ZFA (Stuttgart) 2007; 83(4): 135
DOI: 10.1055/s-2007-973856
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Des Guten zuviel?

Eva Hummers-Pradier
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Publication Date:
10 May 2007 (online)

Rehabilitation ist ein Schwerpunktthema dieser Ausgabe der ZFA: Der CME-Artikel stellt das Konzept der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) vor; der besondere Artikel von Höder et al. exploriert mögliche unerwünschte Wirkungen von Rehabilitation. Ein Ergebnis dieser Arbeit warnt: Trotz aller guten Intentionen und scheinbar aktivierenden Maßnahmen können stationäre Rehabilitationsmaßnahmen bei Patienten das Gefühl wecken, dass nur ganz viel Medizin-Expertise ihnen die nötige Sicherheit gibt und sie allein viel falsch machen bzw. womöglich zu Hause nicht zurecht kommen können. (Zu) viel Fürsorge schränkt hier das Vertrauen in die eigene Kompetenz ein. Übrigens: In den meisten unserer Nachbarländer sind Kuren bzw. stationäre Rehabilitationsmaßnahmen unbekannt. Man setzt dort auf ambulante Rehabilitation, die am Wohnort stattfindet und, soweit irgend möglich, mit dem Alltag der Patienten verzahnt sein soll.

Hoch im Kurs des Zeitgeists steht Prävention. Auch hier wird versucht, Sicherheit zu generieren. Allerdings wird Prävention im alltäglichen Sprachgebrauch oft beschränkt auf die Teilnahme an Impfungen oder so genannten Vorsorge- bzw. Screening-Untersuchungen. Manche gesetzliche Krankenkassen möchten die Teilnahme an Vorsorgeprogrammen quasi erzwingen: Diskutiert wird neben Bonusleistungen für regelmäßige Teilnahme sogar eine Malusregelung: Bei Nichtteilnahme an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen drohen Zuzahlungen im Krankheitsfall. Leider ist der Nutzen vieler Vorsorge- bzw. Früherkennungsuntersuchungen zweifelhaft. Leicht wird auch vergessen, dass Vor-Sorge nicht nur zumindest potenziell Schaden abwendet, sondern auch, wie der Name schon sagt, Sorgen macht. Es wird impliziert, dass nur durch ständige „Sorge” Krankheit abwendbar sei. Wer sich gegen eine Teilnahme entscheidet, steht als leichtsinnig, als „Sorg-los” da und soll womöglich bestraft werden. Fraglich ist allerdings, ob viel (Vor-)Sorge immer auch gesund ist: Der Schaden, der durch falsch positive Befunde und möglicherweise unnötig aggressive Therapie durchaus entstehen kann, wird nicht selten verschwiegen.

Während die niederländischen Hausärzte mit ihrem Motto „Primum non nocere” -„Zuerst einmal nicht schaden” zur Zurückhaltung raten, scheint in Deutschland ärztliches Handeln manchmal geleitet von der Ansicht, dass man doch „irgendetwas tun müsse.” Dieser Imperativ wird auch zur Rechtfertigung von Maßnahmen herangezogen, deren Nutzen nicht belegt oder sogar nie untersucht wurde. Verordnet und angewandt werden sie oft in der festen Überzeugung, dass „das doch zumindest nicht schaden könne”. Letztere Aussage ist allerdings in aller Regel unbewiesen und bei näherem Hinsehen oft nicht haltbar.Die Evaluation komplexer medizinischer Maßnahmen bzw. Behandlungsansätze ist eine wissenschaftliche Herausforderung. Bereits der Nachweis des Nutzens birgt methodische Schwierigkeiten: Geeignete Kontrollgruppen sind nicht leicht zu finden, die Verblindung von Patienten und Therapeuten ist meist nicht möglich, beides erschwert die Interpretation der Ergebnisse. Der Nachweis möglicher Schäden ist noch erheblich schwieriger. Unerwünschte Wirkungen sind oft zunächst diskret und nicht unmittelbar sichtbar, oder sie treten nur selten auf. Problematisch ist zudem der Nachweis der Kausalität; oft ist es kaum möglich, das schädliche (oder nützliche) Element in einer komplexen Intervention zu identifizieren. Entsprechende Studien erfordern große Fallzahlen, lange Nachbeobachtungszeiten, die Berücksichtigung möglicher Confounder und zumindest eine Vorstellung von den erwarteten unerwünschten Wirkungen, damit diese überhaupt beobachtet werden können.

Gerade zu komplexen Themen wie Prävention und Rehabilitation besteht noch viel Forschungsbedarf. Die Aufmerksamkeit sollte nicht nur auf die Effektivität, sondern auch auf mögliche schädliche Wirkungen gerichtet werden. Ein auf „Vorsorge” eingeengtes Präventionsverständnis und der in Deutschland klassische Rehabilitationsansatz können implizieren, dass Gesundheit nur durch viel Fremd-Expertise und regelmäßige Kontrollen zu erhalten oder wieder zu erlangen sei, also eine Abhängigkeit von „Für-Sorge” entsteht.

Das Vertrauen in die eigene Kompetenz und die eigenen Ressourcen ist eine wichtige Determinante von Gesundheit. Eigenkompetenz zu fördern ist eine zentrale (haus-)ärztliche Aufgabe. Wir sollten daher darauf achten, auch des Guten nicht zu viel zu tun.

Ihre Eva Hummers-Pradier

Korrespondenzadresse

Univ.-Prof. Dr. med. E. Hummers-Pradier

Abt. Allgemeinmedizin Medizinische Hochschule Hannover

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