Notfall & Hausarztmedizin (Hausarztmedizin) 2004; 30(7/08): B 344-B 345
DOI: 10.1055/s-2004-834397
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Anaphylaktischer Schock - Notfallset für schnelle Hilfe bei Insektenstichallergien

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Publication Date:
04 October 2004 (online)

 

Im Rahmen des XXIII. EAACI Kongress, der vom 12. bis 16. Juni 2004 in Amsterdam stattfand, wurde unter anderem über die anaphylaktischen Reaktionen auf Bienen-, Wespen- und Hornissengiftallergien gesprochen. Diese bedeuten für die Insektenstichallergiker eine besondere Gefahr und stehen in Deutschland nach dem GMG (Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz), das im April in Kraft trat, in der Diskussion. Denn hiernach dürfen auch nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel für das Notfallset auf Kassenrezept verordnet werden. Wir befragten Herrn Prof. Dr. Dr. Johannes Ring aus München zu diesem Thema.

Frage: Insektenstichallergien sind häufiger als angenommen wird. An ihr leiden etwa 5% der Bevölkerung und aktuelle Studien zeigen eine Zunahme der Häufigkeit. Am häufigsten sind Bienen- und Wespenstichallergien, weniger relevant sind die Stiche von Hummeln und Hornissen. Welche Gefahr stellen die Insektenstiche tatsächlich dar? Kann man sie quantifizieren?

Prof. Ring: Die Anaphylaxie ist die Maximalvariante der allergischen IgE-initiierten Sofortreaktion, die den ganzen Organismus erfassen und lebensbedrohlich sein kann. Neben den IgE-vermittelten Reaktionen gibt es aber auch die pseudoallergischen Reaktionen, wo wir keine immunologische Sensibilisierung finden. Klinisch unterscheiden sie sich aber nicht von den IgE-vermittelten Sofortreaktionen. Die häufigsten Auslöser einer anaphylaktischen Reaktion sind die von Ihnen angesprochenen Insekten, aber auch Nahrungs- und Arzneimittel dürfen wir nicht vernachlässigen. Die Dunkelziffer ist bei der Häufigkeit des anaphylaktischen Schocks meines Erachtens aber besonders hoch, da uns selbst die Autopsie bei Todesfällen keinen Hinweis auf eine solche Reaktion gibt. Wir rechnen allein in Deutschland mit etwa 40 Todesfällen pro Jahr. Wir haben es mit einem ernsten Problem zu tun.

Frage: Gibt es Unterschiede bei den anaphylaktischen Reaktionen, zum Beispiel hinsichtlich der Gefährlichkeit verschiedener Gifte von Bienen, Wespen oder Hornissen?

Prof. Ring: Die Gifte dieser Insekten enthalten unterschiedliche toxische und allergisierende Substanzen. Den größten Anteil im Bienengift nimmt das Peptid Mellitin ein, das durch chemische Reaktionen die Zellen zerstört. Sein allergenes Potential ist allerdings von untergeordneter Bedeutung, da nur etwa 3% der Bienenstichallergiker gegen Mellitin sensibilisiert sind. Das Hauptallergen des Bienengiftes ist das Enzym Phospholipase A2, das neben dem Antigen 5 auch im Wespengift enthalten ist. Daneben enthalten Bienen- und Wespengifte eine Reihe anderer Proteine, Peptide und Mediatoren. Teils sind es die gleichen Auslöser, teils sind sie unterschiedlich. Die Schweregrade der ausgelösten Reaktionen sind aber in allen Fällen ähnlich. Deshalb kann man nicht sagen, die Bienengifte wären für den Allergiker gefährlicher als die Wespengifte. Entscheidend für den Allergiker ist der Grad seiner Sensibilisierung, wie allergisch er auf die einzelnen Gifte reagiert. Wir unterscheiden den Schweregrad der anaphylaktischen Reaktion bereits seit Jahrzehnten in vier Stufen: Grad 1 umfasst nur die Haut und subjektive Symptome, Grad 2 messbare aber noch nicht lebensbedrohende Atem- und Kreislaufreaktionen, Grad 3 ist der Schock und Grad 4 ist der Atem- und Herzstillstand. Dann ist der Patient klinisch tot und muss reanimiert werden. Hierbei müssen wir wissen, dass Anaphylaxie sich in kurzer Zeit vom Grad 1 zum Grad 4 entwickeln kann. Deshalb sind derartige Reaktionen besonders bedrohlich.

