Rehabilitation (Stuttg) 2003; 42(3): 180-191
DOI: 10.1055/s-2003-40102
Mitteilungen der AG Dt. Berufsförderungswerke
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Verringert berufsbezogene Rehabilitation die Wiedereingliederungswahrscheinlichkeit? Zur mikroökonometrischen Evaluation am Beispiel der „Schweden-Studie”

Is Return to Work Probability Diminished by Vocational Rehabilitation? On Microeconometric Evaluation on the Example of the „Sweden Study”K.  Beiderwieden1
  • 1Arbeitsgemeinschaft Deutscher Berufsförderungswerke, Hamburg
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Publication Date:
18 June 2003 (online)

Thesenartige Zusammenfassung

Vier Arten von Evaluation lassen sich unterscheiden: die Alltags-Evaluation, der dezisionistische, der experimentelle und der nichtexperimentelle Ansatz. Die gegenwärtig vorherrschende Form wissenschaftlicher Evaluation ist der nichtexperimentelle Ansatz, bei dem Gruppen von „statistischen Zwillingen” gebildet und deren Maßnahmeerfolge miteinander verglichen werden. Alle 4 Verfahren sind für die Evaluation der beruflichen Rehabilitation in Deutschland bislang nicht befriedigend. Erstmals liegt mit der Studie „Mikroökonometrische Evaluierung berufsbezogener Rehabilitation in Schweden” von M. Frölich, A. Heshmati und M. Lechner aus dem Jahre 2000 (8; im Folgenden „Schweden-Studie” genannt) eine deutschsprachige Untersuchung berufsbezogener Rehabilitation vor, die auf dem nichtexperimentellen Ansatz beruht. Das Ergebnis, zu dem die „Schweden-Studie” kommt, ist für die Rehabilitation insgesamt und für die so genannte „BILDUNGS-Rehabilitation” im Besonderen vernichtend. So heißt es: „BILDUNGS-Rehabilitation scheint in jeder Hinsicht die Wiederbeschäftigungswahrscheinlichkeit zu verringern”, wogegen „KEINE Maßnahme die erfolgsreichste ist, gefolgt von ARBEITSPLATZ-Rehabilitation” (8, S. 27 f.). Eine telefonische Anfrage bei Mitarbeitern des Riksförsäkringsverket RFV ( = „Reichsversicherungswerk”), die in der „Schweden-Studie” genannt wurden, ergab, dass diese die Ergebnisse der Studie nicht kannten. Sie waren überrascht von den Ergebnissen, da BILDUNGS-Rehabilitation in Schweden als die wirksamste Form berufsbezogener Rehabilitation gilt. Die Daten, die in der „Schweden-Studie” verwendet wurden, beruhen auf dem Riks-LS-Datensatz des schwedischen Riksförsäkringsverket und wurden in den Jahren 1991 - 1994 in fünf westschwedischen Regionen erhoben. Die Stichprobe umfasst 6287 Langzeiterkrankte von mindestens 60 Tagen Krankheitsdauer, von denen insgesamt 2785 an Reha-Maßnahmen teilgenommen hatten. Vier Arten von Reha-Maßnahmen werden in der „Schweden-Studie” miteinander verglichen: KEINE Rehabilitation, ARBEITSPLATZ-Rehabilitation, BILDUNGS-Rehabilitation und MEDIZINISCHE und SOZIALE Rehabilitation. Die Zahlen „deuten eine Ansammlung schwieriger Fälle in der BILDUNGS-Rehabilitation an” (8, S. 13). Die Informationen über die unterschiedlichen Reha-Maßnahmen sind äußerst dürftig. „Weder die Länge dieser Maßnahmen noch ihre zeitliche Reihenfolge ist zuverlässig dokumentiert” (8, S. 11). So erfährt man über BILDUNGS-Rehabilitation nicht mehr, als dass es sich um „Aus- und Weiterbildungsaktivitäten wie z. B. Praktika und Berufsschule” (8, S. 7) handeln kann. Die Dauer der Maßnahmen beträgt