physioscience 2006; 2(4): 169-170
DOI: 10.1055/s-2006-927236
Kongressbericht

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

3. Symposium zur Forschung in der Physiotherapie am 9.9.2006 in Göttingen

H. Thieme
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Publication Date:
21 November 2006 (online)

Nun schon zum 3. Mal und für einige Physiotherapeuten mittlerweile fast traditionell trafen sich am 9. September 2006 ungefähr 90 Teilnehmer zum Symposium für Forschung in der Physiotherapie im Uniklinikum Göttingen. Die im Gegensatz zu den Vorjahren nicht mehr als „deutsches” Symposium bezeichnete Veranstaltung überschritt die Ländergrenzen und glänzte mit europäischer Beteiligung, und auch die Organisation war leicht verändert.

Nach einer kurzen Begrüßung durch Dr. Erwin Scherfer (Physio-Akademie) und einer Vertreterin der Bereichseinheit Physiotherapie des Uniklinikums begann Prof. Dr. Christian Grüneberg (Europa-Fachhochschule Fresenius, Idstein) mit seinem Leitvortrag Klinische Studien in der Physiotherapie - Fallgrube und Herausforderung klientenzentrierter Praxis, in dem er den Fragen nach dem Sinn von (klientenzentrierter) Forschung nachging. Nach grundlegenden Erklärungen naturwissenschaftlicher Paradigmen bzw. deren Niederschlag in der experimentellen quantitativen Forschung beleuchtete er das Feld der klientenzentrierten Praxis. Dabei steht der aktive, am Therapieprozess beteiligte und mit dem Faktor des Erfahrungswissens ausgestattete Patient im Mittelpunkt. Prof. Grüneberg zeigte Möglichkeiten auf, wie dieser aktiv an der Zielsetzung und dem Erheben von Zielgrößen beteiligt werden kann. Leider blieb die Frage offen, wie sich in der Physiotherapie die begriffliche Unterscheidung zwischen Patient und Klient treffen lässt und eine klienten-(patienten-)zentrierte Forschung im Detail aussehen könnte. Die anschließende Frage eines Zuhörers, wie in 6 Einheiten Physiotherapie eine klientenzentrierte Arbeit zu gewährleisten ist, wenn schon 2 Therapien für die Untersuchung genutzt werden, löste eine lebhafte Diskussion unter den Beteiligten aus.

Nach einer Kaffeepause entführte Ass. Prof. Dr. Susanne Rosberg (Universität Göteborg) die Teilnehmer in die Landschaften Schwedens und die Geschichte der schwedischen Physiotherapie. In ihrem dreisprachigen (englisch, deutsch, schwedisch) Vortrag öffnete sie die weit gehende Black Box der theoretischen Fundierung der Physiotherapie mit Fragen wie Was ist Physiotherapie?, Auf welches Wissen kommt es in der PT an?, Welche sind die zugrunde liegenden Annahmen der Physiotherapie? und Wie erforschen wir diese?.

Weitere zentrale Ansätze von Prof. Rosberg war die Frage nach dem Verständnis von Physiotherapie, das durch die eingesetzte Forschungsmethode konstruiert wird, was diese leisten kann und was nicht und welcher „Fisch” damit gefangen werden kann. Anhand einer Konstruktion des Forschungsprozesses zeigte sie die Wichtigkeit der angemessenen Nutzung quantitativer und qualitativer Forschungsansätze und präsentierte als Beispiel ihr Projekt Körper, Sein und Bedeutung sowie eine physiotherapeutische Perspektive der Rehabilitation von Patienten mit Burn-out-Syndrom. Das von ihr genutzte qualitative Verfahren verdeutlichte anschaulich die Notwendigkeit forschungstheoretischer Angemessenheit als Grundlage der Wissensgenerierung in der Physiotherapie.

Im Anschluss folgte die Posterpräsentation, die in diesem Jahr einen besonderen Stellenwert einnahm. Die Autoren stellten die Poster bei einer von Dr. Erwin Scherfer moderierten Begehung kurz vor. Einige sehr interessante und professionell dargestellte Beiträge machten Mut für die Zukunft der physiotherapeutischen Forschung.

Nach einer Stärkung während der Mittagspause, das nebenbei bemerkt der auch sonst hervorragenden Organisation des Symposiums gerecht wurde, leitete Dr. Nico van Meeteren (Universität Utrecht) mit einer ungewöhnlichen Frage in seinen schon im Vorfeld als provozierend bezeichneten Vortrag ein: Have you ever been in love? Das Thema des englischsprachigen Vortrags We should, we could, and we say that we do - but we don’t - Evidenz-basierte Praxis, die niederländische Erfahrung versprach Spannendes, und - um es vorweg zu nehmen - er übertraf alle Erwartungen und vieles bisher Gesehene. In sehr eindrucksvoller, zum Teil witziger, aber in jedem Fall fesselnder Art und Weise zeigte Dr. van Meeteren anhand der physiotherapeutischen Geschichte Hollands, wie sich die Physiotherapie von innen heraus professionalisieren kann und wie dabei ein durch äußere und innere Einflüsse entstandenes Chaos hilft, die Profession zu strukturieren. Wichtige Meilensteine, wie das Streichen physiotherapeutischer Leistungen aus den Grundlagenleistungen der niederländischen Krankenkassen, die zwangsweise Registrierung und Zertifizierung und der direkte Zugang (d. h. ohne ärztliche Verordnung) zu Physiotherapeuten haben in Holland zur Steigerung der Autonomie und zur Verbesserung akademischer Ausbildung der Physiotherapie geführt. Weiterhin thematisierte Dr. van Meeteren Probleme der Evidenz-basierten Praxis und die Notwendigkeit der Kommunikation von Forschern und Praktikern. Er plädierte abschließend für den Mut zur Diskussion, verschiedener Ansicht zu sein und diese zuzulassen sowie das bisherige Wissen in Zukunft weiter zu präzisieren und einzusetzen. Lang anhaltender Applaus quittierte den grandiosen Vortrag und hinterließ einen sprachlosen Moderator.

Die Nachmittagssession wurde durch Methoden-Workshops gefüllt. In den 5 Workshops führten die Referenten in Themen wie therapeutische Leitlinien, qualitative Forschungsansätze in der Physiotherapie, standardisierte Outcome-Messung und den kritische Blick auf Studien und Statistik ein. Für manche beinhalteten sie Wiederholung, für viele aber neue Impulse, sodass sich die Teilnehmer durchgängig positiv äußerten.

Nach einer kleinen Pause begann das Abschlussplenum mit viel Lob und Dank und der unbedingten Bitte, die Grundidee des Symposiums in die Welt der deutschen Physiotherapie weiterzuverbreiten und trotz nur mäßiger Beteiligung die jährliche Tradition fortzusetzen. In diesem Sinne ging ein spannendes, lehrreiches und zum Teil aufrüttelndes Symposium zu Ende.

Das Wissen um das Engagement für physiotherapeutische Forschung durch physiotherapeutische Forscher mit adäquaten Fragen, Methoden und Antworten und um selbstständige Wissensgenerierung auch in der deutschen Physiotherapie war für viele der Teilnehmer ein wohltuendes Resumé, wenn auf diesem Weg auch noch viel Arbeit und der ein oder andere Stein zu bewältigen ist.

Nicht nur die neue Struktur und die europäische Erweiterung wecken die Vorfreude auf das 4. Symposium zur Forschung in der Physiotherapie am 13. Oktober 2007!

Holm Thieme, PT, BSc

Oststr. 5

D-01705 Freital

Email: h.thieme@freenet.de

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