Aktuelle Neurologie 2002; 29: 247-248
DOI: 10.1055/s-2002-36028
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Editorial

EditorialH.-P.  Hartung1
  • 1Neurologische Klinik, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
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Publication Date:
10 December 2002 (online)

Durch die Einführung der Interferon-β-Präparate wurde die Therapie der multiplen Sklerose entscheidend verändert. Zeigten die Interferonpräparate zunächst in den Therapiestudien bei schubförmigen Verläufen ihren günstigen Einfluss auf Behinderungsprogression und Schubratenreduktion, so liegen inzwischen auch Studienerkenntnisse in anderen Stadien der multiplen Sklerose vor. Für das Interferon-β-1a Avonex®, das seit nunmehr über sechs Jahren im klinischen Einsatz ist, belegen die mittlerweile sehr umfangreichen Studien, dass Patienten bereits in sehr frühem Stadium der multiplen Sklerose von einer Therapie mit Interferon-β-1a profitieren bzw. auch bei sekundär progredienten Verläufen mit überlagernden Schüben eine Interferon-β-Therapie von Nutzen ist.

Insgesamt haben die klinischen Interferon-β-Studien jedoch auch neue Fragen aufgeworfen, wie beispielsweise nach dem Behandlungsbeginn, der Dosierung, dem Stellenwert kognitiver Defizite und der Aussagekraft der Schubrate als primärem Wirksamkeitsparameter in klinischen Studien. Andererseits wurden der Multiplen-Sklerose-Forschung durch die Entwicklung dieser modernen immunmodulatorischen Therapieansätze auch neue wesentliche Impulse gegeben. So wird die axonale Schädigung, die bereits von Charcot beschrieben wurde, entsprechend ihrem hohen Stellenwert im Rahmen der MS-Pathophysiologie wieder vermehrt beachtet. Die nachfolgenden Beiträge befassen sich mit diesen Aspekten aktueller MS-Therapie und Forschung. Sie basieren auf der Zusammenfassung von Vorträgen, die im Rahmen eines Satellitensymposiums auf der DGN gehalten wurden.[1]

Das Wissen um den axonalen Schaden bei der multiplen Sklerose hat in den letzten Jahren aufgrund histopathologischer und auch neuer kernspintomographischer Daten an Bedeutung gewonnen. Da der Verlust von Axonen wesentlich für die persistierenden neurologischen Defizite bei Patienten mit multipler Sklerose ist, scheinen Behandlungsstrategien zur Verminderung von Schädigungen an Neuron bzw. Axon und die Verbesserung ihrer Funktion von enormer Bedeutung für die Kontrolle der Erkrankung zu sein. Für einige etablierte immunmodulatorische Therapien konnte bereits mithilfe neuer bildgebender Verfahren ein protektiver Effekt nachgewiesen werden, allerdings sind die Mechanismen und Vorgänge, die während der Entzündungsreaktion zu axonaler Degeneration führen, noch nicht im Einzelnen bekannt. In dem Beitrag von Rieckmann werden die experimentellen und klinischen Daten vorgestellt, die auf eine potenzielle axonprotektive Wirkung der antiinflammatorischen Therapie hinweisen.

Klinische Symptome der multiplen Sklerose umfassen sensorische, motorische und kognitive Störungen. Den kognitiven Aspekten dieser Erkrankung wurde jedoch von therapeutischer Seite bisher nur marginale Aufmerksamkeit geschenkt. Klinische Studien mit dem rekombinanten Interferon-β-1a Avonex® zeigen, dass neuropsychologische Defizite unter der Therapie signifikant positiv beeinflusst werden können. Die Arbeit von Calabrese gibt einen Überblick über Art und Häufigkeit kognitiver Störungen bei multipler Sklerose und verdeutlicht anhand aktueller Studiendaten den Stellenwert und die Alltagsrelevanz dieser neuropsychologischen Defizite.

Der Beitrag von Hartung befasst sich mit der Frage nach dem Behandlungsbeginn einer Interferon-β-Therapie. Für den frühen Behandlungsbeginn sprechen zahlreiche pathoanatomische Untersuchungen, kernspintomographische Verlaufsbeobachtungen und immunologische Befunde. Den Nutzen eines frühen Einsatzes des i. m. applizierten Interferon-β-1a dokumentieren auch eindrücklich die Ergebnisse der nordamerikanischen CHAMPS-Studie. Hier konnte bei Patienten mit einem ersten demyelinisierenden Ereignis unter der Therapie mit dem rekombinanten Interferon-β-1a der Zeitpunkt für das Auftreten eines neuerlichen neurologischen Ereignisses signifikant hinausgezögert werden.

Schließlich gibt die Arbeit von Limmroth einen Überblick über die Daten und Fakten aus klinischen Studien, die nach nunmehr über sechs Jahren klinischem Einsatz für das Interferon-β-1a Avonex® vorliegen. Neue Erkenntnisse zu Semiologie, Formen und Verlauf der multiplen Sklerose sprechen für eine Dissoziation von Schubrate und Behinderungsprogression. Dies zwingt dazu, die Schubrate als primären Wirksamkeitsparameter kritisch zu überdenken. In der Arbeit wird zudem anhand der vorliegenden umfangreichen Therapiestudiendaten mit Interferon-β die Frage der Dosierung diskutiert.

1 „Moderne Therapie der multiplen Sklerose - Neueste Daten und Fakten zu Avonex”, Satellitensymposium der Firma Biogen, 75. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie in Mannheim, 27. September 2002.

Prof. Dr. med. Hans-Peter Hartung

Neurologische Klinik · Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Moorenstraße 5

40225 Düsseldorf

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