Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2002; 37(8): 439-440
DOI: 10.1055/s-2002-33171
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die Beeinflussung der zellulären Immunität
durch Anästhetika

Anaesthetics and Cellular ImmunityJ.  Heine, S.  Piepenbrock
  • 1Zentrum Anästhesiologie, Medizinische Hochschule
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Publication Date:
07 August 2002 (online)

Bibliografie

Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging man davon aus, dass Anästhetika einen ungünstigen Einfluss auf das Immunsystem haben können. So wurde in einer 1903 publizierten tierexperimentellen Arbeit mit dem Titel „Immunität und Narkose” die Beeinflussung des zum damaligen Zeitpunkt kaum erforschten Immunsystems durch Anästhetika diskutiert [1]. Erste Belege für die Beeinträchtigung von Phagozytose und Bakterizidie durch Anästhesieverfahren wurden durch Untersuchungen während Äther- und Chloroform-Anästhesie von Rubin im Jahr 1904 bzw. 1911 durch Graham geliefert [2] [3]. Allerdings sind erst in den letzten 20 Jahren die möglichen Einflüsse von Anästhetika und Anästhesieverfahren auf das Immunsystem und deren klinische Bedeutung zunehmend in das Blickfeld wissenschaftlicher Untersuchungen gerückt. Angesichts der Bedeutung postoperativer Infektionen für Morbidität und Mortalität chirurgischer Patienten ist die Frage der Beeinflussung der Immunfunktion durch Anästhetika und Sedativa von hoher klinischer Relevanz, geht es doch um nicht weniger als die Frage, ob die Anästhesie aber auch die Analgosedierung auf der Intensivstation zu einer Erhöhung des Infektionsrisikos beitragen kann.

Das Immunsystem stellt ein komplexes Netzwerk aus verschiedenen Zellen und Organen dar, das interaktiv die Entstehung von Krankheiten durch verschiedenartige Erreger oder Toxine zu verhindern sucht. Neben der humoralen Abwehr durch Immunglobuline und dem Komplementsystem zählen die Monozyten/Makrophagen, die B- und T-Lymphozyten sowie die neutrophilen Granulozyten zu den wichtigsten zellulären Bestandteilen des Immunsystems.

Die Leukozytensubpopulationen können aufgrund ihrer unterschiedlichen Eigenschaften und Bewegungsmöglichkeiten gut mit den einzelnen Schachfiguren verglichen werden. Die neutrophilen Granulozyten sind durch ihre Zahl und ihre disponierte Stellung in vorderster Linie mit den Bauern vergleichbar. Monozyten und Gewebsmakrophagen haben durch ihre freie Beweglichkeit eher die Rolle der Springer, wobei man die T-Lymphozyten aufgrund der pluripotenten Eigenschaften und der wichtigen Rolle bei der Kommunikation der Zellen untereinander mit der Dame im Schach vergleichen kann.

Für die Beeinflussung der Immunfunktion durch Anästhetika und Sedativa kommen grundsätzlich zwei Mechanismen infrage: Zum einen ist eine über die Beeinflussung des autonomen Nervensystems vermittelte indirekte Wirkung möglich, zum anderen gibt es aber auch direkte Effekte dieser Medikamente auf die Immunzellen [4]. Aufgrund der komplexen Verflechtung von Nerven- und Immunsystem lassen sich die direkten und indirekten Effekte der Anästhetika auf die Immunfunktion im Organismus nur schwer getrennt voneinander untersuchen. Direkte Einflüsse von Anästhetika auf Immunzellen können zwar am Eindeutigsten unter in vitro Bedingungen nachgewiesen werden, die komplexen Interaktionen innerhalb des Immunsystems bleiben dabei allerdings weitgehend unberücksichtigt. Abgesehen von den durch die Versuchsbedingungen verursachten Veränderungen der Zellfunktion kann schon aus diesem Grund nicht von einer klinischen Relevanz der in vitro Ergebnisse ausgegangen werden.

Bei klinischen Untersuchungen hinsichtlich des Einflusses von Anästhetika auf die Immunfunktion ist die Unterscheidung zwischen Operationstrauma-bedingter oder Anästhetika-induzierter Immunreaktion oftmals sehr schwierig. In der perioperativen Phase hat das operative Trauma - insbesondere bei Eingriffen mit ausgedehnter Gewebezerstörung - einen wesentlich größeren Einfluss auf die Immunfunktion als die eingesetzten Anästhetika. In der perioperativen Phase ist der Einfluss der Anästhetika auf die Immunfunktion insofern von Interesse, als der Organismus infolge einer möglichen Beeinträchtigung der leukozytären Bakterizidie zur Entwicklung postoperativer Infektionen prädisponiert wird.

In der sich nach großen Operationen anschließenden intensivmedizinischen Therapie sind mögliche, durch Anästhetika, Sedativa und Opioide induzierte Beeinträchtigungen der Immunfunktion von entscheidender Bedeutung. Gerade bei einem durch postoperative Komplikationen verzögerten Heilungsverlauf, der zum Teil hoch dosierte Kombinationen dieser Medikamente notwendig macht, kann die weitere Reduktion der Immunfunktion fatale Folgen haben. Dies gilt insbesondere für Patienten mit ausgedehnten Verbrennungen, Tumorerkrankungen, schwerem Trauma oder Transplantationen, die bereits aufgrund ihrer Grunderkrankung eine reduzierte Infektabwehr aufweisen [5, 6]. Die hohe klinische Relevanz der potenziellen Interaktion von Analgosedierung und Immunfunktion wird durch die Tatsache verdeutlicht, dass der Anteil der Patienten auf einer Intensivstation, die über einen Zeitraum von mehr als einer Woche analgosediert werden müssen - abhängig von der Grunderkrankung -, bis zu 70 % betragen kann [7].

