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DOI: 10.1055/s-2007-987491
Visuelle Wahrnehmungsleistungen nach cerebellärer Läsion
Zahlreiche Patientenstudien jüngerer Zeit legen nahe, dass die funktionellen Beiträge des Kleinhirns keineswegs auf die Formung motorischer Leistungen beschränkt sind, sondern auch solche Leistungen einschließen, die im Bereich perzeptueller, kognitiver und möglicherweise auch affektiver Funktionen angesiedelt sind. Als anatomische Grundlage der vermuteten Beiträge des Kleinhirns zu nichtmotorischen Leistungen wurden anatomische Projektionen identifiziert, die das Kleinhirn mit zahlreichen Assoziationsarealen des cerebralen Kortex reziprok verbinden. Ziel der vorgestellten Untersuchungen ist es, cerebelläre Beiträge zu nichtmotorischen Leistungen am Beispiel der visuellen Wahrnehmung modellhaft zu studieren. Konkret wurden in Patientenstudien und im Tiermodell folgende Fragen untersucht.
(i) Ziehen cerebelläre Läsionen Störungen der visuellen Wahrnehmung nach sich, die nicht etwa auf bekannte Unzulänglichkeiten der Okulomotorik zurückzuführen sind?
(ii) Sind solche Störungen Ausdruck einer defizitären Kontrolle räumlicher Aufmerksamkeit, einer „Dysmetrie der Aufmerksamkeit“, eines Defizites, das man als nichtmotorisches Pendant sakkadischer Dysmetrie verstehen könnte?
(iii) In welcher Weise verändert sich die neuronale Aktivität im menschlichen visuellen Cortex, wenn in Folge einer Kleinhirnschädigung der cerebelläre Eingang verloren gegangen ist?
Die zur Klärung der ersten beiden Fragen durchgeführten psychophysischen Untersuchungen von Patienten mit Kleinhirnläsionen zeigen, dass echte, d.h. nicht durch okulomotorische Unzulänglichkeiten bedingte Defizite für die Diskrimination visueller Bewegung bestehen, andere Sehleistungen (Sehschärfe, Positionsdiskrimination, Kontrolle räumlicher Aufmerksamkeit) jedoch bewahrt bleiben. Wache, trainierte Rhesusaffen zeigen nach selektiver operativer Entfernung des posterioren Vermis ein vergleichbares Störungsmuster. Die mit Blick auf die dritte Frage durchgeführten magnetenzephalographischen Ableitungen zeigen, dass Patienten mit gestörter Bewegungswahrnehmung qualitativ veränderte visuell induzierte corticale Magnetfelder generieren. Zusammenfassend schließen wir, dass Kleinhirnläsionen Defizite der Bewegungswahrnehmung nach sich ziehen, die nicht auf eine Störung der Aufmerksamkeitskontrolle zurückzuführen sind, sondern vielmehr ein im engeren Sinn visuelles Defizit widerspiegeln, dem eine Dysfunktion des seines cerebellären Einganges beraubten visuellen Assoziationskortex zugrundeliegt.