Psychotraumatologie 2002; 3(4): 48
DOI: 10.1055/s-2002-35084
Bericht aus der Praxis
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Retraumatisierungen der Eltern und Kindergeneration des 2. Weltkrieges

Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten
Vortrag vom 36. Kongress der ÄK Nordwürttemberg in Stuttgart zum Thema „Kriegsbedingte posttraumatische Belastungsstörungen”, 2. 2. 2001
Helga Spranger1
  • 1FÄ f. Neurologie u. Psychiatrie, Psychotherapie, FÄ f. Psychotherapeutische Medizin
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
23. November 2002 (online)

 

Einleitung

Die durch den 2. Weltkrieg kriegstraumatisierten Menschen sind in der Bundesrepublik in ihren Beschwerden lange ignoriert worden. Der Krieg im Balkan hat deutliche Impulse gesetzt, sich mit psychischen Erkrankungen der Kriegsgeneration und deren Nachkommen mehr auseinanderzusetzen.

Basale psychotraumatische Belastungssyndrome/ Posttraumatische Belastungsstörungen, wie sie im ICD 10 und DSM IV beschrieben sind, können auch nach jahrelangen freien Intervallen klinisch relevant werden. Sie können darüber hinaus in die folgende Generation transponiert werden.

Die Diagnose muss den prozessualen Verlauf beinhalten, danach kann eine ursachengerechte und altersentsprechende Therapie konzeptualisiert und eingeleitet werden.

„Das schlimmste ist, ich habe Angst vor mir selbst, weil ich lache, wenn ich etwas darüber im Fernsehen sehe oder mir ein anderer aus meiner Heimat davon erzählt.” (ein Student aus Ruanda, 27 Jahre)

„Ich fühle mich so einsam”. (ein Mann aus Deutschland, 72 Jahre)

Äußerungen von Gruppenmitgliedern 99/00

Gestatten Sie mir bitte einen minimierten Exkurs in die Sphären der psychotherapeutischen Auffassung und Behandlung von „Kriegsneurotikern” und „Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Volksgesundheit” sowie der „Kampfbereitschaft des Volkes” zu Zeiten des 1. u. 2. Weltkriegs.

Ohne wenigstens einen Wimpernschlag lang die politischen Hintergründe der damaligen Zeit spotlightmäßig anzustrahlen, gelingt ein Verständnis der späteren Entwicklung des therapeutischen Umgangs mit traumatisierten Menschen aus diesen Kriegen nicht.

Einige der nachfolgenden Namen werden Ihnen möglicherweise durch Ihre Ausbildung geläufig sein.

Karl Abraham hatte 1915, nach Kriegsbeginn 1914, in Allenstein /Ostpreußen eine Beobachtungsstation für „psychopathische Soldaten” eingerichtet.

Ernst Simmel, der 2 Jahre als OA und leitender Arzt in einem „Spezial - Lazarett für Kriegsneurotiker” tätig war, berichtete 1918 erstmalig über seine Erfahrungen in seinem Buch „Kriegsneurosen und psychisches Trauma”. Danach wurden die betroffenen Soldaten mit der sogenannten Kaufmann-Kur behandelt. Sie beinhaltete eine „notdürftig mit Suggestivmaßnahmen verbrämte Foltermethode mit elektrischen Schocks und der von Nonne salonfähig gemachten Kombination von Suggestion und Hypnose” [1]

Am 28. u. 29. September 1918 fand erstmals ein internationaler Kongress in Budapest „Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen” statt. Freud äußerte sich gleichzeitig zu seinen Vorstellungen der „Neurosenbehandlung bei Menschenmassen”. Schon wenige Wochen später war der 1. Weltkrieg beendet, und der Vertrag von Versailles brockte dem „Deutschen Volk” eine narzisstische Krise erheblichen Ausmaßes ein.

1939, 21 Jahre später:

H. Linden (Suizid 1945) wurde 1939 zum Leiter des „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden” und 1941 zum „Reichsbeauftragten für Heil - und Pflegeanstalten” ernannt, - beides „Tarnorganisationen”, um die Euthanasie durchführen zu können. Er wollte die psychiatrischen und psychotherapeutischen Einrichtungen von „nicht behandelbaren” Patienten entlasten und die Grundlagen für eine „aktive Therapie” organisieren.

M. H. Göring /Jurist und Nervenarzt (1897-1945), führte als Leiter das „Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie”, gegründet 1936, das mit der Dringlichkeitsstufe „S”, der zweiten Dringlichkeitsstufe im „3. Reich” versehen war. Er lies im Auftrag des Kriegsministeriums „Völker - und massenpsychologische Untersuchungen” durchführen. Noch 1944 (!) hielt er einen Vortrag zum Thema: „Der Beitrag der Psychotherapie zur totalen Kriegführung”.