durchweg weniger als ein Jahr. Die mikroökonometrische Evaluation hängt davon ab, wie die „statistischen Zwillinge” gebildet werden. Dazu sind eine Reihe von Annahmen erforderlich. Gegen die Annahmen in der „Schweden-Studie” sind erhebliche Vorbehalte angebracht. So muss bezweifelt werden, ob „alle Variablen” (8, S. 3) berücksichtigt worden sind. Das theoretische Niveau zur Erklärung „unbeobachteter” (8, S. 17) Einflüsse ist äußerst dürftig und setzt sich großzügig über vorhandene „blinde Flecken” in der Forschung hinweg. Da man nicht genügende „statistische Zwillinge” fand, mussten einige „aus der Gruppe BILDUNG mehrfach verwendet werden”, was „die Schätzgenauigkeit der betroffenen paarweisen Effekte verringern” kann (8, Anhang, S. 6). Das „Erfolgkriterium” ist so gewählt, dass „KEINE Rehabilitation” gewinnen muss. Als „Erfolg” werden die Rückkehr zum früheren Arbeitsplatz und der Arbeitsbeginn an einem neuen Arbeitsplatz definiert, wodurch die Wiederbeschäftigung bei KEINER Rehabilitation 48 % und bei BILDUNGS-Rehabilitation nur 29 % beträgt. An diesem Erfolgskriterium ist dreierlei problematisch: Die Beschäftigung an einem nicht-regulären, subventionierten Arbeitsplatz wird nicht als „Wiederbeschäftigung” gewertet. Würde man diese indessen zum Erfolgskriterium hinzunehmen, würde die Beschäftigungsquote für KEINE Rehabilitation bei 48 % verharren, für BILDUNGS-Rehabilitation sich aber auf 40 % erhöhen. Die „nicht abgeschlossenen” Fälle werden in die Berechnung der Erfolgsquote einbezogen. Das ist völlig unverständlich. So können z. B. Teilnehmer einer BILDUNGS-Rehabilitation definitionsgemäß nicht gleichzeitig auch Beschäftigte sein. Würde man die „nicht abgeschlossenen” Fälle von der Berechnung ausschließen, erhielte man für die Beschäftigtenquote (siehe a) 53 % bei KEINER Rehabilitation und 49 % bei BILDUNGS-Rehabilitation. In der „Schweden-Studie” wird der „Arbeitsmarktstatus unmittelbar nach Krankheitsende” gemessen. „Es können somit also nur kurzfristige Effekte gemessen werden, die nur sehr begrenzt Rückschlüsse auf die Nachhaltigkeit rehabilitierender Maßnahmen zulassen” (8, S. 17). Hinzu kommt, dass der Beobachtungszeitpunkt, je nach Art der Reha-Maßnahme, erheblichen Einfluss auf das gemessene Ergebnis hat. So sind fast alle aus der Gruppe KEINE bzw. ARBEITSPLATZ-Rehabilitation, nachdem ihr Krankheitsfall beendet war, unmittelbar auf den alten Arbeitsplatz zurückgekehrt. Die Teilnehmer an einer BILDUNGS-Rehabilitation haben im Allgemeinen nicht diese Möglichkeit, sondern müssen sich erst einmal eine neue Beschäftigung suchen, was einige Zeit dauert. Wählt man nun als Zeitpunkt, an dem die Erwerbssituation gemessen wird, das Maßnahmeende, muss man unweigerlich zu schlechten Ergebnissen für die Gruppe BILDUNGS-Rehabilitation kommen. Die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Berufsförderungswerke führt bereits seit 1980 so genannte „Nachbefragungen” ihrer Absolventinnen und Absolventen durch. Sie hat früher als andere mit der Evaluation ihrer Arbeit begonnen und ständig daran gearbeitet, diese zu vervollkommnen. Sie steht daher prinzipiell allen neuen Ansätzen aufgeschlossen gegenüber. Evaluation - auch mikroökonometrische - ist prinzipiell zu begrüßen. Zu fragen ist, ob man dabei mit den „vorhandenen” Daten auskommt.

