Dtsch Med Wochenschr 2004; 129(17): 939-940
DOI: 10.1055/s-2004-823059
Editorial
Berufspolitik / Chirurgie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Chirurgen und Chirurgie zwischen Anspruch und Realität

Surgeons and surgery in-between demands and realityB. Ulrich
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Publication Date:
20 July 2004 (online)

Prof. Dr. B. Ulrich

Der zahlenmäßige Rückgang ärztlichen Nachwuchses wird seit einigen Jahren zunehmend diskutiert. Unter dem Titel „Gehen dem deutschen Gesundheitswesen die Ärzte aus” veröffentlichte Dr. Thomas Kopetsch von der KBV schon 2001 folgende Statements:

Die Zahl der Studienanfänger ist konstant. Die Zahlen der medizinischen Studienanfänger ging in 7 Jahren um 11,3 % zurück. Die Zahl der medizinischen Staatsexamen ging um 23 % zurück, die der Approbationen um 22 %.

Dieser offensichtliche Verlust an jungen Ärzten betrifft wahrscheinlich die besseren, weil flexibleren Absolventen, die berufliche Alternativen dort ergreifen (Unternehmensberatung, MDK, Versicherungen, Verlage usw.), wo die Arbeitszeiten günstiger und Dotierungen besser sind. Es gibt inzwischen nicht nur weniger Bewerber, sondern auch weniger qualifizierte Bewerber um Weiterbildungsstellen.

Der Numerus clausus sollte angesichts der Reduktion der Bewerber um einen Studienplatz für Medizin aufgegeben werden. Offensichtlich und ungebremst verliert der Arztberuf an Attraktivität, insbesondere im operativen Bereich. In Kenntnis der großen physischen und zeitlichen Belastung in der Chirurgie ist diese Entwicklung nicht verwunderlich.

Der Anteil weiblicher medizinischer Studenten liegt z. Zt. bei 55 %. In etwa gleicher Häufigkeit finden sich Ärztinnen in den Facharztsäulen wieder. In der Chirurgie sind sie wegen der Problematik zwischen Familie und Beruf aber nur mit deutlich niedrigerem Anteil vertreten. Während das abnehmende Interesse am Arztberuf ein weltweites Phänomen ist, ist der geringe Anteil von Frauen in der Chirurgie, besonders in Deutschland, auffällig. In europäischen Nachbarstaaten gibt es z. B. Einrichtungen (Kinderkrippen), die auch jungen Chirurginnen den Kompromiss zwischen dem Beruf in der Chirurgie und der Familie ermöglichen.

Trotzdem übt der Beruf des Chirurgen nach wie vor auf Studenten eine große Faszination aus, vor allem wegen der berufsbedingten Erfolgserlebnisse. Ausbildungsdauer, Arbeitszeiten, Arbeitsbedingungen (Hierarchie), Familienplanung und teilweise auch Frust der Vorgesetzten (sie raten nicht selten von der Chirurgie ab), halten aber viele Interessierte von der Chirurgie ab. Hinzu kommen die als unattraktiv geltenden Einkommenserwartungen in den Endpositionen bzw. Lebensstellungen.

Wahrscheinlich würden viele junge KollegInnen die „Ochsentour” als bekannte „Durststrecke” früherer Generationen auf sich nehmen, wenn die Endposition entsprechend attraktiver wäre, d. h. leistungsbezogen dotiert würde. Die persönliche Lebensqualität hat darüber hinaus in der jungen Generation eine ganz andere Bedeutung als zu früheren Zeiten. In den USA ist seit 20 Jahren ein ansteigender Trend zu Fächern mit kontrollierbarem Lebensstil und ein fallender für Fächer des Gegenteils - wie z. B. der Chirurgie - evident.

