Psychiatr Prax 2007; 34(4): 203-208
DOI: 10.1055/s-2007-980291
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Therapie und Begutachtung psychischer Traumata im Spiegel der Belletristik

Teil 4: Popularisierung und Trivialisierung des Traumas in der Gegenwart
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23 May 2007 (online)

 

Einleitung

Die ersten drei Teile dieser Arbeit brachten belletristische Texte aus verschiedenen Abschnitten des 20. Jahrhunderts zur Darstellung, die von traumatisierten Personen handelten und ihrer Begegnung mit dem professionellen Hilfssystem, meist in der Gestalt von Psychiatern oder ärztlichen Psychotherapeuten. Oft lagen ihnen biografisch belegbare Erfahrungen der Autoren zugrunde, die in unterschiedlichem Maße fiktionalisiert wurden; doch fast allen dieser Romane ist gemein, dass sie entweder explizit die ungeheuren Widerstände thematisieren, auf die die Betroffenen stießen, oder aber diese Widerstände in ihrer Textstruktur indirekt zu erkennen geben. Bei den Behandlern schien in Abhängigkeit vom jeweiligen gesellschaftlichen Kontext die Abwehr des traumatischen Inhaltes mit der Abwehr der traumatisierten Person Hand in Hand zu gehen. Jan Philipp Reemtsma sieht in dieser Abneigung gegen das Opfer einen epochenübergreifenden "sozialen Grundaffekt" ([1], S. 40; vgl. [2], S. 61). Umso bemerkenswerter sei die gegenwärtige Situation, die in einem erhöhten Bewusstsein um die Verletzlichkeit der menschlichen Psyche dem Traumaopfer Anerkennung entgegenbringt und ihm unter bestimmten Umständen, etwa als "Zeitzeugen", sogar eine privilegierte Position einräumt. Reemtsma hält diese veränderte Haltung für eine Konsequenz aus den verheerenden Erfahrungen der beiden Weltkriege und billigt der Traumatherapie und somit insgesamt der Psychotraumatologie den Status zu, als Ort der sozialen Kompromissbildung zu dienen. Diese neue Subdisziplin stützt sich in besonderem Maße auf das diagnostische Konstrukt der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Detailliert hat der US-amerikanische Anthropologe Allan Young beschrieben, wie dieses Konzept im Spannungsfeld verschiedener Interessen, Institutionen, ethischer Abwägungen etc. mittels einer Reihe wissenschaftstheoretischer Vorannahmen, diagnostischer Techniken und narrativer Gepflogenheiten für die dritte Ausgabe des DSM hergestellt wurde ([3]; zur Weiterentwicklung des DSM vgl. [4]). Er schildert, wie das Council on Research and Development der American Psychiatric Association eine Task Force on Nomenclature mit entsprechenden Unterkomitees bildete. Kritisch spricht er davon, dass die diagnostische Einheit der PTBS unter dem Eindruck des militärisch wie moralisch gescheiterten Vietnam-Krieges "zusammengeleimt wurde" ("glued together") ([3], S. 5, 94f.). Natürlich macht diese konstruktivistische Perspektive das Leiden der Betroffenen nicht weniger real. Doch trotz des unzweifelhaften humanitären Fortschrittes, der mit dieser neuen Kultur der Anerkennung verbunden ist, bleibt der Kompromiss bis heute umstritten, oftmals sogar in besonders scharfer Form ([5], S. 385f.; [[6]-[10]). Zwar hat jede wissenschaftliche Disziplin oder Subdisziplin die Aufgabe, die Komplexität ihres zumeist polymorphen Gegenstandes zu reduzieren und für ihre Theorien dann auch einen Geltungsbereich einzufordern. Die Vorwürfe gegen die Psychotraumatologie gehen jedoch dahin, dass sie beide Akte übertreibe, und lassen sich mit den beiden Begriffen "unterkomplex" und "over-inclusive" zusammenfassen. Und nicht selten geben ihre klinischen, aber auch ihre wissenschaftlichen Vertreter Anlass zu dieser Kritik. Beispielhaft seien hier die Beiträge Günter Seidlers genannt: So verweist er zwar zu Recht darauf, dass die aktuellen Varianten der (vermeintlich) theoriefrei konstruierten Diagnosesysteme DSM und ICD die PTBS als eines der wenigen ätiologisch definierten Krankheitsbilder aufgenommen haben. Jedoch nutzt er dies zur Verknüpfung kausaler Zusammenhänge, die in ihrer Verkürzung problematisch werden: So reduziert sich ihm die