ZFA (Stuttgart) 2006; 82(5): 209-213
DOI: 10.1055/s-2006-933405
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Wie diagnostizieren Hausärzte eine somatoforme Störung?

Praxis-Untersuchung zur Anzahl von Symptomen, psychosozialen Problemen und inadäquatem Krankheitsverhalten von PatientenFamiliy Doctors - How Would They Diagnose a Somatoforme Disorder?D. Jobst1
  • 1Medizinische Fakultäten Bonn und Düsseldorf
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Publication Date:
11 May 2006 (online)

Zusammenfassung

Einleitung: Die somatoforme Störung, auch bekannt als funktionelle Störung, wird durch die ICD-10 im psychiatrischen Abschnitt F45 definiert. Die Erkennbarkeit dieser Störung ist schwierig. Wie hängt die Anzahl der Symptome, wie hängen psychosoziale Störungen und inadäquates Krankheitsverhalten mit der ärztlichen Diagnose der Störung zusammen? Methoden: In 12 Hausarztpraxen wählten Ärzte Patienten mit und ohne die Vermutung einer somatoformen Störung aus. Sie untersuchten die Patienten gründlich, vermerkten deren Symptome, psychosoziale Verhaltensstörungen sowie inadäquates (hypochondrisches) Krankheitsverhalten. Patienten beantworteten Fragen über die Häufigkeit von 36 Beschwerden, fünf Fragen zu psychosozialen Belastungen, vier zu ihrem Krankheitsverhalten und eine zur Häufigkeit von Arztbesuchen. Ergebnisse: 1. 23 Patienten wurden ärztlich als nicht, 24 als somatoform gestört eingeschätzt. Letztere nannten überzufällig häufige und vielfältige Symptome (t-Test: CI 0,33-3,7 und p = 0,021). 2. Ärzte stuften 15 dieser 24 Patienten als auch sozial, beruflich und interpersonal gestört ein (Chi-Quadrat-Test: p = 0,0001). Aus den Patientenangaben hierzu konnte ein überzufälliger Zusammenhang mit einer vermuteten somatoformen Störung jedoch nicht errechnet werden. 3. Auch Fragen nach körperlicher Schwäche und Empfindlichkeit, nach vielen Sorgen um die eigene Gesundheit etc. waren nicht mit der ärztlichen Diagnosevermutung einer somatoformen Störung assoziiert. Schlussfolgerung: Die zahlenmäßige Erfassung von Beschwerden/Symptomen ist ein wesentlicher Bestandteil der Diagnosestellung, psychosoziale Verhaltensstörungen und inadäquates Krankheitsverhalten in unserer Arbeit nicht. Die Gründe hierfür werden diskutiert. Eine im Praxisalltag umsetzbare strukturierte Hilfe bei der Diagnosestellung erscheint wertvoll und notwendig.

Abstract

Introduction: Somatoforme disorders, also known as functional diseases, are defined through the psychiatric chapter F45 within the ICD-10. These disorders are difficult to recognize. How does the number of symptoms influence doctors' diagnosis? How does the evaluation of psychosocial malfunctions and of hypochondric attitudes attribute to this? Methods: Twelve familiy doctors preselected patients with and without somtoforme disorders. They performed a thorough physical examination, wrote down the patients' symptoms and recorded psychosocial difficulties as well as hypochondric attitudes. Patients had to answer a questionnaire about 36 complaints, 5 questions about psychosocial circumstances, 4 about hypochondric thoughts and feelings and one about the frequency of consultations at surgeries. Results: 24 patients were diagnosed as somatizers, wereas 23 were not. The first group offered considerably more symptoms/complaints than the controls (t-test CI 0.33-3.7; p = 0.021). Doctors labelled 15 out of these 24 somatoforme patients with social, professional and interpersonel malfunctions, too (Chi-Quadrat-test: p = 0.0001). Patients records however didn't reveal any statistical associations to the doctors' diagnoses. Also questions about bodily weakness, sorrows about their own sanitiy etc. weren't statistically associated. Conclusion: To count all the symptoms must be regarded as essential. In contrary, psychosocial difficulties and hypochondric behavior in our trial did not show associations to somatoforme disorders. Reasons for this will be discussed. A structured instrument for the diagnostic work in family practice nevertheless seems to be helpfull and necessary regarding somtoforme disorders.

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1 Definition der somatoformen Störungen F45.0, F45.1 (ICD-10-SGBV, Systematisches Verzeichnis (10. Revision) 6/99, Deutscher Ärzteverlag)
F45.0, F45.1: Charakteristisch sind multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome, die wenigstens zwei Jahre bestehen. Die meisten Patienten haben eine lange und komplizierte Patienten-Karriere hinter sich, sowohl in der Primärversorgung als auch in spezialisierten medizinischen Einrichtungen, wo viele negative Untersuchungen und ergebnislose explorative Operationen durchgeführt sein können. Die Symptome können sich auf jeden Körperteil oder jedes System des Körpers beziehen. Der Verlauf der Störung ist chronisch und fluktuierend und häufig mit einer langdauernden Störung des sozialen, interpersonalen und familiären Verhaltens verbunden. Eine kurzdauernde (weniger als zwei Jahre) und weniger auffallende Symptomatik wird besser unter F45.1 klassifiziert (undifferenzierte Somatisierungsstörung).

2 „Screening für Somatoforme Störungen”: Psychiatrisch-klinisches Erhebungsinstrument, u. a. mit 52 Items zur Angabe von Symptomen und 14 weiteren Fragen, mit Befindlichkeits-Tagebuch, mit Fragebogen zur Veränderungsmessung etc.

3 Schwellenwert laut ICD-10-Forschungskriterien, von dem an die Diagnose als gesichert gilt: Sechs von 14 Symptomen aus mindestens zwei Körperbereichen.

Dr. Detmar JobstArzt für Allgemeinmedizin und Naturheilverfahren 

Lehrbeauftragter der medizinischen Fakultäten Bonn und Düsseldorf

Rilkestr. 53

53225 Bonn

Email: detmarJ@uni-bonn.de

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