Sprache · Stimme · Gehör 2006; 30(1): 1
DOI: 10.1055/s-2006-931523
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial

G. Bodenmann1
  • 1Universität Freiburg, Institut für Familienforschung und -Beratung
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Publication Date:
17 March 2006 (online)

Wenn man jemanden fragen würde, was er unter Lernen versteht, würde man vielleicht spontan eine Antwort erhalten wie: „Die Aneignung der Kenntnisse neuer Vokabeln, das Auswendiglernen der Hauptstädte in Europa” oder ähnliches. Diese Erläuterungen würden sich also darauf beziehen, dass eine Person sich neue Wissensinhalte aneignet. Im Gegensatz dazu wird der Ausdruck Lernen in der Lernpsychologie erweitert und spezifiziert gebraucht. Lernen wird im lernpsychologischen Kontext als ein Erfahrungsprozess aufgefasst, der zu einer relativ dauerhaften Veränderung des Verhaltens bzw. des potenziellen Verhaltens (Verhaltensdisposition) führt. Verhaltensänderungen, die durch temporäre Zustände, Reifung oder angeborene bzw. genetische Reaktionstendenzen erklärt werden können, sind ebenso ausgeschlossen, wie Verhaltensänderungen, die auf Wachstumsvorgänge, Ermüdung, Alterung, Einwirkung von Pharmaka oder Verletzung zurückzuführen sind. Nach Bower und Hilgard [1] bezieht sich Lernen auf die Veränderung im Verhalten oder im Verhaltenspotenzial eines Organismus hinsichtlich einer bestimmten Situation, die auf wiederholte Erfahrung des Organismus in dieser Situation zurückgeht, vorausgesetzt, dass diese Verhaltensänderung nicht auf angeborene Reaktionstendenzen oder vorübergehende Zustände (wie etwa Müdigkeit, Trunkenheit, Triebzustände, u. s. w.) zurückgeführt werden kann.

Ähnlich definieren Perrez und Patry [2] Lernen als „Aufbau (bzw. Abbau) von relativ stabilen Verhaltensdispositionen im weitesten Sinne [...], also Dispositionen zu offenem (direkt Beobachtbarem) und/oder verdecktem, zu psychomotorischem, affektivem, kognitivem und vegetativem Verhalten aufgrund von Erfahrung. Unter einer Verhaltensdisposition versteht man die Bereitschaft des Organismus, sich unter mehr oder weniger spezifischen (in Grenzfällen generellen) Bedingungen in einer bestimmten Weise zu verhalten; also z. B. Gedächtnisinhalte abzurufen, bestimmte Probleme lösen zu können oder mit Angst zu reagieren.”

Die oben erwähnte Aneignung von intellektuellem, kulturellem und sozialem Wissen ist in gewisser Weise ebenfalls als Erwerb von Verhalten zu sehen. So ermöglicht uns z. B. neu erworbenes soziales Wissen, uns dementsprechend anders zu verhalten. In den nachfolgenden Arbeiten wird insbesondere auf das Verständnis von Lernen als Verhaltensänderung eingegangen. Die Analyse des schulischen Lernens (z. B. Lernstrategien) werden dagegen nicht abgehandelt. Lernvorgänge im Sinne von Verhaltensänderungen oder Änderungen von Verhaltensdispositionen spielen natürlich auch bei der Therapie von Sprachstörungen, Sprechstörungen, Stimmstörungen usw. eine eminent wichtige Rolle. Deshalb freue ich mich, dass wir Ihnen mit dem hier vorliegenden bzw. nachfolgenden Schwerpunktheft basale Grundlagen der klassischen Lerntheorien näher bringen können.

An dieser Stelle möchten wir Herrn Prof. Dr. Ptok herzlich danken, dass er als Herausgeber der Zeitschrift „Sprache-Stimme-Gehör” unserem Lehrbuch [3] zu Lerntheorien so viel Interesse entgegenbringt und die Thematik viel Raum in seiner Zeitschrift einnehmen lässt. Die hier abgedruckten Texte wurden vom Herausgeber in Anlehnung an unser Lehrbuch für die Leserinnen und Leser der Zeitschrift „Sprache-Stimme-Gehör” adaptiert.

Literatur

  • 1 Bower G H, Hilgard E R. (1983). Theorien des Lernens. Band I. Stuttgart: Klett-Cotta. 
  • 2 Perrez M, Patry J- L. (1981). Lernen und Lerntheorien. In: H. Schiefele & A. Krapp (Hrsg.) Handlexikon zur Pädagogischen Psychologie (S. 231-239). München: Ehrenwirth Verlag. 
  • 3 Bodenmann G, Perez M, Schär M. Klassische Lerntheorien. Grundlagen und Anmerkungen in Erziehung und Psychotherapie. Bern: Hans Huber, 2004. 

Prof. Dr. Guy Bodenmann

Universität Freiburg

Institut für Familienforschung und -Beratung

Avenue de la Gare 1

1700 Fribourg

Schweiz

Email: joseguy.bodenmann@unifr.ch

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