Sprache · Stimme · Gehör 2006; 30(2): 85-86
DOI: 10.1055/s-2006-941534
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Zeitige Einlage von Paukenröhrchen sinnlos?

Temporary Insertion of Ventilation Tubes - Does it Make Sense?R. Schönweiler1
  • 1Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Lübeck
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Publication Date:
22 June 2006 (online)

Seit vielen Jahrzehnten publiziert der Kinder- und Jugendarzt Jack Paradise, Universität Pittsburgh (USA), Studien, die nachweisen, dass geringgradige schwankende Schalleitungsschwerhörigkeiten weder intellektuelle Entwicklungsstörungen noch Spracherwerbsstörungen verursachen und dass sich mit der Behandlung mit Paukenröhrchen keine positiven Effekte erzielen lassen. Da seine Arbeiten in Journalen mit hohem Impact Factor erscheinen, z. B. Pediatrics und New England Journal of Medicine, finden seine Ergebnisse große Beachtung, besonders bei Kinder- und Jugendärzten in aller Welt und auch sicher auch bei vielen Lesern dieser Zeitschrift.

Die aktuelle Publikation der Arbeitsgruppe um Paradise wird in kinderärztlichen Mitteilungsorganen und im Internet wohlwollend kommentiert und verbreitet. Sie ist eine Fortsetzung einer im Jahr 1991 begonnenen Studie zum Effekt einer „frühen” versus einer „späten” Einlage von Paukenröhrchen bei „Mittelohr-Effusionen”, d. h. bei Paukenergüssen [1]. Das Studiendesign ist prospektiv und randomisiert. Die Ergebnisse sind sorgfältig ausgewertet und statistisch geprüft. Sicher: Wer die Arbeiten von Paradise und Mitarbeitern kritisiert, muss es erst einmal besser machen. Dazu erläuterten Ptok und Eysholdt die generellen Schwierigkeiten bei der Auswahl und Realisation eines für die Fragestellung geeigneten Studiendesigns und die prinzipiell eingeschränkte Wertigkeit der Ergebnisse solcher Studien [2]. Trotz dieser prinzipiellen Einschränkungen, die nicht den Autoren Paradise und Mitarbeitern angelastet werden darf, sollte Kritik erlaubt sein, um einer Fehlinterpretation zum Nachteil spracherwerbsgestörter Kinder vorzubeugen.

Diese Kritik wurde bereits mehrfach für ähnliche Arbeiten von Paradise in diversen Reviews und Metaanalysen formuliert, z. B. durch Butler et al. [3], Casby [4], Northern & Downs [5], Roberts et al. [6], Rovers et al. [7] und Schönweiler [8]. Da die Methodik der aktuellen Arbeit aus früheren übernommen wurde, muss die Kritik erneut aufgegriffen werden:

Paradise und Mitarbeiter stellten die Paukenergüsse durch otoskopische und tympanometrische Untersuchungen fest. Mit otoskopischen Instrumenten lassen sich diskrete, auf Paukenergüsse hinweisende Befunde nicht erkennen, wie z. B. feine Gefäßerweiterungen oder ein Sekretspiegel. Besser hätte man ohrmikroskopische Beurteilungen verwendet. Zudem stimmen die in der Studie maßgeblichen tympanometrischen Befunde nur zu etwa 2/3 der Fälle mit visuell festgestellten Befunden überein [9]. Es ist also fraglich, ob die Paukenergüsse überhaupt zuverlässig erkannt wurden - mit Auswirkungen auf die Patientenauswahl und die Ergebnisse.

Nach gängiger Lehrmeinung ist es aber nicht der Paukenerguss an sich, sondern der dadurch verursachte Hörverlust, der die Entwicklung der Kinder stören kann [5]. Nun ist aber die Spannweite für den Hörverlust beim Paukenerguss mit 20 bis 50 dB recht groß [8]. Die Autoren hätten also gut daran getan, das Hörvermögen nach (päd-) audiologischen Qualitätsmaßstäben zu ermitteln. Zwar wurden subjektive Schwellenmessungen durchgeführt, aber ohne Bewertung gemäß Entwicklungsalter und nur als „normal” oder „abnormal” klassifiziert.

Die „frühe” und „späte” Einlage von Paukenröhrchen erscheint nur auf den ersten Blick scharf definiert zu sein. Beim genauen Studium der Arbeit wird schnell klar, dass sich der Zeitpunkt der Einlage von Paukenröhrchen in den beiden Gruppen gar nicht so stark unterscheidet. In der „frühen Gruppe” (n = 216) erfolgte die Einlage von Paukenröhrchen bei 62 Kindern binnen 30 Tagen, bei 131 Kindern binnen 60 Tagen und bei 159 Kindern binnen 180 Tagen. Mit 3, 4 und 6 Jahren erhielten bei jedem dieser Jahrgänge etwa 160 Kinder Paukenröhrchen. 31 Kinder erhielten bis zum 6. Lebensjahr überhaupt keine Paukenröhrchen. In der „späten Gruppe” (n = 213) erfolgte die Einlage von Paukenröhrchen bei 3 Kindern binnen 30 Tagen, bei 8 Kindern binnen 60 Tagen und bei immerhin 21 Kindern binnen 180 Tagen. Mit 3, 4 und 6 Jahren erhielten in jedem dieser Jahrgänge sogar etwa 70 Kinder Paukenröhrchen. 113 Kinder erhielten bis zum 6. Lebensjahr keine Paukenröhrchen. Die unpräzise Definition eines Hörverlusts und die gar nicht so scharfe Unterscheidung zwischen „früher” und „später” Paukenröhrcheneinlage „verwischen” also die Gruppeneinteilung und vermindern a priori die zu erwartenden Unterschiede in der (Sprach-) Entwicklung.

