Z Sex Forsch 2005; 18(2): 148-154
DOI: 10.1055/s-2005-836638
Debatte

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Wer hat Angst vorm Sensate Focus?

Anmerkungen zu Ulrich Clements Kritik am Hamburger Modell der Paartherapie sexueller StörungenGunter Schmidt
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Publikationsdatum:
01. August 2005 (online)

Ulrich Clement hat ein packendes und überraschendes Buch mit dem Titel „Systemische Sexualtherapie” [5] geschrieben, das für mich der originellste Beitrag der letzten Jahre zur Psychotherapie alltäglicher Sexualprobleme ist. Auch David Schnarch [14] hat vor einigen Jahren versucht, die Müdigkeit, die sich über die traditionelle Sexualtherapie nach dem Masters-Johnson-Konzept gelegt hat, zu verscheuchen. Aber seine interessanten Ideen blieben vage in der Umsetzung und sein guruhaftes Pathos ist vielen Experten hierzulande fremd, auch mir. Clement ist konkret, mit vielen Transkripten hart an der Praxis, theoretisch übersichtlich und präzise und dem Ideal der handwerklichen Kompetenz der Heidelberger systemischen Schule auf angenehme Weise verpflichtet. Doch dies soll keine Buchbesprechung werden.

Clement befasst sich in seinem Buch außerordentlich kritisch mit dem Hamburger Modell der Paartherapie - einer der häufig angewendeten Weiterentwicklungen des Ansatzes von Masters und Johnson (vgl. [1] [6] [11]). Und Clement weiß, wovon er spricht. Er hat dieses Therapiekonzept mit entwickelt und lange damit gearbeitet. Mit seiner Kritik möchte ich mich hier auseinander setzen. Und um es vorwegzunehmen: Clements Einschätzungen provozieren bei mir mal heftigen Widerspruch, mal Skepsis - und manchmal spricht er mir aus der Seele.

Clement rechnet die traditionelle (und damit auch die Hamburger) Sexualtherapie kurzerhand „zur Vergangenheit” (S. 20), weil „das therapeutische Paradigma verbraucht [ist], das Masters und Johnson ihrer Therapie zugrundelegten” (S. 23). Dieses Paradigma sei für die 1970er ausgezeichnet gewesen, habe aber in den 1990ern seine Kraft verloren (S. 26). Im modernen Therapieangebot habe dieses Konzept eigentlich nichts mehr zu suchen. Diese Einschätzung fußt auf drei Postulaten über die Hamburger Paartherapie, die sich so zusammenfassen lassen: (1) Das Nein dominiert das Ja. (2) Die Funktion dominiert das Begehren. (3) Das Nicht-Können dominiert das Nicht-Wollen. Ich werde diese Thesen nun diskutieren.

Literatur

  • 1 Arentewicz G, Schmidt G. Sexuell gestörte Beziehungen. Springer, Heidelberg 1980; 2., neu bearb. Aufl. 1986; 3., bearb. Aufl. Enke, Stuttgart 1993
  • 2 Bauman Z. Über den postmodernen Gebrauch der Sexualität. In: Schmidt G, Strauß B (Hrsg). Sexualität und Spätmoderne. Über den kulturellen Wandel der Sexualität. Psychosozial-Verlag, Gießen 2001; 17-35
  • 3 Clement U. Sexualität in der systemischen Therapie.  Familiendynamik. 1998;  23 366-376
  • 4 Clement U. Systemische Sexualtherapie.  Z Sexualforsch. 2001;  14 95-112
  • 5 Clement U. Systemische Sexualtherapie. Klett-Cotta, Stuttgart 2004
  • 6 Hauch M. Intimität wagen. Paartherapie bei sexuellen Problemen. In: Kaiser P (Hrsg). Partnerschaft und Paartherapie. Hogrefe, Göttingen 2000; 305-322
  • 7 Reiche R. Buchbesprechung „Sexuell gestörte Beziehungen - Konzept und Technik der Paartherapie”.  Psyche. 1981;  35 376-380
  • 8 Retzer A. Systemische Paartherapie. Konzepte, Methode, Praxis. Klett-Cotta, Stuttgart 2004
  • 9 Schmidt G. Die Potenz des Settings.  Z Sexualforsch. 1994;  7 43-51
  • 10 Schmidt G. „Wir sehen immer mehr Lustlose!” Zum Wandel sexueller Klagen.  Familiendynamik. 1998;  23 348-365
  • 11 Schmidt G. Paartherapie bei sexuellen Funktionsstörungen. In: Sigusch V (Hrsg). Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. 3., überarb. und erweit. Aufl. Thieme, Stuttgart 2001; 280-302
  • 12 Schmidt G. Das neue Der Die Das. Über die Modernisierung des Sexuellen. Psychosozial-Verlag, Gießen 2004
  • 13 Schmidt G, Matthiesen S, Meyerhof U. Alter, Beziehungsform und Beziehungsdauer als Faktoren sexueller Aktivität in heterosexuellen Beziehungen. Eine empirische Studie an drei Generationen.  Z Sexualforsch. 2004;  17 116-133
  • 14 Schnarch D. Passionate marriage. Holt, New York 1997
  • 15 Tiefer L. Historical, scientific, clinical and feminist criticisms of “The human sexual response cycle” model. In: Tiefer L. Sex is not a natural act and other essays. 2nd ed. Westview, Cambridge, MA 2004

1 Das neue, von Margret Hauch herausgegebene Lehrbuch erscheint Ende des Jahres unter dem Titel „Autonomie und Intimität. Das Hamburger Modell der Paartherapie bei sexuellen Störungen” im Thieme Verlag, Stuttgart.

2 In Diskussionen wurde daraus dann schon einmal „triste Alltagssexualität”, wie Clement (S. 25) notiert.

Prof. Dr. Gunter Schmidt

Isestr. 39

20144 Hamburg

eMail: schmidt@ise39.de

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