Das EuGH-Urteil bzw. die Festlegung der Arbeitszeit auf max. 48 Wochenstunden und die Aufhebung des Bereitschaftsdienstes werden die Probleme des Berufsbildes Chirurgie und die Nachwuchssorgen noch verstärken. Daran wird auch die lobenswerte Weiterbildungsordnung der Chirurgen mit Common trunk und 6-jähriger Weiterbildungszeit zum Facharzt in 8 Säulen nicht viel ändern können. Auch ist zu befürchten, dass unter den Bedingungen des Arbeitszeitgesetzes der Facharzt in 6 Jahren nicht erreicht werden kann. Ähnliche Sorgen macht man sich in den USA, obwohl dort das Arbeitslimit bei maximal 80 Stunden Wochenarbeitszeit liegt.

Unter diesen Bedingungen stellt sich die Frage, welche Maßnahmen zur Verbesserung des Berufsbildes diskutiert werden können. In Deutschland müsste - denn hier fängt das Problem schon an - der klinische Studienteil besser strukturiert werden. Der Vorbildfunktion des zu fordernden Ausbilders oder Tutors käme eine entscheidende Bedeutung zu. Auch in der chirurgischen Weiterbildung ist das Vorbild des Ausbilders prägend. Die zeitliche Vorgabe von 6 Jahren wäre einhaltbar, wenn Ärzte von arztfremden Aufgaben entbunden würden (z. B. durch neue Berufe wie den Medizinischen Dokumentationsassistenten), die Weiterbildung durch die Zuteilung eines Tutors strukturiert bzw. überwacht würde und wenn die Weiterbildung in Zukunft der Universität und den Krankenhäusern bzw. der wissenschaftlichen Fachgesellschaften übertragen würde.

Die Ärztekammern - bisher dafür zuständig - verfolgen schließlich nur eine Strukturanpassung mit Anhebung der Facharztzahlen auf Kosten von Eingriffszahlen, die wissenschaftlichen Fachgesellschaften wären eher an einer Bildungsordnung und besserer Facharztqualität interessiert.

Der wichtigste Hebel zu Behebung des chirurgischen Assistentenmangels bzw. zur Verbesserung der Attraktivität wäre die leistungsgerechte Bezahlung der Endposition, die der von Leistungsträgern in der Wirtschaft entsprechen müsste. Ein engagierter Arzt, der leistungsfähig ist, der sich auch schwierigen Situationen stellen kann und/oder eine verantwortungsvolle Aufgabe sucht, die ihm über Jahre manche Ungewissheit zumutet und manche Strapazen abverlangt, braucht die Gewissheit, dass die Chirurgie der richtige Berufsweg für ihn ist.

Alle oben genannten Argumente zur Anhebung der chirurgischen Nachwuchszahlen haben die zukünftige Tätigkeit eines Chirurgen im Krankenhaus der Zukunft völlig außer Acht gelassen. Es ist fraglich, ob die neue Weiterbildungsordnung bei der Aufteilung in Portal- und Schwerpunktkliniken (bzw. integrierte Zentren) überhaupt umgesetzt werden kann. Wie viele Chirurgen werden benötigt, um eine ausreichende Versorgung zu gewährleisten und sind diese so ausgebildet, dass die Versorgung auf hohem Niveau stattfinden kann? Klaffen hier nicht Anspruch und Realität weit auseinander ?

So wird es in Zukunft nötig sein, einen Facharzt für Allgemeine Chirurgie für die Portalkliniken, Behörden, Versicherungen, Militär und andere Einrichtungen mit begrenztem operativen Spektrum und großen Kenntnissen in der perioperativen Diagnostik und Therapie vorzuhalten, gleichzeitig wird es für die integrierten Zentren nötig sein, einen hochspezialisierten Chirurgen auszubilden. Zwischen dem „Minimal- und Maximal-” Chirurgen klafft eine Lücke, die es bisher nicht gab. Möglicherweise wird die Spezialisierung der zukünftigen Schwerpunktkliniken soweit gehen, dass nur noch organspezifisch operiert wird. Wenn diese Vision zuträfe, wäre der nächste Schritt nicht weit, nämlich die Loslösung vom Patienten. Bei fehlendem Patientenkontakt aber wären die Chirurgen ihres Selbstverständnisses beraubt.

