ZFA (Stuttgart) 2008; 84(2): 58-66
DOI: 10.1055/s-2007-1022544
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zuzahlungen im Krankheitsfall - ein taugliches Instrument für mehr Gesundheit? - Ein Literaturüberblick

Patient Cost sharing - A Useful Instrument for More Health? - A Literature ReviewJ. Holst
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eingereicht: 02.11.2007

akzeptiert: 02.01.2008

Publication Date:
07 February 2008 (online)

Zusammenfassung

Hintergrund: Wachsender Kostendruck und die Forderung nach mehr „Eigenverantwortlichkeit” lassen allerorten den Ruf nach höheren Selbstbeteiligungen von Patienten laut werden. Wirtschaftstheoretische Begründungen und die Wahrnehmung vieler Ärzte scheinen für eine stärkere Steuerung der Inanspruchnahme des Gesundheitswesens zu sprechen, um der „Vollkasko-Mentalität” und dem „moral-hazard”- Verhalten der Patienten entgegen zu wirken. Obwohl die Debatte in Deutschland seit Einführung der Praxisgebühr und spürbarer Erhöhungen der Arzneimittelzuzahlungen intensiver geworden ist, liegen hierzulande vergleichsweise wenig empirische Ergebnisse vor. Ein Blick in andere Länder mit längerer Erfahrung und vor allem mit wechselnden Selbstbeteiligungsbedingungen verspricht wichtige Erkenntnisse über erwünschte und unerwünschte Wirkungen von Zuzahlungen.

Methode: Eine Literaturrecherche unter Zuhilfenahme von Suchmaschinen des World Wide Web und der Bibliografien gefundener Studien lieferte weit über 2000 Literaturstellen mit Bezug auf Patientenzuzahlungen im Gesundheitswesen. Es erfolgte eine Auswahl von Studien vorwiegend aus international anerkannten gesundwissenschaftlichen Publikationen, die den Auswirkungen von Zuzahlungen auf Prävention/Gesundheitsförderung und medikamentöse Therapie in Industrieländern nachgingen. Der vorliegende Beitrag stellt die Synthese der Auswertung dieser Artikel unter besonderer Berücksichtigung von klinisch-epidemiologischen Ansätzen und empirischen Befunden der Versorgungsforschung dar.

Ergebnis: Umfangreiche internationale Erfahrungen mit Eigenbeteiligungen im Gesundheitswesen unterstreichen bestehende Zweifel an der Wirksamkeit in von Patientenzuzahlungen im gewünschten Sinne wirtschaftstheoretischer Annahmen. Selbstbeteiligungen im Krankheitsfall wirken gleichermaßen auf die Inanspruchnahme sinnvoller und überflüssiger Gesundheitsleistungen. Und sie gefährden die Gesundheit und die soziale Absicherung der Gesamtbevölkerung. Anstelle der angestrebten rationalen Steuerung des Inanspruchnahmeverhaltens erzeugen Selbstbeteiligungen vor allem unerwünschte Effekte: Sie gefährden den Erfolg medizinischer Behandlungen, sie diskriminieren ältere und arme Patienten und sie sind mit der Gefahr verbunden, letztlich höhere Gesamtausgaben zu verursachen.

Schlussfolgerung: Patientenzuzahlungen verursachen beachtliche Fehlsteuerungen im Gesundheitswesen und erweisen sich unter Gesichtspunkten der klinischen Epidemiologie und der Versorgungsforschung als gesundheitsschädlich.

Abstract

Background: Increasing cost pressure and the request for more self-responsibility provoke generally the call for higher patient cost-sharing. Theoretical economic rationales and the perception of many physicians seem to support a stronger control of the utilisation of health care in order to prevent patient moral hazard and “welfare losses”. Although in Germany the debate has become more intensive since the implementation of charges for quarterly medical registration and the noticeable increase of drug co-payments, empirical evidence is scarce in this country. A view at other countries with longer experience, and especially with changing cost-sharing conditions, is promising to give relevant insights into desired and undesired effects of co-payments.

Methods: A literature review supported by world wide web search engines and bibliographical data contained in papers at hand provided far more than 2000 publications related to cost-sharing in health. A selection of research papers mainly published in internationally recognised journals of health sciences was carried out in order to identify the studies on effects of co-payments on prevention/promotion and drug therapy in industrialised countries. This paper represents a synthesis of these articles focussing especially on a clinical-epidemiological approaches and empirical health service research findings.

