physioscience 2005; 1(3): 97-98
DOI: 10.1055/s-2005-858739
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sprache in der Wissenschaft - Wissenschaft und Sprache - Wissenschaftssprache und der Diskurs in der Physiotherapie

K.-F Heise
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Publication Date:
27 October 2005 (online)

Liebe Leserinnen und liebe Leser,

in der Wissenschaft müssen Begrifflichkeiten so exakt verwendet werden, dass man immer genau weiß, wovon die Rede ist. Im Gegensatz dazu verzeiht die Alltagssprache eher sprachliche Ungenauigkeiten. Daher stellt die Wissenschaftssprache den Wissenschaftler vor die Aufgabe, Begriffe explizit einzuführen bzw. zu normieren; man spricht dann von normierten wissenschaftlichen Fachwörtern oder auch Termini. Setzt man unterschiedliche Termini in Beziehung zueinander entwickelt man eine Terminologie und hier wird zunehmend ein grundlegendes Problem der Wissenschaft deutlich: So genau wie nötig, aber so verständlich wie möglich?

Betrachtet man die unterschiedlichen Aufgaben, die der Wissenschaftler/die Wissenschaftlerin zu erfüllen hat - z. B. Beobachtung (Observation) eines Phänomens und dessen Beschreibung (Deskription), Vorhersage (Prognose) des Erwarteten, unter Umständen Beeinflussung des Phänomens (Intervention), Erklärung (Explanation) des Beobachteten und nicht zu vergessen die Berichterstattung (Publikation) der gewonnenen Erkenntnisse -, so wird schnell deutlich, dass die Sprache einen ganz elementaren Anteil an Gedeih oder Verderb des Forschungsvorhabens und am Erfolg des Wissenschaftlers/der Wissenschaftlerin hat.

Konsequenzen unscharfer Begrifflichkeiten liegen auf der Hand, ein Schiefstand in der Formulierung zieht sich durch den gesamten Forschungsprozess, von der Definition bis hin zur Erklärung, und so wird die Weitergabe von Wissen eingeschränkt, die Nachvollziehbarkeit bleibt auf der Strecke. Offensichtlich haben wir es aber mit der deutschen Sprache ganz besonders schwer getroffen, wenn es darum geht, präzise und eindeutig zu sein und Begriffe so zu formulieren, dass sie der Identifikation dienen und eindeutig voneinander abgrenzbar sind. Die englische Sprache scheint hier leichter handhabbar zu sein. Als deutschsprachiger Wissenschaftler findet man sich schnell inmitten von Wortsalat und Definitionsknoten wieder, wo die englische Sprache mit beneidenswert kurzen und präzisen Begrifflichkeiten auskommt.

Allerdings beschleicht mich regelmäßig der Eindruck, dass wir es hier auch noch mit einem anderen Phänomen zu tun haben. Während ich im englischen Wissenschaftsbetrieb den Satz „Keep it simple!” bei jeder Gelegenheit zu hören bekam, kommt es mir so vor, dass man sich hier möglichst so ausdrückt, dass nur ein kleiner elitärer Kreis versteht, wovon man spricht. Ist man schlauer, und sind die eigenen wissenschaftlichen Ergebnisse wissenschaftlicher, wenn möglichst wenige Menschen einem folgen können?

Unsere Praxis soll evidenzbasiert sein. Dazu ist es aber notwendig, dass neue Erkenntnisse verbreitet werden. Und hier berühre ich einen weiteren Punkt, der über die Ebene der Sprache hinausgeht: Wie demokratisch ist Wissenschaft? Wer gehört zur Scientific Community und wer nicht? Gerade in einer Fachzeitschrift, die ein standardisiertes Peer-Review-Verfahren anwendet, ist diese Frage berechtigt, und wie ich finde hoch brisant!

Sicherlich, wer schon einmal vor einem größeren Kreis von Zuhörern gesprochen hat, weiß, dass außer Talent auch Übung zum Formulieren gehört. Allerdings gehört meines Erachtens auch so etwas wie ein demokratischer Grundgedanke dazu, wenn man sich ans Formulieren macht, sei es schriftlich oder in gesprochener Sprache. Demokratisch, weil man andere teilhaben lassen möchte, also von seinem Wissen abgeben will. - Aber will man das wirklich? Und mehr noch, sollen alle anderen sehen, dass man selbst auch nur mit Wasser kocht? Warum nicht? Und vielleicht sogar: Unbedingt!!! - Aber was hat das mit Sprache zu tun?

Je größer das mit der Zeit angehäufte Wissen wird, desto klarer wird die Erkenntnis, dass man relativ wenig mit 100 %iger Sicherheit sagen kann. Sprache vermag das auszudrücken oder zu verstecken. Diese Tatsache kann sehr verunsichern. Es kann aber auch dazu führen, dass man offen kommuniziert, wie groß der Anteil an Wahrheit und Wahrscheinlichkeit in dem bestimmten Sachverhalt ist, mit dem man sich beschäftigt, sodass andere in der Lage sind, dieses nachzuvollziehen und zu durchschauen und dann weiterdenken - und mitreden! Das heißt dann Diskurs und klingt sehr wissenschaftlich! Im Bezug auf die Auseinandersetzung mit dem (wissenschaftlichen) Diskurs geht es nicht ausschließlich um die Analyse dessen, was ein Teilnehmer gesagt hat, sondern um die Bedingungen, unter denen er zum Diskurs zugelassen oder ausgeschlossen wird und unter denen Sätze einen Wahrheitsgehalt tragen dürfen, je nach dem zeitspezifischen, also wechselnden Wahrheitskriterium.