Mit Blick in die Zukunft wurde für den 121. Chirurgen-Kongress das Motto „Chirurgen und Chirurgie zwischen Anspruch und Realität” gewählt.

Hoffentlich kann die Chirurgie der Zukunft nicht nur deshalb vervollkommnet werden, weil das nachgeahmt wird, was Henry Ford vor 100 Jahren zur Steigerung der Autoproduktion als erster umsetzte, nämlich eine auf ein oder maximal zwei Organe beschränkte operative Tätigkeit.

Auch wenn sich die Chirurgie den Veränderungen des Gesundheitssystems anpassen muss, kommt es bei übertriebener Betonung von Mindestzahlen, „Caseload“ und „Surgeon load“ zur Aushöhlung des Berufsbildes Chirurgie, mit der Folge weiter zunehmenden Nachwuchsmangels.

In dieser Situation ist zu überlegen, ob der Facharzt für Allgemeine Chirurgie - den General Surgeon in USA und Großbritannien - , den viele als kränkelndes Kind mit begrenzter Lebenserwartung ansehen, seinem Schicksal überlassen werden sollte, oder ob eine konsequente Therapie angeboten werden sollte. Eine Entwicklung, bei Operationen in jeder Körperregion von einem anderen Chirurgen betreut zu werden, lässt die Frage nach der letzten Verantwortung aufkommen, man könnte auch vom Organisator sprechen.

Die zukünftige Struktur der Krankenhäuser vor Augen, wurde als Logo für den Chirurgen-Kongress 2004 ein junger Chirurg vor dem Hintergrund eines Barcodes gewählt. Damit soll auf die Möglichkeit von Krankenhausträgern der Zukunft hingewiesen werden, den für sie nach Alter und Erfahrung passenden Chirurgen zeit- und phasenweise per Chipkarte auswählen zu können. Mit dieser Deutung des Logos soll auf mögliche Auswüchse hingewiesen werden.

Zu dem Gedanken an die „Berufsbildänderung” gibt es einen chinesischer Spruch, der sagt: „Du kannst die Unglücksvögel nicht daran hindern, über Deinen Kopf zu fliegen, aber Du kannst sie daran hindern, ein Nest in Deinem Haar zu bauen”.

Die Chirurgie war und ist eine ehrenvolle und bedeutende Tätigkeit mit hohen Idealen und ethischen Grundsätzen. Sie wird auch diese Herausforderung unserer Zeit bewältigen.

Der Zuspruch durch junge Ärzte wird wieder wachsen, wenn die Weiterbildung strukturiert angeboten und Lebensqualität nicht außer Acht gelassen wird, wenn übertriebene Spezialisierung verhindert und adäquate Dotierungen garantiert werden, und wenn Ältere wieder den Jüngeren Vorbilder sein können.

Dazu gehört auch die Neustrukturierung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGC) als Dachverband. Die neue, inzwischen verabschiedete Satzung, die die Gleichstellung aller Fachgesellschaften im Vorstand vorsieht, wurde bereits von den Unfallchirurgen, den Viszeralchirurgen und den Gefäßchirurgen akzeptiert. Es bleibt zu hoffen, dass die noch zögernden Herz- und Thoraxchirurgen und Kinderchirurgen in Kürze beitreten werden. Damit wäre nicht nur eine starke Außenvertretung erreicht, sondern auch eine Grundlage, auf der das Berufsbild des Chirurgen wieder Konturen erhalten kann.

Der Präsident und der Vorstand der DGC werden alles tun, um positiven Einfluss auf das Berufsbild des Chirurgen zu nehmen.

Prof. Dr. B. Ulrich

Chirurgische Abteilung der Kliniken und Seniorenzentrum der Landeshauptstadt Düsseldorf gGmbH, Krankenhaus Gerresheim

Gräulinger Straße 120

40625 Düsseldorf

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