Psychiatr Prax 2006; 33(6): 305-306
DOI: 10.1055/s-2006-951403
Fortbildung und Diskussion
Leserbrief
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Thiel A, Röttgers HR. Zwangsbehandlung von psychisch kranken Menschen nach dem Betreuungsrecht. Psychiat Prax 2006; 33: 196-201

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Publication Date:
30 August 2006 (online)

 

Es ist schon erstaunlich, dass ein derartiger Beitrag unter der Rubrik "Fortbildung und Diskussion" völlig unreflektiert veröffentlich wird. Es steht zu befürchten, dass die zukünftige Medizingeneration die meiner Meinung nach falschen Rückschlüsse des Autors übernehmen. Der Verfasser vermittelt den Eindruck, dass leichtfertig bei BGB-Unterbringungen nach §1906, in erster Linie aus Unkenntnis, das Gebot der Güterabwägung, mithin die Verhältnismäßigkeit, häufig missachtet wird. Dies ist meine Erfahrung nicht. Für alle Eingriffe in Rechte des Einzelnen gilt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Dies bedeutet, dass eine Maßnahme wie Zwangsmedikation bzw. Zwangsbehandlung geeignet, erforderlich und notwendig sein muss. Eine Maßnahme hat zu unterbleiben, wenn die, durch die Maßnahme zu erwartenden Nachteile für den Betroffenen außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Erfolg stehen. Ein Verstoß dagegen würde zur Rechtswidrigkeit einer Maßnahme führen. Nach meiner Erfahrung wird dieser Grundsatzbezug bei Zwangseinweisungen und Zwangsbehandlungen durch die beteiligten Personen immer beachtet. Ansonsten wäre diese Maßnahmen schlichtweg rechtswidrig.

Mit großem Engagement bin ich täglich damit befasst, einen möglichst wenig traumatisierenden Verfahrensweg für meine Patienten zu finden. Sehr häufig gelingt es, Betroffene davon zu überzeugen, sich freiwillig in ärztliche Behandlung zu begeben und die Psychiatrie als das zu sehen, was sie sein sollte, nämlich ein guter Platz für die Patienten, ein Ort, wo sie Hilfe erfahren können.

Alle Fachleute wissen aber auch, dass es Fälle gibt, wo die Krankheit derart fortgeschritten ist, dass der Patient nicht mehr überzeugt werden kann, sich auf eine Behandlung mit Medikamenten einzulassen. Grundsätzlich darf eine Heilbehandlung nur mit Einwilligung des Betroffenen durchgeführt werden. Es kommt dabei für die Wirksamkeit der Einwilligung nicht auf die Geschäftsfähigkeit, sondern auf die natürliche Einsicht und Steuerungsfähigkeit an. Einwilligungsfähig ist, wer Art, Bedeutung und Tragweite einer Heilbehandlung zu erfassen und seinen Willen hiernach zu bestimmen vermag. Ist diese Fähigkeit vorhanden, dürfen Betroffene grundsätzlich gegen ihren Willen weder behandelt noch untergebracht werden (Oberlandesgericht Düsseldorf, l-25 Wx 73/03). Fehlt sie hingegen, darf dem Betroffenen, trotz entgegenstehenden Willens, medizinische Hilfe nicht verweigert werden.

Die wegen der grundsätzlichen Relevanz erforderliche gesetzliche Grundlage, hat der Gesetzgeber in §1906 BGB geschaffen. Heilbehandlungen und Unterbringungen sind im Falle des §1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB untrennbar miteinander verknüpft. Kann eine Heilbehandlung nicht durchgeführt werden, darf die Unterbringung nach dieser Vorschrift nicht angeordnet bzw. genehmigt werden. Sind die Voraussetzungen für eine Unterbringung zum Zwecke der Heilbehandlung hingegen erfüllt, so decken die gesetzliche Ermächtigung und die notwendige vormundschaftsgerichtliche Genehmigung (§1906 Abs. 2, Satz 1 BGB) nicht nur die mit der Unterbringung verbundene Freiheitsentziehung, sondern auch die Heilbehandlung selbst, zu deren Durchführung die Unterbringung abgeordnet worden ist ab (Landgericht Verden 1 T146/05).

Es ist nicht mit dem Sinn und Zweck des §1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB vereinbar, die Unterbringung zur Durchführung einer Heilbehandlung zu genehmigen, andererseits aber die zwangsweise Umsetzung dieser Heilbehandlung zu verbieten. Insofern ist die Unterbringung nur Mittel zum Zweck. Steht die Behandlung im Vordergrund, so umfasst die Genehmigung ggf. auch die erforderliche Zwangsbehandlung. Hinzu kommt, dass eine Unterbringung ohne gleichzeitige Behandlung auf eine bloße Verwahrung von Betroffenen hinausliefe. Dies wäre medizinisch nicht Erfolg versprechend und mit Sicherheit vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht gedeckt.

Erwartungsgemäß hat nun der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 1.2.2006 (XII ZB 236/05) klargestellt, dass eine zivilrechtliche Unterbringung eine Behandlung mit Zwang nicht ausschließt, Der Verfasser des Artikels hat recht, wenn er erwähnt, dass es bis zur Entscheidung des Bundesgerichtshofes divergierende Entscheidungen der Untergerichte gab. Der Bundesgerichtshof hat aber nun in genannter Entscheidung deutlich gemacht, dass eine zivilrechtliche Unterbringung eine Behandlung mit Zwang umfassen kann. Warum der Verfasser in seinem Artikel weiterhin eine höchstrichterliche Entscheidung wünscht, erschließt sich mir nicht. Er sollte dankbar sein, dass der BGH endlich Klarheit in dieser verständlicherweise umstrittenen Frage geschaffen und damit den Ärzten die Möglichkeit gegeben hat, endlich mit notwendiger Rechtssicherheit in sehr beschränkten Einzelfällen den Betroffenen zu helfen. Mir sind mehrere Fälle bekannt, bei denen Patienten über Monate in psychiatrischen Klinik verwahrt werden, ohne dass ihnen medizinisch durch Durchführung einer Zwangsmedikation geholfen wurde. Die Patienten sind dann nach Monaten entlassen worden, leben weiterhin unbehandelt in ihren Wohnungen unter Fortschreiten der schweren chronischen Erkrankung und unter Verlust aller sozialen und familiären Bindungen.

Ich hatte die große Hoffnung, dass nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofes eine Änderung für diese Fälle eintritt. Wenn ich den v.g. Beitrag aber richtig interpretiere, befürchte ich, dass dies nicht der Fall sein wird. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Autor vergisst, dass er in erster Linie Arzt ist und damit verpflichtet, den Menschen zu helfen. Leidtragende sind in dieser Diskussion die unbehandelten Patienten, gefangen in den unergründbaren Ängsten und Zwängen ihrer Erkrankung. Es ist unerklärlich, dass die segensreichen Fortschritte der Psychiatrie und die damit verbundenen Behandlungsmöglichkeiten oft auf unverantwortliche Weise ignoriert werden, auch auf Kosten möglicher Rehabilitation. Damit ist in einer juristischen Auseinandersetzung der Patient aus dem Fokus verloren worden.

Dr. Jutta Dreyer

Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapie und Öffentliches Gesundheitswesen

Lindhooper Straße 67

27283 Verden/Aller

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