An dieser Stelle ist also nicht nur interessant, welches Paradigma die Wissenschaft leitet oder anders ausgedrückt, welche Mode die Scientific Community beeinflusst, sondern auch, wie die neue Erkenntnis kommuniziert und diskutiert wird. Welche Regeln sollen also für den wissenschaftlichen Diskurs in der Physiotherapie gelten?

Sprache ist der Träger der Information. Das bloße Vorhandensein dieses Trägers - in diesem Fall des Artikels in einer Fachzeitschrift - liefert noch keine Aussage über den Inhalt der Information. Es stellen sich weitere Fragen: Wie sehr lässt sich der Gegenstand der Betrachtung reduzieren? Wie wird der Gegenstand operationalisiert, welche Definitionen werden festgelegt?

Jede Disziplin hat ihre eigenen Konventionen und sprachlichen Besonderheiten, insbesondere im interdisziplinären Kontext, aber auch ausschließlich in der Auseinandersetzung innerhalb unserer Disziplin - ein uns Physiotherapeuten nicht unbekanntes Phänomen. Schafft es da die physiotherapeutische Wissenschaft, einen Standard für Verständlichkeit zu setzen?

Was bedeutet eigentlich „wissenschaftlich” in Bezug auf die Sprache? - Sprachlich genau, eindeutig und nachvollziehbar, standardisierte Methode, Einhaltung von Konventionen und Standards hinsichtlich der Methode. Zur Grundstruktur empirischer Forschung gehören beispielsweise Entwurf, Prüfung und Anwendung einer Theorie, wobei 3 Prinzipien verfolgt werden sollen: Intersubjektivität, Präzisierung und Vollständigkeit, die das wissenschaftliche von „vorwissenschaftlichem” Vorgehen abhebt.

Doch schnell ist eine Situation erreicht, in der diese Diskurse „[...] nicht jederzeit, nicht von allen vernunftbegabten Individuen intersubjektiv überprüft werden können, weil viele dieser Individuen in Wirklichkeit Gruppen angehören und Gruppensprachen sprechen, die mit (diesen) Diskursen unvereinbar sind” [2].

Ist die Forderung nach „Intersubjektivität” also hinfällig?

Die Physiotherapie befindet sich nun in dem Dilemma - oder ist es eher ein Glücksfall? -, eine Mischwissenschaft zu sein, in der naturwissenschaftliche, aber auch sozialwissenschaftliche Aspekte gleichermaßen ihre Berechtigung haben, und entsprechend reichhaltig ist das Spektrum der Methodologie. Aus beiden Richtungen wird demzufolge auch der Sprachgebrauch beeinflusst, und wie schon eingangs angedacht, ist es nicht nur in den sozialwissenschaftlich orientierten Bereichen sinnvoll, über die Sprache nachzudenken.

Karin Knorr-Cetina [1] untersuchte 1984 in ihrer soziologischen Studie Die Fabrikation von Erkenntnis - Zur Anthropologie der Wissenschaft die Kommunikationsprozesse in naturwissenschaftlichen Laboratorien.

Eine der Kernthesen dieser Studie lautet „[…], dass auch im naturwissenschaftlichen oder technischen Labor Verständnisfragen, Konsensbildung, Interpretation und Interpretationskonflikt eine entscheidende Rolle in der Forschung spielen, sodass der Unterschied zwischen Natur- und Sozialwissenschaften auf sekundäre Phänomene beschränkt werden kann: Im Vordergrund steht die Frage, ob sich die methodische Praxis der Natur- und technologischen Wissenschaften von der symbolisch-interpretativen, „hermeneutischen” Praxis der Sozialwissenschaften prinzipiell unterscheidet. Ich behaupte, dass diese Frage mit Nein zu beantworten ist” [2].

Oberflächlich betrachtet scheinen es die Naturwissenschaften mit der Sprache leichter zu haben, da es vermeintlich um nüchterne und technische Betrachtungsweisen geht. Allerdings werden auch hier Interpretationen und Annahmen vorgenommen, und sowohl die Intersubjektivität als auch der Aspekt der Wertfreiheit sind in den Naturwissenschaften nicht von vornherein gegeben. Die Forderung nach einer rein deskriptiven Sprache bleibt schwammig, denn wie lässt sich das durchhalten und wie hat diese genau auszusehen?

Fazit: Wissenschaftliche Sprache zeichnet sich im Wesentlichen dadurch aus, dass sie erstens Transparenz im Hinblick auf den Grad der Überprüfbarkeit transportiert, zweitens Selbstreflexion explizit macht und drittens dem Anspruch an Wertfreiheit nachkommt. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich Wahrheiten in keinem Bereich so schnell verschieben oder wandeln wie in der Wissenschaft, erscheint es mir als elementarer Bestandteil einer wissenschaftlichen Kultur, hier Standards zu definieren. Darüber hinaus wird deutlich, dass zum „Wie” auch das „Wo” gehört, d. h. der Raum, dem der Diskurs gegeben wird und die Regeln, die für den Diskurs gelten. Hier steht die Scientific Community in der Physiotherapie noch ziemlich am Anfang, und das ist bekanntlich der beste Zeitpunkt, um kreativ mit den Spielregeln umzugehen!

In diesem Sinne hoffe ich, dass Ihnen die aktuelle Ausgabe der physioscience viel Grundlage für aktive Beteiligung im physiotherapeutischen Diskurs bietet!

Literatur

  • 1 Knorr-Cetina K. Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Wissenschaft. Frankfurt; Suhrkamp 1984
  • 2 Zima P V. Was ist Theorie?. Tübingen; Francke 2004

Kirstin-Friederike Heise, PT, BSc, MSc

Fehrbelliner Straße 43

10119 Berlin

Email: kirstinpost@gmx.de

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