Lebensgeschichte zur "Post-Ereignisbiografie" ([11], S. 21). Und die Psychoanalyse, die bekanntlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen äußerer und innerer Realität des Traumatisierten von Anfang an diskutierte [12] und dies unverändert tut ([7]; [13]), ist ihm "natürlich eine Täterpsychologie par excellence" ([11], S. 20). Das heißt, die Frage nach der Beteiligung - bewusster oder unbewusster - Fantasien wird mit einem Verweis auf moralische Gesichtspunkte für unzulässig erklärt (vgl. [14]). Der Schutz des Traumaopfers vor den Gefahren einer iatrogenen Reviktimisierung lässt es in dieser Perspektive notwendig erscheinen, die Tiefe seiner möglichen inneren Verstrickung auszublenden. In dem Maße, wie sich das Menschenbild vereinfacht, wächst andererseits auch der Gültigkeitsanspruch von Seidlers Psychotraumatologie: etwa auf "Sekretärinnen, die Berichte schreiben, Verwaltungsbeamte, die Vorgänge zu protokollieren haben... " ([15], S. 31). Auch auf einer anderen Ebene bemüht er sich um die Ausweitung seiner Zielgruppe, indem er nämlich aus der PTBS, einem kulturellen Produkt des späten 20. Jahrhunderts, eine zeitüberdauernde nosologische Entität macht und neue psychiatriehistorische oder genauer: psychohistorische Forschungsparadigma entwirft: "Wie oft gab es PTSD während des 30-jährigen Krieges, während Pestepidemien..." ([idem], S. 38). Doch nicht nur der psychiatrisch-psychotherapeutische Fachdiskurs ist anfällig gegenüber solchen Reifikationen. Auch Literaturwissenschaftler zeigen sich methodenkritisch wenig immun gegen die Versuchung, ihre Analysen auf eine scheinbar gesicherte empirische Basis zu stellen. So reklamiert Hannes Fricke das Traumakonzept im Sinne einer "anthropologischen Konstante" unter Berufung auf "hirnphysiologische Prozesse" als Interpretationsschema einer ganzen Reihe literarischer Figuren, angefangen beim homerischen Achill über Fausts Margarete bis hin zu Batman, und vertritt den Anspruch, hiermit ein kulturell und historisch übergreifendes neuartiges Deutungsinstrumentarium zum Textverständnis zu präsentieren ([16]; vgl. [17]). Allerdings gibt er sehr zum Nutzen seines literaturpsychologischen Ansatzes seine erklärte Selbstbeschränkung in der Textanalyse auf und greift doch auf ein psychoanalytisches Begriffsrepertoire zurück. Besonders aufschlussreich ist dabei seine Behandlung des Textes Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948 von Binjamin Wilkomirski, im Jahre 1995 erstveröffentlicht ([16], S. 72f.; vgl. [1], S. 37). Dabei schien es sich um die Autobiografie eines Opfers der Shoah zu handeln, das seine Kindheit auf der Flucht, im Ghetto und im Konzentrationslager verbracht hatte, bevor es als überlebende Waise von einer Schweizer Familie adoptiert wurde. Eine psychoanalytische Therapie vermeinte die Rekonstruktion der Schrecken ermöglicht zu haben. Doch dann kam heraus, dass es sich beim Autor um Bruno Dössekker handelte, der weder Jude ist, noch in seiner Kindheit die Schweiz jemals verlassen hat. Es wurde deutlich, dass Dössekker (ursprünglich Grosjean) wohl in der Tat unter sehr belasteten Umständen aufgewachsen und auch in eine Adoptivfamilie gegeben worden war. Indem er seine Kindheit in dieser Form umdichtete, hatte er in Koproduktion mit seinem Analytiker ein subjektiv geeignetes und sozial besonders akzeptiertes Narrativ für seine schmerzhaften Erfahrungen gefunden, das für ihn wohl mit einem hohen Evidenzerleben einherging. Der "Fall Wilkomirski" zeigt zum einen, wie verkürzt manch psychotraumatologischer Ansatz ist, der die zentrale Rolle von beteiligten Fantasien leugnet; zum anderen verweist er auf die Tiefe des menschlichen Wunsches, schmerzhafte Erfahrungen in ein kohärentes Narrativ und somit in einen übergreifenden Sinnzusammenhang einzuordnen. Die im Folgenden dargestellten Texte werden dementsprechend nach ihrer Art der Behandlung des Trauma-Narratives drei Gruppen zugeordnet. Dabei werden ein plakatives, ein nivellierend-integratives und ein offen-gebrochenes Gestaltungsmuster unterschieden.

