Aktuelle Neurologie 2007; 34 - P689
DOI: 10.1055/s-2007-987960

Visueller Neglect und Kunst

M Krämer 1, P Berlit 1
  • 1Essen

Der Zusammenhang zwischen visuellem Neglect und Kunst wurde bei der Analyse der Spätwerke von O. Dix, L. Corinth und A. Räderscheidt dargestellt.

Mögliche Kompensations-Mechanismen der künstlerischen Expression bei neurodegenerativ bedingten Defiziten mit visuellem Neglect wurden bislang nicht beschrieben.

Fallbericht: Eine damals 44-jährige Hobby-Künstlerin stellte sich mit seit mindestens einem Jahr progredienter rechtsdominanter extrapyramidaler Symptomatik mit kleinschrittiger Gangstörung und Rigor vor. Sie hatte beim Autofahren mehrmals das Garagentor beim Einparken gerammt. In der neurologischen Untersuchung ließ sich neben einem kleinschrittigen Gangbild, einem Rigor, einem myokloniformen Tremor vor allem ein visueller Neglect nach links dokumentieren. Im Verlauf von drei Jahren entwickelten sich zusätzlich eine bukkofaciale Apraxie, eine homonyme Hemianopsie nach links, ein Alien-limb-Syndrom des rechten Armes, ein motorischer Neglect des rechten Beines, eine sensible Extinktion der rechten Körperhäfte mit Gangstörung und akinetischen Krisen. Neuropsychologisch waren eine kognitive Störung und eine Anosognosie feststellbar. Wir diagnostizierten eine Kortikobasale Degeneration.

Künstlerische Expression und visueller Neglect: Während der Beobachtungszeit malte die Patientin zahlreiche Bilder. Im Verlauf wechselte die Rechtshänderin beim Malen wie auch bei anderen Tätigkeiten aufgrund des sich entwickelten Alien-limb-Syndroms rechts auf die linke Hand. Die gemalten Bilder wiesen eine deutliche Diskrepanz zu den hochpathologischen Neglect-Testungen beim Figuren-Nachzeichnen auf. Bei der Beobachtung des Mal-Prozesses zeigte sich ein Kompensationsmechanismus mit dem Drehen des Bildes um 180°, ohne dass sich die Patientin dessen bewusst war.

mit kompensatorischem Drehen

Schlussfolgerung: Künstlerische Expression scheint Kompensationsmechanismen eines visuellen Neglects zu begünstigen. Kunsttherapeutische Angebote in neurologischen Akutkrankenhäusern fördern nicht nur psychische Coping-Prozesse, sondern können auch rehabilitationsmedizinisch von Interesse sein.