H. Schultz - Henke (1892-1953), im gleichen Institut tätig, berichtete u. a. 1940 über „Die seelische Reaktion auf die Verdunklung” und erforschte gemeinsam mit Göring die Auswirkungen von Luftangriffen auf die Bevölkerung. Er äußerte: „ Auch von ihrer Seite (gemeint: Deutsche Arbeitsfront ) wurde die Forderung erhoben, die Tiefenpsychologie solle ihren Beitrag zur Betriebspsychologie, zur Frage der Einsatzbereitschaft und der Führung liefern.”

Am 19. Mai 1942 schließlich wurden unter der Ägide von Werner Kemper (1899-1976), Stellvertreter von Göring im „Deutschen Institut”, Richtlinien für den Umgang mit den sog. Kriegsneurotikeren herausgegeben, - unterschrieben von den Ärzten Wuth, Kolle, Schneider, Stockert, Christukat, Schneider, Schneider, Kemper.

Darin heißt es u.a.:

„Unter den Persönlichkeiten mit gleichzeitiger abnormer seelischer und körperlicher Veranlagung ist die für den Heeresdienst praktisch wichtigste Gruppe die der Hypochondrischen, der Erwartungsängstlichen und der leicht beschränkten Willensschwachen. Sie neigt zu zweckbestimmten Konfliktreaktionen, d. h. zur sogenannten Flucht in die Krankheit, um sich dadurch einer als unerträglich empfundenen Belastungsreaktion mehr oder minder bewusst zu entziehen und zu gleicher Zeit das Mitleid der Umgebung zu erregen und auszunutzen. Dies ist die Gruppe der im Weltkrieg in Sonderheit mit dem Namen „Kriegsneurose”(der Begriff geht zurück auf Bonnhöfer, 1926, d. Verf.) belegten Zustände. Hierher gehören die Hauptmasse der Kriegszitterer (Schütteler) andauernd fixierten Lähmungen, hysterischen Sprachstörungen, Stummheit, Taubheit, Blindheit ... hysterische Pseudodemenz u. ä.”

„Dauernde Rückfälligkeit oder schwere Abartung werden aber in einem Teil der Fälle besondere Maßnahmen notwendig machen, es wird vorgeschlagen, an geeigneten Orten Abteilungen zu schaffen, damit sowohl die Truppe wie die Heimat von der zersetzenden Wirkung dieser besonderen Menschen bewahrt bleiben.”

Abartige Charaktere („Psychopathen und Charakteropathen”) wurden nicht behandelt, sondern einer Strafkompanie oder dem KZ zugeführt - nachzulesen u.a. in Berichten über die „Moorsoldaten” oder Vorort im KZ Auschwitz.

Zitat eines damaligen Kindes

„Und dann hab` ich ihm einen Brief geschrieben, direkt am nächsten Tag, als er weggefahren ist. Und dann haben wir nichts gehört, nichts gehört. Nur der Brief kam wieder zurück. Dieser Feldpostbrief. Ich weiß noch jetzt: 17 5 81. Das ist die Feldpostnummer! Können Sie sich das vorstellen, wie mich das geprägt hat, dass ich das nach 50 Jahren noch weiß: 17 5 81 [2].

Ein Kind berichtet dem Vater an der Front von einem Flugzeugabsturz:

„Am nächsten Tag sind wir zu dem Flugzeug hingegangen ... Das Flugzeug war auf dem ganzen Feld verstreut. Das hat sicher noch Bomben bei sich gehabt. Eine Niere lag da und Stücke vom Engländer...” [2]

Ich möchte Ihnen zur Verdeutlichung der Nachkiegsbilanz - hinsichtlich unserer heutigen Fragestellung - einige Zahlen nennen:

Ausgehend von Angaben aus dem Jahr 1939, betrug die damalige Gesamtbevölkerungszahl ca. 68 Mill. Der 2. Weltkrieg brachte (von insgesamt 50 Mill. Toten) allein in Deutschland 4 Mill. Soldaten und 500 Tsd. Zivilisten den Tod. 250 Tsd. Soldaten kämpften in Stalingrad, davon sind 5000 zurückgekehrt. 12,5 Mill. Flüchtlinge kamen aus dem Osten lebend nach Deutschland, 2 Mill. gingen auf der Flucht zugrunde.

