben übrig“.

Susie und ich waren sprachlos.

„Meine Mutter wollte damals nicht, dass wir Kontakt zu ihm haben und mein kleiner Bruder hat auch keine bewussten Erinnerungen mehr an ihn. Bei mir sieht das anders aus. Ich war älter und kenne Papa noch als Clown und Weihnachtsmann. Und ich kenne ihn glücklich. Was ich hier sehe, ist nicht mein Vater“.

Sie atmete einmal tief ein und fuhr fort:

„Und jetzt stehe ich hier und mir wird gesagt, dass er bald sterben wird. Ich habe meinen Vater doch kaum erlebt und jetzt wird er mir schon genommen?! Das fühlt sich völlig falsch an. Das kann doch gerade nicht wirklich passieren…“

Ich konnte nur zustimmend nicken. Doch Susie wagte es, die Tochter zu unterbrechen: „Denken Sie an ihren Bruder, ihre Mutter und ihre eigene Familie. Sie sind nicht alleine. Ihren ursprünglichen Vater habe sie schon vor langer Zeit verloren. Zusammen mit ihrem Bruder werden Sie auch diese Situation meistern. Reden Sie mit ihrer Familie und Freunden über alles. Lassen Sie sich Zeit beim Abschied nehmen und seien Sie nicht zu hart zu sich. Dieser Prozess braucht Zeit und ist schwer zu akzeptieren. Das wäre bei mir nicht anders. Außerdem möchte ich Sie wissen lassen, dass wir bei auftretenden Fragen jederzeit für Sie da sind und Ihnen beistehen“.

Ein kleines Lächeln machte sich auf dem Gesicht der Tochter breit. Sie bedankte sich und machte darauf aufmerksam, dass ihr Bruder nicht mit in diese Angelegenheit eingebunden werden wollte. Das schien Susie Sorgen zu bereiten. Auf die Frage, ob er denn gar nicht nach seinem Vater schauen wolle, erklärte die Tochter, dass dieser den Vater kaum kenne und auch keinen Kontakt wolle. In den kommenden Tagen wollte er jedoch mal vorbeikommen und sich verabschieden.

Das schien Susie für den Moment zu reichen, sodass sie anfing aus ihrem Leben zu erzählen. „Wissen Sie, im letzten Jahr habe ich ähnlich wie Sie, einen Schicksalsschlag nach dem anderen erlebt. Zuerst sind meine Eltern verstorben, dann mein Schwager und als Krönung obendrauf ist mein Bruder Alkoholiker geworden. Ich habe gedacht, dass ich das niemals schaffen werde. Jetzt stehe ich hier und spreche es ohne Stocken aus. Mittlerweile ist meine Trauer kein Dauerbegleiter mehr und mein Bruder ist ein trockener Alkoholiker. Was ich Ihnen damit sagen möchte: Auch, wenn die Hürde an Gefühlen noch so groß scheint und ein Problem das nächste jagt. Sie können das schaffen – so wie es geschafft habe“.

Diese Geschichte war auch für mich neu. Den ganzen Ballast sah man Susie wirklich nicht an. Freundlich, immer für einen Scherz zu haben, ein Lachen zum Mitlachen. Was alles hinter der Fassade stecken konnte.

Später zum Schichtende erzählte fast jeder Pfleger in einer gemütlichen Tischrunde von ähnlich tragischen Patientenfällen und der Geschichte dahinter. Ich hörte zu und wunderte mich über die Fülle an Erinnerungen, die auch gerne mal 15 Jahre zurücklagen.

Auf dem Weg zum Klinikausgang begegnete ich der PJ-Studentin. Auch sie schien mich wiederzuerkennen, sodass ich das Gespräch suchte.Sie wusste sofort, von was ich sprach und erklärte mir, dass auch sie plötzlich ihren Vater im Bett sterben sah.

Ihr Kommentar machte deutlich, wie aufwühlend und belastend sie das Gespräch empfunden hatte. Dieses Ereignis hatte deutliche Spuren bei uns beiden hinterlassen. Das Gespräch war kurz und trotzdem half es mir dabei, mich besser zu fühlen.

Am nächsten Tag kam der Sohn tatsächlich vorbei, setzte sich kurz an das Patientenbett und ging wieder, ohne mit den Ärzten oder Pflegekräften geredet zu haben. Ich war anderen Patienten zugeteilt und konnte den Fall nicht weiterverfolgen. Tags darauf war mein Einsatz auf der Intensivstation beendet.

3 Der rechtliche Rahmen ist nicht genau bekannt. Nach Recherche scheint es sich am ehesten um eine Vorsorgevollmacht gehandelt zu haben, sodass im Folgenden davon ausgegangen wird. Diese Angaben sind jedoch ohne Gewähr.