Endoskopie heute 2005; 18(2): 71-75
DOI: 10.1055/s-2005-836612
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Überlegungen zur ärztlichen Ethik unter dem Druck des Ökonomismus

Eröffnungsrede des Präsidenten auf dem 35. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Endoskopie und bildgebende Verfahren (DGE-BV) in Stuttgart, 9.-12.3.2005Reflecting Medical Ethics Under Pressure of “Economism”The President's Inaugural Address on the 35th Congress of the German Society for Endoscopy and Imaging Procedures, March, 9th/10th-12th 2005 in StuttgartK. E. Grund1
  • 1Klinik für Allgemeine, Viszeral- und Transplantationschirurgie, Tübingen
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Publication Date:
21 July 2005 (online)

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
meine sehr verehrten Damen und Herren!

Zum 35. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Endoskopie und bildgebende Verfahren und Ihrer assoziierten Fachgesellschaften begrüße ich Sie ganz herzlich hier in Stuttgart.

Wenn Sie sich hier umsehen, merken Sie sicherlich sofort, dass Sie im schwäbischen Kernland sind: Keine Blechbläser-Entrada, keine zwölf Cellisten, keine Grußwort-Litanei, keine Schirmherren und Schirmdamen: Alles eingespart.

Stammesmentalität: „Miar sparet.” Neues Paradigma. Neue Bescheidenheit. Schlanker Kongress. Wir tun alles, um Sie auf die Zukunft einzustimmen. Nur Schwaben und Schotten werden überleben.

Nicht gespart haben wir am wissenschaftlichen Programm. Dieser Kongress soll einerseits zur Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse und zum Informations- und Meinungsaustausch dienen, andererseits Raum geben für die gewählten Hauptthemen, die ich zunächst kurz anreißen will: Ein Hauptthema der DGE-BV ist seit ihrer Gründung die Technologie. Wir müssen heute unseren eigenen Standpunkt finden zwischen himmelhochjauchzender Technologie-Gläubigkeit und prinzipieller Fortschritts-Skepsis.

Unser chirurgischer Kollege Friedrich Schiller, den die Schwaben dieses Jahr besonders feiern, hatte einen Freund, einen gewissen Goethe. Der hat die Probleme der Technologie personifiziert. Sein Technik- und Gentechnologie-Freak Wagner („… und wie wirs dann zuletzt so herrlich weit gebracht …”) hat mit der Erschaffung des Homunkulus eine interdisziplinäre Höchstleistung vollbracht und die Ziele der DGE-BV vorweggenommen. Faust dagegen, der Wissenschafts-Miesepeter („… und sehe, dass wir nichts wissen können …”), muss zwei quälende Theaterabende lang geläutert werden, bis er endlich nach großen technologischen Anstrengungen mit knapper Not endlich Ruhe findet. Auch im „Faust” zeigt sich, dass selbst segensreiche Technik zum Fluch werden kann, zum Beispiel, wenn sie Komplikationen erzeugt.

Damit sind wir bei unserem zweiten Hauptthema: den Komplikationen. Man kann sie im einen Extrem einfach als unvermeidliche Begleiterscheinung ärztlichen Handelns auffassen („wo gehobelt wird, da fallen Späne”) und unkritisch weiter „wurs(ch)teln”, im anderen Extrem sich durch Angst vor der Komplikation blockieren lassen und gar nicht erst anfangen, aktiv zu werden. Zwischen diesen Extremen haben wir uns zu positionieren.

Ein weiteres Thema ist die Interdisziplinarität; sie ist unserer Fachgesellschaft seit der Gründung ein besonderes Anliegen, hat vielfältige Ebenen und vielerlei Intensitäten zwischen interdisziplinärer Umarmung und separatistischer Abgrenzung.

Schließlich haben wir noch ein Thema eingeschmuggelt, das sich unerkannt quasi „undercover” durch den ganzen Kongress zieht, nämlich die Suche nach den Wurzeln unseres ärztlichen Handelns unter dem alles beherrschenden neuen Paradigma der Ökonomie. Davon später.