Result: Substantial international experience with cost-sharing in health care underpins existing doubts on desired effects, as theoretic rationales might suggest. Patient cost-sharing is unable to distinguish between “needed” and “frivolous” use of health services. Co-payments rather put in danger the health status and the social protection of the total population. Instead of the aspired rational steering force, co-payments use to create mainly undesired effects: They endanger the success of medical treatments, they discriminate against the elderly and the poor, and they are likely to entail higher overall expenditure.

Conclusion: Patient cost-sharing generates considerable steering errors for a health care system. In view of the criteria of clinical-epidemiology and health service research co-payments turn out to be harmful to health.

Literatur

1 Eine umfangreichere Darstellung der Effekte von Zuzahlungen in diesen und anderen Bereichen der medizinischen Versorgung findet sich in [4].

2 Bei der Unterscheidung nach Art der arbeitgeberfinanzierten Krankenversicherung fiel auf, dass der zuzahlungsinduzierte 5-9-prozentige bzw. 3-9-prozentige Rückgang von präventiven Beratungen bzw. von Gebärmutterhalsabstrichen sowohl bei HMO's als auch bei PPO's auftrat, während die um 3-9% verringerte Inanspruchnahme von Mammographien nur bei PPO's zu beobachten war [7] [16].

3 Im Jahr 2003 hatten insgesamt 68,6% der US-Bürger eine private Krankenversicherungspolice, der überwiegende Teil (60,4% der Bevölkerung) war über seinen Arbeitgeber in einer Gruppenversicherung [18].

4 Einschränkend ist zu betonen, dass die Studie nur rektale Untersuchungen und PSA-Tests berücksichtigt, ohne zwischen beiden Methoden zu unterscheiden.

5 Bei gestaffelten Medikamentenzuzahlungen fallen in der Regel die geringsten Eigenbeteiligungen bei Generika an, mittlere Zuzahlungen für erwünschte und die höchsten Eigenbeteiligungen für nicht erwünschte Markenpräparate [28] [29].

6 Allerdings scheinen erhöhte Medikamentenzuzahlungen in Deutschland den Anteil von Arzneimitteln gesteigert zu haben, die Ärzte zur Selbstmedikation bzw. zum Selbstkauf empfehlen [40] [41]. Die ärztlich empfohlene Selbstmedikation war 1998 mit 16 Prozent rund 2 Prozent höher als 1994. In der alten Bundesrepublik lag der Anteil aller über eine Arztempfehlung in der Apotheke gekauften rezeptfreien Arzneimittel 1998 bei 17% (13% 1994) und in der ehemaligen DDR einschließlich Berlin bei 14% (12% 1994) [40].

7 Anticholinergika, antiinflammatorische Asthma-Mittel, Leukotrienmodulatoren, orale und inhalative Steroide, Sympathomimetika und Xanthine.

8 Zu dieser Gruppe gehören ACE-Hemmer, Kalzium-Kanal-Blocker, Diuretika, β-Blocker und Angiotensin-II-Rezeptor-Blocker.

9 Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer und trizyklische Antidepressiva.

10 Sulfonylharnstoffe, Metformin, Glitazone und andere zuckersenkende Tabletten.

11 Eine repräsentative Umfrage unter US-Bürgern belegt, dass mehr als ein Fünftel der Erwachsenen mindestens einmal im Jahr aus Kostengründen Rezepte nicht eingelöst hat; 14% gaben an, verordnete Arzneimittel in geringerer Dosis und 16% sie seltener als verordnet eingenommen zu haben [50].

12 Medicare-Versicherte mit drei oder mehr chronischen Gesundheitseinschränkungen ohne Absicherung von Arzneikosten nutzten etwa 25% weniger Medikamente als solche mit umfassenderer Krankenversicherung, zahlten dafür aber dennoch im Jahresdurchschnitt 375 US-$ mehr aus eigener Tasche [52]. Dabei zeigt sich zudem ein Gender-Bias, denn Männer ohne Krankenversicherung erhielten 40% weniger Rezepte als ihre versicherten Geschlechtsgenossen, während sich dieser Unterschied bei Frauen nur auf 27% belief. In Bezug auf Direktzahlungen bedeutet dies, dass unversicherte Männer 47%, mehr für Arzneimittel aus eigener Tasche bezahlten, wohingegen Frauen ohne Krankenversicherung immerhin 60% mehr für Medikamente ausgaben als weibliche Versicherte [51].