Literatur

  • 01 Reemtsma JP . "Trauma" - Aspekte der ambivalenten Karriere eines Konzeptes.  Sozialpsychiatr Inf. 2003;  33 37-43
  • 02 Hofmann-Richter U . Hiltbrunner B . Von der Neurose zum Trauma. Zur Diskussion, Behandlung und Entschädigung psychischer Unfallfolgen.  Spektrum (der Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde). 2001;  30(3) 58-64
  • 03 Young A . The Harmony of Illusions. Inventing Post-Traumatic Stress Disorder. Princeton: Princeton University Press, 1995. 
  • 04 Turnbull GJ . A review of post-traumatic stress disorder. Part 1: Historical development and classification.  Injury. 1998;  29 87-91
  • 05 Shepard B . A War of Nerves. Soldiers and Psychiatrist 1914-1994. London: Pimlico 2002. 
  • 06 Dörner K .   . Posttraumatische Belastungsstörungen: Zurückhaltung angebracht. Kommentar zum Beitrag von Ruth Kloocke, Heinz-Peter Schmiedebach und Stefan Priebe: Psychisches Trauma in deutschsprachigen Lehrbüchern der Nachkriegszeit zwischen 1945 und 2002.  Psychiat Prax. 2005;  32 334-335
  • 07 Lellau J . Zum Problem des Traumabegriffes in der Psychoanalyse.  Forum Psychoanal. 2005;  21 143-155
  • 08 Fischer G . Riedesser P . Psychotraumatologie und Psychoanalyse. Zu Jochen Lellaus Beitrag "Zum Problem des Traumabegriffes in der Psychoanalyse".  Forum Psychoanal. 2006;  22 103-106
  • 09 Lellau J . Erwiderung.  Forum Psychoanal. 2006;  22 107-108
  • 10 Hoffmann-Richter U . Perspektiven.   Psychiat Prax. 2006;  33 361-363
  • 11 Eckart WU . Seidler GH . Einleitung: "Psychotraumatologie", eine Disziplin im Werden. In: Seidler GH, Eckart WU (Hrsg): Verletzte Seelen. Möglichkeiten und Perspektiven einer historischen Traumaforschung. Gießen: Psychosozial, 2005. 
  • 12 Nitschke B . Die Debatte des sexuellen Missbrauches in Sigmund Freuds Vortrag: "Zur Ätiologie der Hysterie" (1896) - und der Missbrauch dieser Debatte hundert Jahre später. In: Richter-Appelt H (Hrsg): Verführung Trauma Missbrauch. Gießen: Psychosozial, 2002 (1997). 
  • 13 Becker S . Trauma und Realität. In: Richter-Appelt H (Hrsg): Verführung Trauma Missbrauch. Gießen: Psychosozial, 2002 (1997). 
  • 14 Seidler GH . Ödipale Phantasie oder Trauma?.  Trauma & Gewalt. 2007;  1 70-72
  • 15 Seidler GH . Auf dem Weg zur Psychotraumatologie. In: Seidler GH, Eckart WU (Hrsg): Verletzte Seelen. Möglichkeiten und Perspektiven einer historischen Traumaforschung. Gießen: Psychosozial, 2005. 
  • 16 Fricke H . Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und Empathie. Göttingen: Wallstein, 2004. 
  • 17 Jahraus O . Traumatisierte Figuren. (Rezension über: Hannes Fricke: Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und Empathie.) http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Jahraus3892448108_1277.html
  • 18 Harris T . Hannibal Rising. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2006. 
  • 19 Pisani L . Pisani L. Der Spion und der Analytiker. Zürich: Diogenes 1996 (1991). 
  • 20 Conroy P . Ein sicheres Haus. München: Goldmann, 2002 (1998). 
  • 21 French N . Das rote Zimmer. München: Goldmann 2004 (2002). 
  • 22 Conroy P . Die Herren der Insel. Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe 1992 (1986). 
  • 23 Lamb W . Früh am Morgen beginnt die Nacht. Berlin: List 2004 (1998). 
  • 24 Künzel C . Verrückte Erzählungen: Vergewaltigungstrauma und das Problem der Glaubwürdigkeit. In: Seidler GH, Eckart WU (Hrsg): Verletzte Seelen. Möglichkeiten und Perspektiven einer historischen Traumaforschung. Gießen: Psychosozial, 2005. 
  • 25 Draper SM . Die Nacht des Tigers. Ravensburg: Ravensburger Buch, 1999 (1994). 
  • 26 Gibb C . Worüber niemand spricht. Berlin: Berliner Taschenbuch, 2001 (1999). 
  • 27 Hochgatterer P . Die Süße des Lebens. Wien: Deuticke 2006. 
  • 28 Basic N . Vom Ansprechen und Auf-sich-beruhen-Lassen. Biografische Interviews mit ehemaligen Kombattanten der postjugoslawischen Kriege 1991-1995.  Psychosozial. 2003;  91 7-25
  • 29 Lamott F .   . Das Trauma als symbolisches Kapital. Zu Risiken und Nebenwirkungen des Trauma-Diskurses.  Psychosozial. 2003;  91 53-62

Dr. med. Peter Theiss-Abendroth

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