Zunächst also einige Worte zur Technologie: Sie ist die Grundlage einer revolutionären Entwicklung in der Endoskopie und bei den bildgebenden Verfahren. Ihr Begrüßungsredner, der ja schon zu den präsenilen Semestern gezählt wird, hat bei seinem Staatsexamen 1973 über flexible Endoskopie und Sonographie nichts wissen müssen, es gab sie damals einfach noch nicht.

Zur Beziehung zwischen der Endoskopie und den bildgebenden Verfahren möchte ich Ihnen eine kleine Anekdote erzählen: Rückblende Mainz 1977: Als blutjunger Assistent stellt K. E. G. stolz seinem verehrten chirurgischen Lehrer Fritz Kümmerle, der heute kurz nach seinem 88. Geburtstag in voller geistiger Frische unter uns sein kann - ich möchte ihn hiermit ganz herzlich begrüßen und ihm nachträglich gratulieren - einen seiner ersten koloskopierten Patienten vor und sagt: „Der Mann hat ein kleines Zökalkarzinom, ich habe es selbst gesehen.” Seine unbeeindruckte Gegenfrage: „Wo ist das Röntgenbild?” Am nächsten Tag: Demonstrationskoloskopie für den Chef: Sein erstaunter Kommentar: „Das kann man ja richtig sehen!” Von Stund an war die flexible Endoskopie eine geförderte chirurgische Methode und hat meinen persönlichen Weg entscheidend bestimmt. Dafür meinen Dank. Das war 1977.

Jetzt, nach nur einer Generation, sehen wir vor lauter Hightech oft den Patienten nicht mehr. Endoskopie und Bildgebung sind zwar absolut unersetzlich in der täglichen praktischen Medizin, sie stehen aber leider - zumindest was die Endoskopie betrifft - nicht im Zentrum des öffentlichen Interesses und der öffentlichen Förderung. Bislang waren in der Medizintechnik die Wege von der Entwicklung zur Anwendung relativ kurz - sehr zum Nutzen der Patienten und der Industrie. Jetzt sind die bürokratischen Hürden enorm gewachsen, Förderung und Motivation zur Forschung dramatisch geschrumpft. Wenn Sie wissen wollen, was ich meine, stellen Sie heute mal einen Forschungsantrag für ein womöglich noch klinisch relevantes endoskopisches Thema! Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die medizintechnische Industrie im internationalen Wettbewerb.

Dass andererseits die Hochtechnologie durchaus ihre Grenzen hat und zum Teil auch ein Janusgesicht zeigt, ist in der Medizin nicht jedem klar. Es ist aber eine Fehlentwicklung, wenn ein Patient mit einem akuten Abdomen - ohne dass ihn ein Arzt gesehen hat oder sehen kann - zunächst durch CT oder Kernspintomographen gefahren wird, in der irrigen Meinung, ärztliche Kompetenz mit Anamnese, körperlicher Untersuchung und differenzialdiagnostischem Denken sei bei „fantastischer Bildauflösung” primär nicht vonnöten.

Unser nächstes Kongressthema, die Komplikationen, gehört nach wie vor zu den heiklen Themen in der Medizin. Verständliche subjektive Hemmungen und forensische Damoklesschwerter verhindern in der Regel eine offene Diskussion hierüber. Ich wünsche mir, dass es auf diesem Kongress gelingt, eine offene Diskussion zu wagen. Ich danke schon jetzt all denen, die den Mut aufbringen, hier ihre eigenen und fremde Probleme offen zu besprechen. Von konstruktiver Selbstkritik und Fairness profitieren alle.

Nun zur Interdisziplinarität: Ein komplexes Thema mit mehreren Ebenen: Die DGE-BV versucht seit ihrer Gründung, Ärzte, Physiker, Ingenieure, Techniker und Assistenzpersonal ins Gespräch zu bringen und im Gespräch zu halten. Auch die Kommunikation zwischen verschiedenen ärztlichen Fachbereichen gehört zur Tradition. In diesem Jahr sind wieder Gastroenterologen, Chirurgen, HNO-Ärzte, Pneumologen, Radiologen und Pathologen einträchtig zusammen, bei den Urologen, Gynäkologen, Angiologen und Neurochirurgen wünschen wir uns auch in Zukunft mehr Resonanz.