Frage: Wie kann nun ein Allergiker wissen, ob und wann Insektengifte bei ihm allergische Reaktionen auslösen?

Prof. Ring: Der Allergiker sollte, wenn er eine ungewöhnliche Reaktion nach dem Insektenstich bemerkt, diese Ernst nehmen. Übliche Reaktionen auf Insektenstiche sind lokale Schwellungen, zum Teil auch mit übersteigerten Lokalreaktionen. Diese sind nicht lebensgefährlich. Wenn eine Person nach einem Insektenstich ungewöhnliche Reaktionen bemerkt, wie ein Engegefühl im Hals oder einen Quaddelschub am ganzen Körper oder Atemnot, dann sollte sie die Ursache diagnostisch beim Allergologen abklären lassen. Nur so kann sich der Patient über die möglichen Ursachen sicher sein und bei anaphylaktischen Reaktionen entsprechende Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.

Frage: Kann sich die Gefahr einer Anaphylaxie auch über die Jahre verschlimmern?

Prof. Ring: Die Allergie ist ein biologisches Phänomen und hat eine wechselnde Dynamik. Sie kann über die Zeit zunehmen, sie kann aber auch zurückgehen. Nur weiß ich das im Einzelfall nie vorher. Wir haben viele Patienten, die beim ersten Mal mit einem leichten Kribbeln in den Handflächen oder Quaddeln am Ohr reagiert haben und beim nächsten Stich bewusstlos umfielen. Bei 40% der Patienten hingegen klingen solche Reaktionen wieder von selbst ab. Aber keiner weiß, ob er zu den 60 oder zu den 40% gehört. Deshalb ist eine rechtzeitige Diagnose erforderlich, insbesondere, weil wir dann eine kausale Therapie anschließen und die Insektenstichallergie durch eine allergenspezifische Immuntherapie mittels der Hyposensibilisierung heilen können. Die Erfolge liegen gerade bei den Insektenstichallergien bei etwa 90%.

Frage: Kann man sagen, die Hyposensibilisierung ist der einzige Schutz für einen Insektenstichallergiker oder gibt es weitere Schutzmaßnahmen?

Prof. Ring: Wenn wir die Diagnose stellen, verordnen wir jedem Patienten mit Anaphylaxierisiko ein Notfallset, das er ständig bei sich tragen muss. Das Notfallset enthält ein Antihistaminikum, ein Kortisonderivat und ein inhalierbares Adrenalinpräparat. Bei ganz schweren Fällen muss sich der Allergiker das Adrenalin selbst injizieren, denn der Weg zum Arzt kann zu lange dauern.

Frage: Ist der Allergiker immer in der Lage, sein Notfallset richtig und schnell genug einzusetzen oder sollte er als prophylaktische Maßnahme auf jeden Fall ein modernes Antihistaminikum, wie Desloratadin, täglich nutzen?

Prof. Ring: Dass Insektenstichallergiker während der für sie gefährlichen Sommermonate ständig Antihistaminika nehmen sollten, ist zurzeit eine offene Frage. Es fehlen uns die entsprechenden Studien über den Einfluss solcher Antihistaminika auf anaphylaktische Reaktionen. Von der reinen Überlegung her könnte es aber dem Betroffenen bei einem Stich helfen, denn in den Insektengiften sind ja auch Mediatoren, wie Histamin, enthalten. Deshalb sind Antihistaminika auch in jedem Notfallset enthalten. So wird von der KBV sogar ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie für das Notfallset erstattungsfähig sind. Studien über die Verminderung von Juckreiz zeigen, dass Antihistaminika den Juckreiz beim Mückenstich erheblich mindern können. Wir selbst haben mit Desloratadin große Studien zur Verminderung des Juckreizes bei der Urtikaria durchgeführt und konnten belegen, dass sowohl die Quaddelbildung als auch der Juckreiz erheblich reduziert werden konnten. Ob das auch bei Insektenstichallergikern einen prophylaktischen Schutz geben kann, der die anaphylaktischen Reaktionen mindert, müsste noch endgültig belegt werden.

Frage: Wie sollte der Allergiker sein Notfallset nutzen?

Prof. Ring: Nach einem Stich hat der Allergiker in der Regel genügend Zeit zur Selbstbehandlung mit seinem Notfallset. Eine Ausnahme ist, wenn er unmittelbar in die Blutbahn erfolgt. Ansonsten bleibt genügend Zeit, da es sich bei anaphylaktischen Reaktionen nicht um ein Sekundenphänomen handelt, sondern es sich etwa über 10 bis 20 Minuten entwickelt.

