Laryngorhinootologie 2018; 97(08): 560-562
DOI: 10.1055/a-0589-3624
Gutachten und Recht
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Umgang mit suizidalen Patienten

Die Sorgfaltspflichten der Ärzte und des Pflegepersonals
Albrecht Wienke
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Publication Date:
06 August 2018 (online)

Allgemeines zur Rechtslage

Die Ärzte jeder klinischen Einrichtung sind im Rahmen des stationären Krankenhausaufnahmevertrages verpflichtet alles zu tun, um die Patienten vor einer krankheitsbedingten Selbstschädigung zu bewahren. Diese Schutzpflicht besteht nach der Rechtsprechung allerdings nur in den Grenzen des Erforderlichen und soweit sie für das Krankenhauspersonal und den Patienten zumutbar ist. Ein Suizid während des Aufenthalts in einem Krankenhaus – selbst in der Psychiatrie – kann niemals mit absoluter Sicherheit vermieden werden; eine lückenlose Überwachung und Sicherung, die jede noch so fernliegende Gefahrenquelle ausschalten könnte, ist nicht denkbar (Urteil des OLG Hamm vom 20.01.2010 – I-3 U 64/09, 3 U 64/09).

Für die Beantwortung der Frage nach der zivil- oder strafrechtlichen Haftung für einen Suizid während eines stationären Aufenthalts ist zum einen die Vorhersehbarkeit des Suizids entscheidend und zum anderen, welche Maßnahmen zur Verhinderung erforderlich waren. Maßgeblich ist insofern, ob bei Patientenaufnahme oder im späteren Verlauf Anlass bestand, von einer akuten Suizidalität auszugehen. Besteht zum Zeitpunkt der Behandlung nach Einschätzung der behandelnden Ärzte ein akutes Gefährdungspotenzial, bestehen für das Krankenhaus verstärkte Schutz- und Überwachungspflichten. Hingegen löst allein die latente Gefahr eines Suizids nicht die Verpflichtung aus, besondere Schutzvorkehrungen zu ergreifen. Eine lückenlose, jegliche Gefahr ausschließende Überwachung und Sicherung kann nicht erwartet werden.

Richtiges diagnostisches Vorgehen

Von zentraler Bedeutung im Umgang mit suizidalen Patienten ist das richtige diagnostische Vorgehen. Die fehlerhafte Einschätzung der Suizidalität kann bei Verwirklichung des Suizids einen Behandlungsfehler des behandelnden Arztes darstellen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Arzt bestimmte Methoden zur Abschätzung der Suizidgefahr, so etwa die eingehende, intensive Befragung des Patienten nach Ängsten oder Wahnvorstellungen, nicht angewendet hat. Geht der Arzt hingegen bei der Anwendung bestimmter Methoden diagnostisch richtig vor und gelangt zum Zeitpunkt der Behandlung aufgrund medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse zu der vertretbaren Ansicht, dass eine Gefährdung nicht vorlag bzw. abgeklungen war und daher Schutzmaßnahmen zugunsten des Patienten nicht zu ergreifen waren, steht ihm für die Diagnose, ob eine akute Suizidgefahr besteht oder nicht, ein Ermessensspielraum zu. Bei diesem diagnostischen Vorgehen kann dem Arzt kein Behandlungsfehlervorwurf gemacht werden.

Sicherlich gehört das Erkennen der Suizidalität und des Suizidrisikos mit zu den verantwortungsvollsten Aufgaben, die sich dem Arzt stellen können. Jedoch werden die Anforderungen an die (richtige) Diagnosestellung bei Suizidgefahr von den Gerichten in der Regel nicht überspannt, da ein Erkennen und Beurteilen akuter und latenter Suizidalität bekanntlich nicht in jedem Fall möglich ist. Dies leistet weder eine differenzierte testpsychologische Diagnostik noch bieten klinisches Wissen und Erfahrung einen vollständigen Schutz vor Irrtümern. Begeht der Patient Suizid, kann daher keinesfalls zwangsläufig auf ein pflichtwidriges Verhalten hinsichtlich der Vorhersehbarkeit des Suizids geschlossen werden, da eine absolut sichere Vorhersehbarkeit eines Suizids unmöglich ist. Insofern kommt es maßgeblich auf die Diagnostik und die medizinisch-wissenschaftliche Vertretbarkeit der ärztlichen Einschätzung der Suizidgefahr an.

Dem Pflegepersonal, das keine Facharztausbildung hat, kann es prinzipiell nicht negativ angelastet werden, wenn eine Äußerung eines Patienten nicht als wichtiger Hinweis wahrgenommen oder eine solche Aussage falsch gewürdigt wird. Mithin ist bei Suizidfällen eine Inanspruchnahme der Pflegekräfte in der Regel nicht gegeben. Ausnahmen bestätigen aber auch hier die Regel.


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Umfang der Sicherungs- und Überwachungspflichten

Bei erkannter akuter Suizidgefahr sind die Ärzte verpflichtet, verstärkte Schutz- und Sicherungsvorkehrungen gegen die Selbstgefährdung des Patienten zu ergreifen. Das Unterbleiben geeigneter Maßnahmen stellt einen Behandlungsfehler dar. Wie diese im Einzelnen auszusehen haben, hängt natürlich von den spezifischen Gegebenheiten der Station, auf der sich der Patient befindet, ab. Für eine Psychiatrie gelten alleine schon aufgrund der besonderen räumlichen und personellen Ausstattung andere Maßstäbe, als für eine Palliativstation oder eine andere fachärztliche Station.

Generell gilt der Grundsatz, dass den Sicherungs- und Überwachungspflichten in doppelter Hinsicht Grenzen gesetzt sind: Zum einen ist die Menschenwürde und die allgemeine Handlungsfreiheit des Patienten zu achten. Es sind deshalb vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur Maßnahmen derjenigen Sicherheitsstufe anzuordnen, deren Anwendung zum Schutz des Patienten erforderlich sind. Zum anderen ist das Sicherheitsgebot abzuwägen gegen Gesichtspunkte der Therapiegefährdung durch allzu strikte Verwahrung.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes verlangt die bei Patienten einer offenen Station möglicherweise latent vorhandene Suizidgefährdung nicht, jede Gelegenheit zu einer Selbstschädigung auszuschließen; Schutzmaßnahmen müssen therapeutisch vertretbar sein und dürfen die Therapie nur dann beeinträchtigen, wenn es zum Patientenwohl erforderlich ist (Urteil des OLG Frankfurt vom 27.10.2009 – 8 U 170/07 – ).


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