Auch der Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Assistenzpersonal haben wir einen gebührenden Raum gegeben. Wir freuen uns, dass die Verbände des Assistenzpersonals auch in diesem Jahr mit einem starken und hochinteressanten Programm vertreten sind und damit zum Ausdruck bringen, dass wir nicht in hierarchischer, sondern in kooperativer, vielleicht sogar symbiotischer Verbindung sind. Diese Kooperation und Symbiose zeigt sich auch bei den gemeinsamen „On-Stage”-Endoskopien am Freitag und Samstag, mit welchen wir Neuland betreten.

Der interdisziplinäre Austausch gibt uns allen die Chance, das Rad nicht immer wieder neu erfinden zu müssen. Berührungs- und Konkurrenzängste können durch Offenheit überwunden werden, der Blick über den Zaun sollte mehr sein als nur Neugier. Interdisziplinarität kann aber durchaus auch Probleme mit sich bringen, die meist in unterschiedlichen Denkmustern und Denkkategorien begründet liegen. Der erste Schritt sollte sein, eine gemeinsame Sprache zu finden; auch deshalb sind wir hier.

Unser Undercover-Thema „Neues Paradigma und die Wurzeln des ärztlichen Handelns” brennt mir so auf den Nägeln, dass ich nicht umhin kann, dazu einige kritische, vielleicht sogar provokative Gedanken zu äußern.

Das neue Paradigma der Ökonomie ist auf den ersten Blick überfällig. Zu lange haben wir wie die Maden im Speck gelebt und den fundamentalen Grundsatz der antiken Philosophie nämlich METPON APIΣTON (Metron Ariston)[1], das heißt „Maß halten” mit Füßen getreten. Es wird höchste Zeit, dass wir hinterfragen, wie viel wirklich nötig ist, und mit wie viel Aufwand wir welches Ergebnis erzielen. Die Fragen nach Effizienz und Effektivität haben auch in der Medizin ihre Berechtigung. Allerdings gerät dabei der Hintergrund des ärztlichen Handelns, das heißt unsere Weltsicht, unser Menschenbild und unsere humanitäre Ausrichtung in Konflikt mit wirtschaftstheoretischen Überlegungen und betriebswirtschaftlichem Aktionismus.

Entgegen einer weit verbreiteten Ansicht gibt es nämlich den begründeten Verdacht, dass unser Gesundheitswesen derzeit weniger am progredienten Niedergang unseres Wohlstandes leidet - wir sind relativ gesehen immer noch eines der reichsten Länder im reichen Europa - sondern dass die Wurzeln unseres ärztlichen Handelns gefährdet sind. Rücksichtsloser Ökonomismus, überbordende Bürokratisierung und zunehmende Fremdbestimmung des Arztes führen zu rapid-progressiven existenziellen Problemen. Das gilt nicht nur für die äußeren sozio-ökonomischen Verhältnisse sondern auch für unsere Werte. Die ärztliche Ethik - seit mindestens 2 400 Jahren Grundlage des ärztlichen Handelns - wird im neuen Zeitgeist oft relativiert, verdrängt, beiseite geschoben, bekämpft oder gar verteufelt. Ethische Grundsätze, gründend auf Wissen und Gewissen, werden aus rein marktstrategischen Überlegungen nur noch als Motto in Hochglanz-PR-Broschüren aufgenommen. Das ist Heuchelei. In der Realität - so die Bilanz des Deutschen Ärztetages[1] - wird Mangel als Wettbewerb verkauft, die Patientenversorgung aber planwirtschaftlich zurechtgestutzt. Krankenhausleistungen richten sich am Renditekalkül der Investoren aus und nicht mehr am tatsächlichen Bedarf der Patienten. Die so genannte Qualitätsoffensive im Gesundheitswesen entpuppt sich als rigoroses Spargesetz, um Effizienzreserven zu heben, die nicht mehr vorhanden sind. Jeder niedergelassene Arzt weiß um den Widersinn der Disease-Management-Programme, jedenfalls in der vorliegenden hyperbürokratischen Form.