Aufgrund der Heterogenität der Grunderkrankungen von Intensivpatienten und der oben angesprochenen Problematik, die Beeinflussung von Funktionsparametern des Immunsystems eindeutig dem verabreichten Anästhetikum bzw. Sedativum zuzuordnen, ist der Nachweis einer durch Analgosedierung verursachten Immunsuppression sehr schwierig. Wohl aus diesem Grund liegen nur wenige klinische Studien vor, die belegen, dass bestimmte intravenöse Anästhetika und Sedativa das Risiko für postoperative Infektionen bis hin zur Entstehung eines Systemischen Inflammationssyndroms („systemic inflammatory response syndrome SIRS”) erhöhen können. Eine der publizierten Studien belegt, dass bei maschinell beatmeten Patienten mit Hirnödem Pneumonien signifikant häufiger (43,8 %) unter hochdosierter Barbiturattherapie mit Thiopental auftraten als mit niedrigdosiertem Thiopental (21,4 %) oder Benzodiazepin (7,7 %) [8]. Allerdings geht aus dieser Studie nicht eindeutig hervor, ob es sich bei der Gruppe der Patienten, die mit hochdosierter Barbiturattherapie behandelt wurden, nicht auch um Patienten mit stärker ausgeprägtem Hirnödem handelte.

Es gibt auch Hinweise in der Literatur, dass nicht nur zwischen unterschiedlichen Substanzklassen wie Barbituraten und Benzodiazepinen, sondern auch zwischen Vertretern derselben Medikamentengruppe Unterschiede im Hinblick auf die immunsuppressive Wirkung bestehen können. So wiesen polytraumatisierte Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma eine erhöhte Rate an Pneumonien und Multiorganversagen auf, wenn sie mit Thiopental anstelle von Methohexital behandelt wurden [11].

Die Wahl des Sedativums hat laut einer weiteren Untersuchung sogar direkten Einfluss auf die Überlebensrate von Intensivpatienten. Entsprechend der von Ledingham und Watt im Jahre 1983 publizierten Arbeit wiesen Patienten, die mit Etomidat sediert wurden, im Vergleich zu Patienten unter Benzodiazepinsedierung, eine dreifach höhere Letalität auf [9]. Entscheidend für die erhöhte Letalität in der Etomidatgruppe war eine ungewöhnlich rasche Ausbreitung bakterieller Infektionen, die durch eine Etomidat-induzierte Nebennierenrindensuppression zu erklären ist [10]. Eine repetitive oder kontinuierliche Anwendung von Etomidat wird aufgrund der Hemmung der Steroidhormonbiosynthese - trotz geringer Kreislaufwirkungen und guter Steuerbarkeit - nicht empfohlen. Seit der Studie von Ledingham und Watt wird Etomidat nicht mehr zur kontinuierlichen Sedierung auf der Intensivstation eingesetzt. Gerade durch dieses Beispiel wird deutlich, dass die Analgosedierung einen nicht unerheblichen Einfluss auf den Immunstatus des Intensivpatienten haben kann.

Literatur

  • 1 Snell J J. Immunität und Narkose.  Berliner-Klin-Wochenschr.. 1903;  40 212-220
  • 2 Rubin G. The influence of alcohol, ether and chloroform on natural immunity in its relation to leukocytosis and phagocytosis.  J-Infect-Dis.. 1904;  1 425-431
  • 3 Graham E A. The influence of ether and ether anaesthesia on bacteriolysis, agglutination and phagocytosis.  J-Infect-Dis.. 1911;  8 147-150
  • 4 Stevenson G W, Hall S C, Rudnick S, Seleny F L, Stevenson H C. The effect of anaesthetic agents on the human immune response.  Anesthesiology. 1990;  72 542-552
  • 5 Bone R C. The pathogenesis of sepsis.  Ann-Intern-Med.. 1991;  115 457-469
  • 6 Alexander J W. Wixson D. Neutrophil Dysfunction and sepsis in burn injury.  Surg-Gynecol-Obstet.. 1970;  130 431-438
  • 7 Faist E, Schinkel C, Zimmer S. Update on the mechanisms of immune suppression of injury and immune modulation.  World-J-Surg.. 1996;  20 454-459
  • 8 Eberhardt K E, Thimm B M, Spring A, Maskos W R. Dose-dependent rate of nosocomial pulmonary infections in mechanically ventilated patients with brain oedema receiving barbiturate: a prospective case study.  Infection.. 1992;  20 12-18
  • 9 Ledingham I M, Watt I. Influence of sedation on mortality in critically ill multiple trauma patients.  Lancet. 1983;  1 1270-1275
  • 10 Kenyon C J, Young J, Gray C E, Fraser R. Inhibition by etomidate of steroidogenesis in isolated bovine adrenal cells.  J-Clin-Endocrinol-Metab.. 1984;  58 947-949
  • 11 Koeniger R, Landauer B. Pneumonie und Multiorganversagen unter Barbiturattherapie bei polytraumatisierten Patienten mit Schädel-Hirn-Verletzungen. Eine retrospektive Untersuchung: Thiopental versus Methohexital.  Intensiv-Notfallbehandl.. 1993;  4 165-170

PD Dr. J. Heine

Medizinische Hochschule Hannover, Zentrum Anästhesiologie, OE 8050


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30625 Hannover

Email: heine.joern@mh-hannover.de

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