Aktuelle Neurologie 2007; 34 - P786
DOI: 10.1055/s-2007-988055

HMSN X – mehr als „nur“ eine periphere Neuropathie

M Boentert 1, I Teismann 1, T Warnecke 1, P Young 1
  • 1Münster

Hereditäre motorische und sensible Neuropathien (HMSN) sind monogenetische Erkrankungen des PNS, für die seit 1994 36 Kandidatengene beschrieben worden sind. Die Korrelation von Phänotyp und Genotyp hat zu der Erkenntnis geführt, dass in Abhängigkeit vom betroffenen Gen und der spezifischen Mutation Symptome auftreten können, die über eine längenabhängige Polyneuropathie (PNP) hinausgehen. Besonders häufig ist eine solche „HMSN plus“ bei der durch Punktmutationen des Cx32-Gens hervorgerufenen HMSN X, die mit Taubheit, Marklagerläsionen oder einem cerebellären Syndrom einhergehen kann. Wir stellen eine HMSN-X-Patientin vor, deren Erkrankung durch eine schwere periphere Neuropathie, ein Kleinhirnsyndrom und eine relevante Dysphagie gekennzeichnet ist.

Es handelt sich um eine 59-jährige Patientin mit einer seit dem 20. Lebensjahr progredienten sensomotorischen PNP mit typischen Fußdeformitäten. 2003 wurde eine HMSN X durch Punktmutation (Arg15Trp) im Codon 15 des Cx-32-Gens diagnostiziert. Klinisch fanden sich neben dem Vollbild einer distal-symmetrischen sensomotorischen PNP eine Rumpf- und Extremitätenataxie, ein positives Rebound-Phänomen, ein Intentionstremor und eine cerebelläre Dysarthrie als Zeichen der Kleinhirnaffektion. Ende 2006 kam ein häufiges Verschlucken von Flüssigkeiten hinzu, das anamnestisch nur beiläufig erwähnt wurde. Klinisch zeigten sich eine bilaterale Zungenatrophie, Fibrillationen und Hypoglossusparese. Die auf Video dokumentierte fiberendoskopische Evaluation des Schluckakts bewies eine gestörte Boluskontrolle mit der Folge eines sogenannten posterioren Leakings und einer intradegluttitiven Aspiration von Flüssigkeit. Der Patientin wurden die Andickung von Getränken und regelmäßige Kontrolluntersuchungen empfohlen.

Bislang ist nicht beschrieben, dass eine fortgeschrittene HMSN X mit einer klinisch relevanten Beteiligung der kaudalen Hirnnerven einhergehen kann. Auf das Symptom der Dysphagie als Begleitsymptom wurde bislang nur im Zusammenhang genetisch differenter und weitaus seltenerer Subtypen (HSAN IV, CMT2I) oder als Komplikation einer Zytostatikatherapie hingewiesen. Der von uns präsentierte Fall erweitert das klinische Spektrum der HMSN X um ein Symptom von großer klinischer Bedeutung. Bei Patienten mit HMSN X und möglicherweise auch anderen HMSN-Formen sollte vor allem in fortgeschrittenen Krankheitsstadien die Schluckfähigkeit anamnestisch und diagnostisch Beachtung finden, um gegebenenfalls adäquat therapiert werden zu können.