Volker Lange, der Präsident des Berliner Chirurgenkongresses hatte den Mut, in seiner Eröffnungsrede im Februar dieses Jahres die Dinge beim Namen zu nennen. Ich zitiere sinngemäß: „Das Primat der Ökonomie über die Medizin ist allenthalben spürbar … Die Umsetzung wird 1 : 1 am Krankenhaus versucht durch Einsparung von Ressourcen, Personalabbau und Vermarktungsstrategien.
Dabei wird übersehen, dass Kranke keine uniformen Fließbandobjekte sind und dass ein Krankenhaus eben keine Autofabrik ist, in der man die Materialkosten drückt durch Beschaffungen aus Billig-Lohn-Ländern;

in der man Manpower ersetzt durch Automatisierung, was weder in der Pflege noch in der ärztlichen Betreuung gelingen wird; in der man Verwaltungsarbeit vereinfacht durch Computerunterstützung - wie weit sind wir doch mit den heutigen Krankenhausinformationssystemen von einer hilfreichen Unterstützung entfernt! in der man Stückzahlen erhöht durch Beschleunigung des Produktionsbandes

und wenn das alles nichts nützt, zuletzt die Produktion nach China auslagert.
Krankenhäuser sind zwar Dienstleistungsunternehmen, aber eben nicht vergleichbar mit einer Reinigungsfirma oder einem Reiseunternehmen … Wer glaubt, dass im Krankenhaus immer noch massenhaft ungenutzte Ressourcen schlummern, träumt. In Praxen wie Kliniken sind die Zitronen ausgepresst, entsprechend wird jetzt allenthalben am Personal gekürzt[1].”

Hinzuzufügen wäre, dass die Quantität und Qualität von Zitronensaft sich nicht erhöhen, wenn man den Druck auf die schon ausgepresste Zitrone maximiert - und auch noch die Zitronenanbauer entlässt.

Bei all diesen Entwicklungen treten medizinische Aspekte und damit die ärztliche Einflussnahme immer mehr in den Hintergrund. Der Arzt wird zunehmend fremdbestimmt und zum Handlanger und Erfüllungsgehilfen einer rein profitorientierten Gesundheitsindustrie degradiert[1].

Ob es wirklich der Qualitätsverbesserung dient, wenn jetzt patientenferne, medizinferne und arztferne Personen und Institutionen über die vitalen Belange des individuellen Kranken entscheiden, wenn ärztliche und medizinische Argumente in Entscheidungsgremien fast keine Beachtung mehr finden?

Damit sind die entscheidenden Punkte beim Namen genannt: Die reale Bedrohung durch die dramatischen Auswirkungen des globalen Ökonomismus kombiniert mit bürokratischen Höchstleistungen und einer Zurückdrängung des Arztes in die Rolle eines Erfüllungsgehilfen. Wenn als höchstes Lob für einen Manager gilt, er sei ein knallharter Sanierer und die Zahl der „eingesparten” Arbeitsplätze als Indiz seiner Kompetenz angesehen wird, so passt das genau zu einem Kommentar in der Südwest-Presse vom Anfang des Jahres: „Der Zug zur totalen Ökonomisierung der menschlichen Lebensverhältnisse muss ohnehin erst noch an Fahrt gewinnen, ehe er erkenntnisfördernd an die Wand fahren kann[1].”

Der zweite Faktor, die bürokratische Daten- und Papierlawine hat auch unmittelbare Auswirkungen auf die Arbeitswelt des Arztes. Wenn unsere jungen Kollegen heute 30-50 % ihrer Arbeitszeit für zum Teil nachweislich sinnlose Verwaltungsaufgaben und Kodierung aufwenden, fehlt diese Zeit für die eigentliche ärztliche Tätigkeit.

Ein Leserbriefschreiber im Deutschen Ärzteblatt fragt sarkastisch, ob der MDK in Zukunft dann die Hausbesuche fahren, der Controller die Appendektomie durchführen und der EDV-Beauftragte die Nachtdienste im Krankenhaus ableisten wird [1].