Frage: Systemische Antihistaminika gehören in jedes Notfallset für Insektenstichallergiker. Sie wirken aber frühestens 15 Minuten nach der Einnahme. Ist diese Zeit nicht zu lang?

Prof. Ring: Manche Antihistaminika fluten schon schnell an, das heißt innerhalb der ersten 15 Minuten. Sie reichen alleine aber nicht immer aus, um die Anaphylaxie zu beherrschen. Deshalb gehören in das Notfallset neben den Antihistaminika auch orale Steroide, wie Celestamine® N 0,5 liquidum sowie inhalierbares und injizierbares Adrenalin.

Frage: Was sollte der Allergiker bei den Adrenalinpräparaten beachten, beziehungsweise worauf muss der Arzt seinen Patienten hinweisen?

Prof. Ring: Bei den leichteren Schweregraden 1 und 2 empfehlen wir inhalierbares Adrenalin. Hier hatten wir lange Zeit das Problem, dass es in Deutschland keine FCKW-freien inhalierbaren Adrenalinsprays gab. Wir mussten diese deshalb aus den USA importieren. In Deutschland gibt es jetzt ein neues Präparat. Dieses muss aber vor dem Gebrauch erst umgefüllt werden, das heißt also, es ist nicht ganz einfach zu handhaben und sollte deshalb vorher geübt werden, nach Möglichkeit unter Anleitung des Arztes. Sonst könnte der Betroffene viel Zeit verlieren. Wenn es in der Anamnese bereits Herzkreislaufprobleme mit lebensbedrohenden Schockzuständen gab, dann empfehlen wir das Adrenalin, das der Patient selber in seine Oberschenkelmuskulatur injizieren muss. Häufig haben aber die Patienten Hemmungen, sich selbst etwas zu injizieren. Deshalb muss der Allergiker auch das mit seinem Arzt trainieren, bevor der Ernstfall eintritt.

Frage: Hat das Adrenalin Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten? Beeinflusst es Vorerkrankungen?

Prof. Ring: Das ist ein wichtiger Punkt. Adrenalin muss mit Vorsicht verabreicht werden. Das gilt insbesondere bei älteren Patienten und Patienten mit Herzerkrankungen, wie Herzrhythmusstörungen. Da kann es im schlimmsten Fall zu Kammerflimmern kommen. Es muss aber auch bei Patienten, die Beta-Blocker nehmen, mit Vorsicht genommen werden. Denn Beta-Blocker hemmen die Wirkung des Adrenalins. Deshalb geben wir bei diesen Patienten mit schwerer Anaphylaxie auch Glucagon. Es gehört zum Notfallset des Arztes. Wir sind uns einig, dass man bei einem Allergiker mit der Gefahr einer anaphylaktischen Reaktion keine Beta-Blocker verabreichen sollte.

Frage: Welche Risiken haben die ACE-Hemmer oder die Angiotensin-Rezeptor-Antagonisten?

Prof. Ring: Es besteht hier keine einheitliche Meinung. Das gilt sowohl für die Arbeitsgruppen der Deutschen Gesellschaft für Allergie und klinische Immunologie und der European Academy of Allergology and Clinical Immunology. Es gibt aber ein paar Hinweise darauf, dass schwerere Reaktionen auftreten können, wenn die Patienten ACE-Hemmer nehmen. Bei den Angiotensin-Rezeptor-Antagonisten liegen uns noch keine Erkenntnisse vor.

Frage: Welche Rolle spielen die Beta-2-Sympathomimetika?

Prof. Ring: Wenn ein Asthma im Vordergrund der Symptomatik steht, ist natürlich ein Beta-2-Sympathomimetikum sehr hilfreich. Wenn aber der Kreislauf im Vordergrund steht, dann muss ich auch das Alpha-adrenerge Prinzip nutzen. Wichtig ist aber vor allen Dingen, dass die Insektengiftallergie rechtzeitig diagnostiziert wird, der Patient von seinem Arzt über die Gefahren des anaphylaktischen Schocks unterrichtet wird und er sein Notfallset zu gebrauchen lernt. Dann übersteht er auch unbeschadet Bienen- oder Wespenstiche.

Herr Professor Ring, wir bedanken uns für dieses Gespräch!

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