ZFA (Stuttgart) 2004; 80(12): 489
DOI: 10.1055/s-2004-836230
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Den Nummern einen Namen geben …

W. Niebling1
  • 1Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Titisee-Neustadt
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Publication Date:
13 December 2004 (online)

Nicht weit entfernt von meinem Wohnort, in Schönenbach am Schluchsee wurde wenige Wochen nach Kriegsende der damals 47-jährige Arzt August Hirt in einem Waldstück tot aufgefunden. Er hatte sich mit einer Pistole ins Herz geschossen. In den Wirren der letzten Kriegsmonate war er, aus Tübingen kommend auf einem Bauernhof untergetaucht. Die Besitzer fühlten sich ihm verpflichtet, hatte er doch kurz zuvor deren Tochter mit einer Notoperation vor dem vermeintlich sicheren Erstickungstod bewahrt. Wenige Tage später fand auf dem benachbarten Friedhof von Grafenhausen das Begräbnis statt. Der Grabstein auf der Parzelle 27 ist längst abgeräumt und damit der Mantel des Vergessens über diesen Vorgang gebreitet - könnte man meinen.

Wer war dieser August Hirt? Nach Zwischenstationen in Greifswald und Frankfurt war er 1941 auf den Lehrstuhl für Anatomie der so genannten Reichsuniversität Straßburg im Elsaß berufen worden. Schon früh ein überzeugter Anhänger der nationalsozialistischen Rassenideologie, stellte er sich in den Dienst der SS-Wissenschaftsorganisation „Ahnenerbe”. Diese unterstützte das Vorhaben des Straßburger Professors eine „jüdische Schädel- und Skelettsammlung” aufzubauen, am Anatomischen Institut der Reichsuniversität auszustellen und der Forschung in künftigen „judenfreien” Zeiten zur Verfügung zu stellen. Was dann folgte war ein bizarres und grauenhaftes Verbrechen. Im Konzentrationslager Auschwitz von zwei Mitarbeitern der Organisation „Ahnenerbe”, den Anthropologen Dr. Bruno Beger aus München und Dr. Hans Fleischhacker aus Tübingen selektiert, wurden im Sommer 1943 die Opfer, 29 Frauen und 57 Männer in das in den Vogesen gelegene Lager Natzweiler deportiert. Zwischen dem 11. und 19. August 1943 wurden sie in einer kleinen Gaskammer auf dem benachbarten Gut Struthof vom Lagerkommandanten Kramer ermordet und in den anschließenden Nächten in das Anatomische Institut nach Straßburg transportiert. Bedingt durch die Kriegslage, Straßburg wurde im November 1944 von den Alliierten befreit, wurde der ursprüngliche Plan nicht weiter verfolgt und die Abteilung von August Hirt nach Tübingen verlagert. Zuvor begannen Hirts Helfer die verräterischen Leichen unkenntlich zu machen. Nach dem Krieg wurden die sterblichen Überreste der Ermordeten in einem Massengrab beigesetzt - namenlose Opfer eines unmenschlichen Verbrechens. Sie wären namenlos geblieben, hätte nicht der Apotheker Henry Henrypierre, ein damaliger Mitarbeiter am Institut, die Nummern auf dem linken Unterarm der Opfer heimlich abgeschrieben und sie bei sich aufbewahrt. Es ist das Verdienst des Tübinger Historikers und Journalisten Hans-Joachim Lang nach jahrelangen und mühevollen Recherchen in den Archiven des Washingtoner Holocaust-Museum, von Auschwitz und Yad Vashem, die KZ-Nummern in Namen transponiert, den Opfern eine Identität, ihnen ein Gesicht gegeben zu haben: Frank Sachnowitz, ein 17-jähriger Junge aus Norwegen, Harri Bober, ein damals 20 Jahre alter Berliner oder die 1920 in Thessaloniki geborene Nina Sustiel, um nur einige zu nennen [1].

In einer bemerkenswerten Gedenkveranstaltung am 7. November d. J. im Berliner Centrum Judaicum, der früheren Berliner Synagoge haben die Vertreter unserer verfassten Ärzteschaft unmissverständlich, eindeutig und klar die Verstrickung und Mitschuld der deutschen Ärzteschaft an den Verbrechen der NS-Zeit zum Ausdruck gebracht und die Familien der Opfer um Vergebung gebeten - ein dankenswertes Signal um die Erinnerung lebendig zu halten.

PS: Das Landgericht Frankfurt verurteilte 1970 Bruno Beger wegen Beihilfe zu 86fachem Mord zur Mindeststrafe von drei Jahren. Internierungszeit und Untersuchungshaft wurden angerechnet und der Strafrest wegen „guter Lebensführung” erlassen. Hans Fleischhacker wurde freigesprochen und konnte seine wissenschaftliche Tätigkeit an der dortigen Universität fortsetzen.

Literatur

  • 1 Lang H-J. Die Namen der Nummern. Hofmann und Campe, Hamburg 2004

Prof. Dr. Wilhelm Niebling

Facharzt für Allgemeinmedizin, Lehrbereich Allgemeinmedizin

Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Schwarzwaldstraße 69

79822 Titisee-Neustadt

Email: wniebling@t-online.de

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