13 Patienten mit Diabetes mellitus, koronarer bzw. ischämischer Herzkrankheit (insb. bei Z. n. Myokardinfarkt), Arteriosklerose oder anderweitigen Gefäßerkrankungen.

14 Gelegentlich erfolgen vergleichende Kalkulationen unter Einbeziehung der potenziell erreichbaren Verlängerung der Lebenserwartung infolge konsequenter sekundär- und tertiärpräventiver Therapie. Dabei stehen die Ausgaben der Versicherung im Mittelpunkt der Betrachtung, die sich bei längerer Lebens- und folglich Behandlungsdauer bei allen Versicherten erhöhen, bei denen die Kosten über den Beitragseinnahmen liegen [58]. Allerdings kollidiert bei solchen Fragestellungen die streng ökonomische Rationalität mit grundlegenden ethischen Vorstellungen und den ureigenen Aufgaben der Gesundheitsversorgungen und somit ihrer Finanzierung.

15 Nicht unerwähnt bleiben sollen an dieser Stelle auch die weiteren Untersuchungen und Berechnungen aus der frankokanadischen Provinz, die gezeigt haben, dass die üblicherweise unterstellte und gesundheitspolitischen Entscheidungen zugrunde gelegter Preiselastizität oftmals zu hoch angesetzt sind [74].

16 Allerdings besteht für ärmere Rentner in den USA die Möglichkeit einer zusätzlichen Absicherung über das Sozialprogramm Medicaid, das in vielen Fällen einen großen Teil der von Medicare nicht übernommenen Kosten trägt [76].

17 Am meisten verbreitet ist die Bitte um Ärztemuster (39,2%), gefolgt von der Einnahme geringerer als der verschriebenen Dosen (23,6%), Aussetzen verordneter Arzneimittel (16,3%), Verzicht auf andere Bedürfnisse (15%) und Borgen von Geld für den Medikamentenkauf (12%) [46].

18 Derzeit bestehen in Australien fixe Zuzahlungen für staatlich anerkannte Arzneimittel, die bestimmten Effizienz-, Sicherheits- und Qualitätskriterien genügen müssen, die pro Packung bei umgerechnet 11,80 US-$ liegen, aber für Personen mit Sozialversicherungsanerkennung (Arbeitslose, Studenten, Arme, Behinderte, etc.) nicht mehr als 1,90 US-$ betragen [78].

19 Dies lässt sich auch indirekt daraus ableiten, dass Medicaid-Versicherte mit einer Zusatzversicherung des Dialyseprogramms (ESRD) für Immunsuppressiva und Erythropoetin bei Niereninsuffizienz häufiger auch antihypertensive, kardiovaskuläre und andere Medikamente einnehmen, die von behandelnden Ärzte verschrieben sind und deren Kosten die Versicherung ebenfalls trägt [79].

20 US-amerikanische „consumer-driven health plans” umfassen gestaffelte Selbstbeteiligungen, die nach Art des Leistungserbringers oder in Abhängigkeit von der Vertragsgestaltung zwischen Versicherung und Krankenhaus variieren können. So kann der Eigenanteil beispielsweise für eine Leistenhernien-Operation zwischen 500 $ in einem Krankenhaus der Grundversorgung und 1000 $ in einem Universitätsklinikum schwanken. Ziel ist die Steuerung der Inanspruchnahme der Versicherten [81].

21 Auch in Deutschland gehen Schätzungen von einem Einsparpotenzial von etwa 1,5 Milliarden Euro durch konsequenten Generika-Einsatz aus [86]. Allerdings lassen der Rückgang des generikafähigen Marktsegmentes und die sinkenden Preisdifferenzen gegenüber Markenpräparaten vermuten, dass die Wirtschaftlichkeitspotenziale das vorausgesagte Ausmaß nicht erreichen werden [87].

22 S. z. B. [75] [31].

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