Wenn selbst ein hochengagierter Beauftragter der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie hinsichtlich der DRG-Kodierung feststellt, dass das DRG-System eigentlich nicht zu retten sei, dass selbst bei motivierten Kollegen die Einsicht und Bereitschaft schwindet, sich in die exponentiell wachsenden Änderungen des DRG-Systems einzuarbeiten[1], dann sollte das doch ein Alarmzeichen sein.

Auch die Arzt-Patienten-Beziehung wird offenbar durch den Ökonomismus und die Bürokratie ausgehebelt, wenn man liest, dass das „… antiquierte Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient durch den modernen privatwirtschaftlichen Gesundheitsmarkt abgelöst …”[1] werde.

Weiteres Beispiel: Betrachtet man die Pläne für das modulare Krankenhaus, wie sie am Universitätsklinikum Aachen gerade realisiert werden[1], und analysiert man die avisierte Rolle des Arztes im Paradigma des neuen Gesundheitswesens[1], so wird klar, dass hier ein völlig neues Arztbild generiert wird, das mit dem bisherigen ärztlichen Selbstverständnis nur noch wenig zu tun hat.

Schon vor 2 Jahren beklagte H. E. Bock, mein verehrter Lehrer in Innerer Medizin, in einem Interview anlässlich seines 100. Geburtstages, die „progressive Verwandlung eines einst freien Berufes in einen verfremdeten miterleben zu müssen, der von so genannten Anbietern, Leistungserbringern, Bürokratismus und Merkantilismus zu sehr mitbestimmt wird[1].”

Abb. 1 Erwartete Kompetenzzuweisungen im Krankenhaus des Jahres 2015.

Der Arzt ist im neuen Paradigma des Ökonomismus nur noch spezialisierter Leistungserbringer in einem ganz eng umschriebenen Bereich, ansonsten ist er Hilfsangestellter der Verwaltung und Erfüllungsgehilfe für die Wertsteigerung der Aktien (Abb. [1]). Im Falle eines Problems oder einer Komplikation trägt er aber selbstverständlich die Verantwortung in finanzieller, juristischer und forensischer Sicht.

Das ist keine Horror-Science-Fiction, sondern wie jeder Insider weiß, eine vielleicht etwas zugespitzte Beschreibung der Realität der letzten Jahre und der unmittelbaren Zukunft. Offensichtlich wird dies an der Sprachform der Schlüsselbegriffe (Abb. [2]).

Abb. 2 Sprachliche Entwicklung der Schlüsselbegriffe im Gesundheitswesen 2000 v. Chr. bis 2004 n. Chr.

Wohl niemand bestreitet heute, dass auch die Medizin der Ökonomie unterliegt, und dass wir sie in den letzten Jahrzehnten des Überflusses sträflich vernachlässigt haben.

Wir müssen auch zugeben, dass Missbrauch und Fehlverhalten in der Ärzteschaft - also unter uns - die derzeit niederrollende Lawine der beschriebenen Art mit ausgelöst haben.

Andererseits ist aber jedem Einsichtigen klar, dass das neue Paradigma mehr ein ideologisches und weniger ein ökonomisches ist und in dieser Form bei wachsender Gefahr nicht rettet - Hölderlin sei's geklagt - sondern uns weiter in die Sackgasse hineintreibt.

Wer das Gesundheitswesen als reinen Wirtschaftsfaktor und Objekt seines Profits betrachtet, wer das Wohl des Kranken mit der Kundenzufriedenheit verwechselt, wer Krankheit als vermeidbares Versagen des Arztes sieht und wer von der Machbarkeit von Gesundheit überzeugt ist, entlarvt sich als Prophet einer falschen Ideologie[1].

Der Zeitgeist zeigt sich exemplarisch an der Änderung der Wertmaßstäbe (Abb. [3]).

Abb. 3 Zielpunkte der ärztlichen Ethik in der Entwicklung der letzten 15 Jahre (consors, -tis = Aktionär).