Literatur

  • 1 Arbeitsgemeinschaft Deutscher Berufsförderungswerke. Träger- und Herkunftsbezogene Belegung in den Berufsförderungswerken - Hauptmaßnahmen. Erhebungszeitpunkt: 30.1.2000. Hamburg; ARGE BFW 2001
  • 2 Beiderwieden K. Berufliche Wiedereingliederung von ehemaligen Rehabilitanden und Rehabilitandinnen - Empirische Ergebnisse der Nachbefragungen der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Berufsförderungswerke. In: Ellger-Rüttgardt S, Blumenthal W (Hrsg) Über die große Schwelle. Junge Menschen mit Behinderungen auf dem Weg von der Schule in Arbeit und Gesellschaft. Ulm; Universitätsverlag Ulm 1997: 81-92
  • 3 Beiderwieden K. Langfristige Wiedereingliederung nach der beruflichen Rehabilitation - Ergebnisse einer Langzeituntersuchung der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Berufsförderungswerke.  MittAB. 2001;  2 182-206
  • 4 Blaschke D, König P. Berufliche Wiedereingliederung von Rehabilitanden. IAB-Werkstattberichte 1992 3
  • 5 Blaschke D, Plath H-E. Möglichkeiten und Grenzen des Erkenntnisgewinns durch Evaluation aktiver Arbeitsmarktpolitik.  MittAB. 2000;  3 462-482
  • 6 Fitzenberger B, Speckesser S. Zur wissenschaftlichen Evaluation der Aktiven Arbeitsmarktpolitik in Deutschland: Ein Überblick.  MittAB. 2000;  (3) 357-370
  • 7 Frölich M, Heshmati A, Lechner M. A Microeconometric Evaluation of Rehabilitation of Long-term Sickness in Sweden. Discussion paper 2000 - 04. St. Gallen: Department of Economics, University of St. Gallen 2000
  • 8 Frölich M, Heshmati A, Lechner M. Mikroökonometrische Evaluierung berufsbezogener Rehabilitation in Schweden.  Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik. 2000;  136 433-461 ,  - zit. nach Download von URL: www.siaw.unisg.ch/org/siaw/web.nsf/wwwPubPublikationLechnerGer?OpenForm (Volltext 00f02d.pdf, 33 S.; Anhang 00f02a.pdf, 14 S.)
  • 9 Heshmati A, Engström L-G. Estimating the Effects of Vocational Rehabilitation Programmes in Sweden. 1999 - Download von URL: http//econpapers.hhs.se/paper/hhshastef/0293.htm
  • 10 Kleinhenz G, Brinkmann C. Wissenschaftliche Evaluation für Pauschalurteile? Sieben Anmerkungen zur aktuellen Debatte über aktive Arbeitsmarktpolitik.  IAB-Materialien. 2001;;  (2) 3
  • 11 Smith J. Evaluation aktiver Arbeitsmarktpolitik. Erfahrungen aus Nordamerika.  MittAB. 2000;;  (2) 345-356
  • 12 Weiss C H. Evaluierungsforschung. Methoden zur Einschätzung von sozialen Reformprogrammen. Opladen; Westdeutscher Verlag, 1974

1 Die Studie ist in einer längeren Fassung in englischer Sprache [7] und in einer etwas kürzeren Fassung in deutscher Sprache [8] erschienen. Sie kann im Internet unter der URL: www.siaw.unisg.ch/org/siaw/web.nsf/wwwPubPublikationLechnerGer?OpenForm heruntergeladen werden. Dort finden sich weitere Studien zur mikroökonometrischen Evaluation der aktiven Arbeitsmarktpolitik in Deutschland und der Schweiz. M. Frölich ist Assistent, M. Lechner Professor für Ökonometrie an der Universität St. Gallen, A. Heshmati ist als Professor an der Stockholm School of Economics tätig.

2 Die Ausführungen in diesem Kapitel lehnen sich an [3] an.

3 Auf einen weiteren, vom Autor vorgeschlagenen subjektorientierten Ansatz soll hier nicht eingegangen werden, da er noch eine Reihe von Vorstudien erfordert [3].

4 Anzumerken ist, dass es eigentlich keine signifikanten Differenzen zwischen Versuchs- und Kontrollgruppe bei der Vor-Erwerbsquote geben darf.

5 Dieser Begriff findet sich nicht in der „Schweden-Studie”, dort wird u. a. von „gleichen Paaren” gesprochen. Der Begriff „statistische Zwillinge” wird - wenn auch kritisch - z. B. von Blaschke und Plath [5] verwendet.

6 In der „Schweden-Studie” wird zwischen KEINE Rehabilitation, ARBEITSPLATZ-Rehabilitation, BILDUNGS-Rehabilitation und MEDIZINISCHE und SOZIALE Rehabilitation unterscheiden. Diese Bezeichnungen werden auch hier im Weiteren verwendet.

7 Nebenbei sei angemerkt, dass es sich bei diesen Formen der Motivation um extrinsische Motivation handelt.

8 Übrigens dürfte dies auch die Differenz zu den Mitarbeitern des Riksförsäkringsverket erklären (s. o.).

Kay Beiderwieden

Arbeitsgemeinschaft Deutscher Berufsförderungswerke, c/o Berufsförderungswerk Hamburg, Bereich Evaluation und Sozialforschung

August-Krogmann-Straße 52

22159 Hamburg

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