Balint Journal 2018; 19(03): 85-89
DOI: 10.1055/a-0629-5513
Studentischer Balint-Preis
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wie die rumänische Patientin Natalia M. mein Leben als Ärztin veränderte

Like the Romanian Patient Natalia M. changed my Life as a Doctor
Katharina Antonia Politt
1   Philipps-Universität, Marburg
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Publication Date:
24 September 2018 (online)

Exposition

Diskussionen über die EU-Freizügigkeit sind seit längerer Zeit, aber insbesondere seit Beginn des Jahres 2014 in allen Medien zu verfolgen[1]. Grund dafür ist, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit seit dem 1. Januar 2014 auch für Menschen aus Bulgarien und Rumänien gilt[2]. Diese besagt, dass jede_r EU-Bürger_in das Recht hat, ohne Vorbedingungen für mindestens 3 Monate in einem anderen EU-Land zu wohnen, um dort eine Arbeit zu finden.

Im Jahr 2012 wurden von statistischen Bundesamt 24 000 Einwanderer_innen aus Rumänien gezählt. Entgegen den meisten Behauptungen arbeiten viele von ihnen in hochbezahlten Berufen, einige jedoch auch im Niedriglohnsektor.

Als ich im Jahr 2012 mein Pflegepraktikum in meinem Heimatort in Niedersachsen absolviert habe, habe ich viele engagierte Ärzte und Krankenschwestern kennen gelernt. Außerdem lernte ich viele Patient_innen kennen, die unterschiedliche Schicksalsschläge erleiden mussten. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir jedoch ein Fall einer jungen Rumänin, die in einem lokalen Geflügelzuchtunternehmen gearbeitet hat. Obwohl sie ein Angebot der Stadt Nienburg bekam, einen Deutschkurs zu besuchen, war es ihr aufgrund der Schichtarbeit und fehlender Mobilität nicht möglich einen solchen zu besuchen. Später erfuhr ich, dass viele arbeitende „EU-Ausländer“ das gleiche Problem haben, wie die junge Rumänin, da Deutschkurse oft vormittags stattfinden, und die potentiellen Teilnehmer_innen zu dieser Zeit arbeiten.

Es war ein Montag Morgen, an dem die Rumänin Natalia M. auf der neurologischen Station des Kreiskrankenhauses aufgenommen wurde. Da sie nur einige Wörter Deutsch sprach und verstand, war es schwer, eine Anamnese der Patientin zu erheben. Sie hatte jedoch einen Einweisungsschein des Betriebsarztes des Geflügelunternehmens dabei, auf welchem im Diagnosefeld „Übelkeit und Kopfschmerzen – Verdacht auf Migräne“ stand. Da auf der neurologischen Station viele Patient_innen mit einer Migräne behandelt wurden, sah alles nach einer Routineuntersuchung aus und die Ärzt_innen der Station leiteten die routinemäßigen

Untersuchungen zur Diagnostik der Migränesymptomatik ein. Aufgrund der Sprachbarriere konnte die Patientin den Schmerz nicht genauer beschreiben, jedoch bestärkten ihre wiederholten Übelkeitsanfälle die Vermutung.

Während der gesamten Zeit, die die Patientin auf unserer Station verbrachte, wurde deutlich, dass sie starke Schmerzen und auch starke Angst hatte. Wovor, das konnten wir nur vermuten. Immer, wenn der Freund der Patientin zu Besuch kam, besserte sich ihre Angst zeitweise, wurde aber wieder stärker, wenn ihr Freund sie wieder verlassen musste.

Zur Aufnahme wurde der Patientin auch Blut abgenommen, welches ins hauseigene Labor geschickt wurde, um Standardlaborparameter, wie Entzündungswerte zu untersuchen. Da bei jeder Patientin auch eine Schwangerschaft ausgeschlossen werden muss, und die Patientin sich hierzu nicht äußern konnte, wurde auch der beta-HCG-Wert bestimmt. Hier wurde nun eine Schwangerschaft festgestellt, was die Vermutung nahe legte, dass die Symptome Übelkeit, Erbrechen und Kopfschmerzen nicht auf eine Migräneaattacke, jedoch auf die Schwangerschaft zurückzufahren waren.

Da der Freund von Natalia M. etwas Deutsch verstand und sprach, bat die Stationsärztin ihn beim nächsten Besuch um ein gemeinsames Gespräch mit Natalia M., wobei ihr Freund als Übersetzer dienen konnte. So konnten die Ärztin der Patientin nun den Befund der festgestellten Schwangerschaft mitteilen.

Da ich zufällig mit im Patientenzimmer war, habe ich mitbekommen können, wie die Patientin diesen Befund aufgenommen hat.

Als Natalia M. von der Schwangerschaft erfuhr, wurde sie panisch. Sie litt unter Luftnot und begann zu hyperventilieren. Sie bat die Ärztin per Übersetzung durch ihren Freund, das Kind sofort abtreiben zu lassen, sodass niemand in dem Betrieb etwas erfahren würde. Die behandelnde Ärztin versuchte ihr mitzuteilen, dass dies in Deutschland nicht ohne Weiteres möglich sei, und dass sie zuerst zu einer Beratungsstelle gehen müsse. Da ihr Freund jedoch auch nicht sehr gut deutsch sprach, konnte die Patientin nur verstehen, dass ein Schwangerschaftsabbruch nicht gemacht werden würde.