Die verwendeten Entwicklungstests sind ebenfalls zu kritisieren, denn es wurde Wert auf eine möglichst umfassende Entwicklungsprüfung gelegt - auf Kosten der Genauigkeit. Während der Intelligenztest noch angemessen erscheint (Wechsler Intelligence Scale for Children - ähnlich HAWIK), wurde die Sprachentwicklung lediglich mit einer Reihe von Screening-Tests geprüft: „Peabody Picture” Wortschatztest, SCAN-Test der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung, Silbenfolgegedächtnistest ähnlich Mottier-Test, Number of Different Words Test, ein Satzlängentest und ein Test für die Lautproduktion. Außerdem wurden einige Fragebogen für Eltern und Lehrer verwendet. Solche Tests können sprachliche Leistungen nur stichprobenartig erfassen.

Außerdem wurden die Ergebnisse an Kindern „ohne Risiko” im Sinne der gemeinsamen Leitlinie der amerikanischen Hausärzte, Kinder- und Jugendärzte und HNO-Ärzte durchgeführt [10]. Schon deshalb können sie nicht auf Kinder angewendet werden, die bereits sprachgestört sind oder von einer Sprachstörung bedroht sind. Bei diesen Kindern ist davon auszugehen, dass die Möglichkeiten zur Kompensation schwankender geringgradiger Schallleitungsschwerhörigkeit nicht mehr ausreichen. Deshalb empfiehlt die Leitlinie für Kinder mit Risiken oder mit manifesten Sprachstörungen eine „promptere” operative Behandlung von Paukenergüssen.

Was lernen wir aus der aktuellen Publikation der Arbeitsgruppe von Paradise? Gesunde Kinder ohne weitere Risken und Komorbiditäten können Paukenergüsse offenbar so gut kompensieren, dass man mit der Einlage von Paukenröhrchen statt 3 - 6 Monate auch 6 - 9 Monate abwarten kann, ohne dass im Alter von 6 Jahren Nachteile für die (Sprach-) Entwicklung festzustellen sind. Jedoch: Den generellen Verzicht auf die Einlage von Paukenröhrchen empfehlen Paradise und Mitarbeiter auch für Kinder ohne Risiken nicht. Und hinsichtlich der Behandlung von Kindern mit Risiken spricht sich die amerikanische Leitlinie eindeutig für eine zeitige Einlage von Paukenröhrchen aus.

Literatur

  • 1 Paradise J L, Campbell T F, Dollaghan C A. et al . Developmental outcomes after early or delayed insertion of tympanostomy tubes.  New Engl J Med. 2005;  353 576-586
  • 2 Ptok M, Eysholdt U. Auswirkungen rezidivierender Paukenergüsse auf den Spracherwerb.  HNO. 2005;  53 71-77
  • 3 Butler C C, van Linderen M K, MacMillan H L, van der Wouden J C. Should children be screened to undergo early treatment for otitis media with effusion? A systematic review of randomized trials.  Child Care, Health & Developm. 2003;  29 425-432
  • 4 Casby M W. Otitis media and language development: A meta-analysis.  Am J Speech Lang Pathol. 2001;  10 65-80
  • 5 Northern J L, Downs M P. Hearing in children. 5. Aufl Lippincott Baltimore; 2002: 80-84
  • 6 Roberts J E, Rosenfeld R M, Zeisel S A. Otitis media and speech and language: a meta-analysis of prospective studies.  Pediatrics. 2004;  113 238-248
  • 7 Rovers M M, Black N, Browning G G. et al . Grommets in otitis media with effusion: an individual patient data meta-analysis.  Arch Dis Child. 2005;  90 480-485
  • 8 Schönweiler R. Mittelohrschwerhörigkeit und Sprachentwicklung. Hauptvortrag bei der 75. Jahresversammlung der Deutschen Gesellschaft für HNO-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie, 19. - 23. Mai 2004 in Bad Reichenhall.  HNO-Informationen. 2004;  29 144
  • 9 Schönweiler R, Ptok M, Radü H J. A cross-sectional study of speech- and language-abilities of children with normal hearing, mild fluctuating conductive hearing loss, or moderate to profound sensoneurinal hearing loss.  Int J of Pediatr Otorhinolaryngol. 1998;  44 251-258
  • 10 Am Acad Family Physicians, Am Acad Otolaryngol Head Neck Surg, Am Acad Pediatrics: US Clinical practice guideline. Pediatrics 2004 113: 1412-1429

Prof. Dr. med. Rainer Schönweiler

Abt. für Phoniatrie und Pädaudiologie

Universitätsklinikum Schleswig-Holstein

Ratzeburger Allee 160

23538 Lübeck

Email: rainer.schoenweiler@phoniatrie.uni-luebeck.de

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