Salus aegroti, das Wohl des Kranken, ist viel mehr als Gesundheit und subjektiv empfundenes Wohlergehen; es meint das Heil des Kranken.

Schon die Umwertung zur voluntas aegroti, dem Willen des Kranken, bedeutet ein Abweichen von der hippokratischen Intention; das objektive, von außen durch den Arzt definierte salus korrigiert oft heilsam die subjektiv bestimmte voluntas des Patienten.

Steht nicht mehr der Kranke, sondern die Gesellschaft (societas) oder gar die Verwaltung (administratio) im Mittelpunkt, sind die Auswirkungen vorprogrammiert.

Der nächste Schritt ist die Verabsolutierung der Sparsamkeit (parsimonia), von dort führt dann nur ein kleiner Schritt zum Götzendienst des Kapitalismus: dem Wohl bzw. dem Willen der Aktionäre (salus bzw. voluntas consortium).

Wie weit wir dabei in unserem ärztlichen Denken gesunken sind, zeigt der Verlauf dieser ganzen Kaskade.

Doch damit genug der bitteren Zustandsbeschreibung.

Nach Einstein - auch er darf in diesem Jahr nirgends fehlen - ist zwar die präzise Analyse eines Problems schon die halbe Lösung[1]; wir sollten aber auf halbem Wege nicht stehen bleiben, sondern uns der entscheidenden Frage stellen:

Was sind die Konsequenzen für uns? Nach Kant: Was sollen wir tun? Gleichgültigkeit? Resignation? Kollaboration? Konstruktive Kritik? Rebellion? Sollen wir standhalten? Mitschwimmen? Gegen den Strom weiter waten? Abtauchen? Oder flüchten?

Vielleicht liegt die einzige Möglichkeit zur Umkehrung dieser katastrophalen Entwicklung wirklich zunächst in der Schaffung von Bewusstsein. Wir brauchen eine Rückbesinnung auf die Grundlagen des ärztlichen Handelns, nämlich das wohlverstandene Wohl der uns anvertrauten Kranken im Rahmen einer wohlverstandenen und sinnvollen Ökonomie.

Unsere Patienten brauchen neue Technologien, die entwickelt, geprüft und kritisch angewendet werden, natürlich auch unter den Auspizien von Effizienz und Ökonomie. Jeder weiß, dass Entwicklung und Anwendung neuer Technologien nicht für ein Taschengeld zu haben sind und dass sie gefördert werden müssen, wenn wir nicht auf sie verzichten wollen.

Unsere Patienten brauchen Ärzte, die nicht nur wirtschaftlichkeitsorientiert und wissenschaftsorientiert - sondern auch betont patientenorientiert - denken und handeln.

Unsere Patienten brauchen Ärzte, die nicht als Marionetten eines turbokapitalistischen Ökonomismus missbraucht werden, sondern als Ärzte arbeiten können und damit Sinn und Erfüllung in ihrem Beruf finden.

Andererseits braucht aber auch die Gesellschaft Ärzte, die sich sinnvollen Forderungen der Ökonomie nicht verschließen, sondern ihren Sachverstand zur Lösung der Probleme einsetzen können und auch dürfen.

Was wir definitiv nicht brauchen, sind „… noch mehr Manager, Stabsstellen, Geschäftsführer, Direktoren und Unternehmensberater …”[1].

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

wenn es mir gelungen ist, Ihr Bewusstsein für Technologie, für Interdisziplinarität, für Komplikationsmanagement und für die Basis unseres ärztlichen Handelns zu wecken oder gar zu stärken, wäre das für mich schon ein erster Erfolg dieses Kongresses.

In diesem Sinne eröffne ich den XXXV. Kongress der DGE-BV mit ihren angeschlossenen Fachgesellschaften.

1 Literatur und Zitatenachweis beim Verfasser

Prof. Dr. med. K. E. Grund

Klinik für Allgemeine, Viszeral- und Transplantationschirurgie · Experimentelle Chirurgische Endoskopie · ZMF

Waldhörnlestr. 22

72072 Tübingen

Email: chir.endo@uni-tuebingen.de