Wir wissen, dass das politische Herrschaftssystem des „3. Reiches” schon während des Krieges gedanklich offensichtlich keinen ethisch-kritischen Zugang zur Frage der Traumatisierung der „Feinde”, geschweige denn der eigenen Bevölkerung zuließ. Um so weniger konnte sich nach dem verlorenen Krieg und HOLOCAUST eine Anteil nehmende therapeutische Auseinandersetzung ereignen, weil ein großer Teil der Bevölkerung unter der Schuld litt, die in ihrem Namen: „Im Namen des deutschen Volkes” entstanden war.

Viele der damals im deutschen NS-Staat aktiven Psychologen, Psychiater, Psychoanalytiker und Psychotherapeuten waren nach dem Krieg zudem noch jahrelang als Gutachter und Ausbilder tätig. Sie haben durch ihre tradierten politisch-ideologisch geprägten Auffassungen von der Behandlung psychisch Kranker über Jahrzehnte hinweg wesentlich dazu beigetragen, die Leiden der durch den Krieg traumatisierten Kinder, Frauen und Männer zu ignorieren.

Literatur

  • 1 Brecht B. Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Weise weiter... Zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland. Verlag Michael Kellner 1985
  • 2 Bode S. O-Ton „Katharina” in der Sendung „Vater ist im Krieg, das Leben geht weiter... Was Kinder in Feldpostbriefen schrieben”. NDR XI/00
  • 3 Fischer G. Neue Wege nach dem Trauma. Erste Hilfe bei schweren seelischen Belastungen. Vesalius - Verlag Konstanz; 2000
  • 4 Bellon E. Die Russen kommen. Erinnerung an den Mai 1945. Bad Doberaner Jahrbuch 2000
  • 5 Spranger H. Es ist nicht zu spät!. Evangelische Akademie Dokumentation der Tagung vom 17.-19. 4. 2000 Bad Boll; Kriegskinder gestern und heute 37 ff.
  • 6 Spranger H. Der Fall Hüseyin Calhan. 2000
  • 7 Deneke F W. Psychische Struktur und Gehirn, die Gestaltung subjektiver Wirklichkeiten. Schattauer Stuttgart, New York; 1999
  • 8 Fischer G, Riedesser P. Lehrbuch der Psychotraumatologie. UTB Stuttgart; 1999

Weiterführende Literatur

  • 9 Bäuerle P. et al .Klinische Psychotherapie mit älteren Menschen. Verlag Hans Huber Bern; 2000
  • 10 Heuft G. et al .Lehrbuch der Geronto-Psychosomatik und Alterspsychotherapie. UTB Stuttgart; 2000
  • 11 Peres S. Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss. dtv premium München; 1999
  • 12 Radebold H. Psychodynamik und Psychotherapie. Springer Heidelberg; 1992
  • 13 Richter H E. Wanderer zwischen den Fronten. Kiepenheuer und Witsch Köln; 2000
  • 14 Richter H E. Umgang mit der Angst. Econ Taschenbuch-Verlag München; 2000

1 4 Kriterien des bPTBS = basales (grundlegendes) psychotraumatisches Belastungssyndrom

1 - Ein belastendes Ereignis, das in einem Zustand der objektiven oder subjektiven Hilflosigkeit erfahren wird. Das Gleiche gilt für belastende Lebensumstände, die über einen längere Zeitraum hinweg bestehen.

1 - Wiederkehrende, plötzliche Erinnerungen an das Ereignis, z. B. in Alpträumen oder in sog. „flash-backs”, in „Nachhallerinnerungen”, in denen wie in einem Horrorfilm, Szenen vom traumatischen Geschehen ständig wiederkehren. Manchmal tauchen auch nur Bruchstücke auf wie Gerüche, Geräusche oder Körperempfindungen, die mit den Vorfällen anscheinend in keinem Zusammenhang stehen.

1 - Vermeiden von allem, was an das Trauma erinnert oder erinnern könnte, so z.B. ängstliche Vermeidung von Zügen und Straßenbahnen, wenn ein Zugunglück das Trauma verursacht hat, oder auch schon das Reden über Züge, Straßenbahnen oder andere Verkehrsmittel. Die ängstliche Vermeidungshaltung kann sich mit der Zeit immer weiter ausbreiten

1 - Eine gesteigerte Erregbarkeit und Schreckhaftigkeit. Die Betroffenen können keine Ruhe finden und schrecken zusammen bei allen ungewöhnlichen Vorkommnissen, nicht nur bei solchen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen. Das autonome Nervensystem, das die vitalen Überlebensfunktionen beim Menschen regelt, befindet sich in ständiger Alarmbereitschaft. Es ist, als wenn ein Motor auf Hochtouren läuft, ohne, dass ein Weg zurückgelegt wird.

Autorin:

Dr. Helga Spranger

FÄ f. Neurologie u. Psychiatrie, Psychotherapie, FÄ f. Psychotherapeutische Medizin

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