ZFA (Stuttgart) 2006; 82(11): 523-524
DOI: 10.1055/s-2006-942302
DEGAM-Nachrichten

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Verleihung der Hippokrates-Medaille 2006 an Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus Dörner

Hippokrates Medal 2006 Awarded to Professor Klaus DörnerJ. Hauswaldt1 , T. Lichte1
  • 1Abteilung Allgemeinmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover
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Publication Date:
21 November 2006 (online)

Genussvoll scheiterte der Laudator, Professor Hendrik van den Bussche (Hamburg) an der Aufgabe die vielfältigen und wirkmächtigen Lebensstationen des streitfreudigen Arztes, Psychiaters und Historikers, „Bergeversetzers und Öffentlichkeitsprofis”, Professor Dr. med. Dr. phil. Klaus Dörner, in zehn Minuten einzuzwängen - dafür gelang ihm mittels bedacht ausgewählter und heißen Herzens vorgetragener Zitate im Zuhörer die Lust hervorzurufen, Dörners weit verbreitete Bücher wie „Freispruch der Familie”, „Irren ist menschlich”, „Der gute Arzt” (wieder) zu lesen.

Klaus Dörner, gewiefte Meisterschaft des Alten beweisend, verließ seine vorbereitete Dankesrede und extemporierte gekonnt den Bogen über seine klare These:

Es sei die Perspektive der Hausärzte, mit Hilfe der Bürger einer Nachbarschaft alle abweichenden Menschen - jeder sei letztlich ein Abweichler - in ihrem Bereich zu integrieren, weil hilfsbedürftige und helfensbedürftige Bürger einander benötigen; wo nicht, werde es auch den Bessergestellten, weil Gesunden, schlechter ergehen.

Er entwickelte dabei den schönen Gedanken von den Hilfs- und den Helfensbedürftigen, also denen, die der Hilfe bedürfen, und denen, die helfen, weil sie anderen helfen müssen und nur dadurch selber gesunden und gesund bleiben können.

Im Vorbeigehen propagierte Dörner eine werte Forschungsidee: zu untersuchen die Gründung 1830 bis 1850 von Ärztevereinen, sozial engagiert in kommunalen Aktivitäten als Teil der allgemein-solidarischen Bürgerbewegung, die Nebenwirkungen der Industrialisation aufzufangen; beendet durch Bismarcks Sozialgesetzgebung als Sozialstaatsstreich von oben, durch den der kleinste tragfähige Sozialverband, Familie und Nachbarschaft, für überflüssig erklärt und zerschlagen wurde.

Seit 1980 beobachte er einen merkwürdigen und bisher nicht erklärbaren Umbruch, parallel zum Stillstand im ökonomischen Wachstum - Europa sei wohl „ausgewachsen”:

Neue Kranke, nämlich Alterskranke und Demente in großer Zahl, körperlich chronisch Kranke, sowie „neo-psychisch” Kranke („Angstwelle”, „Depressionswelle”, „Traumawelle”). Immer mehr Menschen, die „bei gnadenloser Gesundheit” unter einem Allzuviel an sinnfreier Zeit leiden - ein Teil dieser Zeit müsse „sozial geerdet” sein: Menschen seien bereit, soziale Zeit zu geben, wofür sie selbstverständlich Geld nähmen. Wiederentdeckung des Dritten Sozialraums, nämlich der Nachbarschaft, zwischen Privatsphäre einerseits und Öffentlichem Raum und Kommune andrerseits gelegen, des Raumes, wo alle „wir” sagen und daraus eine „territoriale Verantwortlichkeit” definieren. Das Einzugsfeld einer Hausarztpraxis sei perfekt deckungsgleich mit diesem Dritten Sozialraum der dort versorgten Bürger und Patienten.

Pointierte Einzelbemerkungen Dörners ließen die Zuhörer aufhorchen und auflachen, sie luden zum Widerspruch ein:

von der Pseudosicherheit der Patientenverfügung - weil wir nicht der sein werden, der jetzt verfügt, und wir vorher nicht wissen können, welcher andere Mensch wir nachher sind; von der Qualitätssicherung, die geeignet sei, Qualität abzuschaffen: was jeder Einzelne benötige, sei Qualität, nicht ihre Standardisierung.

Er nahm die Gefahr der Einvernahme von falscher Seite, der Sparer und Rationalisierer in Kauf, durch die eventuell die von ihm

betriebene Deinstitutionaliserung von psychisch Kranken, versorgungsbedürftigen Alten und anderen Betreuungsbedürftigen eventuell zur Verschlechterung deren Lebenssituation führt.

Freudig nahm Professor Dr. Dr. Klaus Dörner die Ehrung mit der Hippokrates-Medaille entgegen, begleitet vom großen Beifall der Teilnehmer des 40. Kongresses der DeGAM in Potsdam.

Dr. J. Hauswaldt

Abteilung Allgemeinmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover

OE 5440

31625 Hannover

Email: Hauswaldt.Johannes@mh-hannover.de

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