Da nun festgestellt wurde, dass die Patientin schwanger war, war es den Krankenschwestern nicht mehr erlaubt, ihr Schmerzmittel gegen die Kopfschmerzen oder andere Tabletten gegen die Übelkeit zu geben. Als sie versuchten, dies (mit der Übersetzungshilfe des Freundes der Patientin) zu erläutern, erwiderte diese nur, dass sie den Embryo sowieso abtreiben lassen wolle und sie nicht verstehen könne, warum ihr deswegen keine Schmerzmittel gegeben werden. Die Krankenschwestern konnten natürlich dennoch keine Schmerzmittel verabreichen. Stattdessen wurde versucht, Natalia M. über eine Nasenbrille Sauerstoff zu geben, was die Patientin aber nicht tolerierte.

Am Tag nach der Mitteilung der Schwangerschaft ging es der Patientin sehr schlecht. Wir hatten alle das Gefühl, dass zu den Schmerzen nun auch noch die Angst vor der Schwangerschaft hinzu kam. Der Freund der Patientin erzählte uns, dass der letzte schwangeren Kollegin auf dem Geflügelhof fristlos gekündigt wurde und Natalia Angst hatte, dass ihr dies auch passieren könnte, sobald der Bereichsleiter von der Schwangerschaft erfahren würde. Er erzählte uns auch, dass Natalias ganze Familie sehr stolz auf sie war, da sie in Deutschland arbeitete, und dass Natalia jeden Monat eine Menge Geld nach Rumänien sendet, und so ihre ganze Familie auf die Arbeit auf dem Geflügelhof angewiesen ist.

Im Laufe des Tages hatten die Krankenschwestern und Ärzte versucht, einen rumänischen Übersetzer zu holen, doch der hatte erst im Laufe des vormittags des nächsten Tages wieder einen Termin frei. So waren wir alle sehr erleichtert, dass zur Nachtschicht eine Ärztin Dienst hatte, welche selbst aus Rumänien kam und somit als Übersetzerin fungieren konnte.

Freundlicherweise ging sie gleich zur rumänischen Patientin und nahm sich sehr viel Zeit, alles zu erklären. Sie erklärte ihr, warum sie im Moment keine Schmerzmittel bekommen dürfe und dass es in Deutschland obligatorisch ist, zu einer Beratung zu gehen, bevor ein Schwangerschaftsabbruch durchgeführt wird. Außerdem machte sie deutlich, dass die Natalia ihrem Arbeitgeber nicht erzählen müsse, dass sie schwanger ist, und dass auch der Betriebsarzt der Schweigepflicht unterliegt und so dem Arbeitgeber keine vertraulichen Informationen weitergeben dürfe. Die Ärztin verdeutlichte der Patientin die Funktion des Sauerstoffs, welchen diese ab nun tolerierte und versuchte, ihr grundsätzlich die Angst zu nehmen.

Für mich war es sehr interessant zu sehen, wie sich die Patientin verändert hat, nachdem sie mit der Ärztin in ihrer Muttersprache reden konnte. Sie wirkte kaum noch ängstlich, und war den Schwestern und mir gegenüber sehr viel freundlicher und aufgeschlossener. Sie bedankte sich fortan jedes Mal, wenn ich ihr Wasser oder andere Dinge brachte. Ich glaube, dadurch, dass die Patientin bisher nur schlechte Erfahrungen in Deutschland gemacht hat, hat sie uns als Team nicht richtig vertrauen können. Dadurch, dass die rumänische Assistenzärztin in ihrer vertrauten Sprache mit ihr sprechen konnte, und ihr so verständlich machen konnte, was genau geschieht und warum bestimmte Wege gegangen werden müssen, hat sie Vertrauen in das Arzt- und Pflegeteam aufbauen können.

In den folgenden Tagen wurde bei der Patientin noch eine MRT-Aufnahme und eine Liquorpunktion durchgeführt, um weitere Ursachen der Kopfschmerzen ausschließen zu können. Eine Migräne konnte durch ein umfangreiches Anamnesegespräch, welches durch die rumänische Assistenzärztin durchgeführt wurde, ausgeschlossen werden. Nach insgesamt fünf Tagen wurde die Patientin aus dem Krankenhaus entlassen.

Insgesamt habe ich während dieses Erlebnisses festgestellt, wie schlimm es für mich war, der Patientin nicht helfen zu können. Oft ging ich in der Woche, als die Patientin bei uns auf Station war, traurig nach Hause, einmal habe ich sogar geweint. Ich denke, dass ich grundsätzlich ein empathischer Mensch bin. Meistens habe ich es jedoch geschafft, dennoch meine Distanz zu wahren. Als ich jedoch Natalia M. kennen lernte, die nicht älter war als ich und vor einem Jahr ihre Heimat verlassen hatte, um eine bessere Zukunft zu haben, hatte ich große Probleme, mich distanziert zu verhalten. Das ich selbst nach dem Abitur ein Jahr im Ausland verbracht habe, stellte ich mir immer wieder vor, wie ich mich fühlen würde, wenn ich in einem fremden Land arbeiten würde, meine Eltern und Verwandten weit entfernt leben würden und meineArbeitsbedingungen schlecht wären.

Ich hätte die Patientin gerne irgendwie getröstet, jedoch regierte sie meist ängstlich, wenn ich das Zimmer betrat, um z. B. ihren Blutdruck zu messen. Oft redete ich auf Deutsch mit ihr, sodass wenigstens meine Stimme eine beruhigende Wirkung zeigen konnte, doch oft hatte ich das Gefühl, sie wollte lieber alleine sein.

In diesem Beispiel ist meiner Meinung nach auch deutlich zu erkennen, dass das Ärzteteam und Pflegeteam von Patient_innen oftmals als Einheit wahrgenommen wird. Obwohl sich das Verhalten des Pflegeteams in keiner Weise verändert hat (und auch von Anfang an, so denke ich, freundlich und aufgeschlossen war), war die Patientin nach dem klärenden Gespräch viel freundlicher und aufgeschlossener.