Psychotraumatologie 2002; 3(2): 32
DOI: 10.1055/s-2002-30640
Bericht aus der Praxis
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Trauma - Terror - Kinderschutz:

Prävention seelischer Störungen und destruktiven Verhaltens Vortrag bei der Verleihung des Kinderschutzpreises am 29.10.2001, Hamburg, Hanse-Merkur-GebäudePeter Riedesser1
  • 1Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
  • , Direktor der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters
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Publication Date:
16 June 2002 (online)

 

Sehr geehrte Frau Ministerin, sehr verehrte Frau Senatorin, Herr Dr. Imeyer,

meine Damen und Herren,

Die Wucht der traumatischen Ereignisse vom 11. September hat die Welt verändert. Wie durch einen grellen Blitz wurden die Schwachstellen unserer Zivilisation beleuchtet. Jetzt wissen wir nicht nur, wie störanfällig unsere hochtechnisierte Industriegesellschaft ist, sondern auch, wie verletzlich unser seelisches Gleichgewicht und wie bedroht unser lebensnotwendiger Glaube an die prinzipielle Gutartigkeit des Menschen und des Schicksals sind. Besonders verunsichert sind unsere Kinder, die oft ungefiltert alle Schreckensmeldungen aus den USA, Afghanistan und anderen Ländern in sich aufnehmen müssen. Wie soll jetzt das Vertrauen in eine prinzipiell berechenbare, gutartige Welt, die Hoffnung auf eine friedliche, alle Anstrengungen lohnende Zukunft wieder aufgebaut werden? Wieder einmal ist es den Erwachsenen nicht gelungen, Kinder vor seelischen Traumatisierungen zu schützen. Es gibt ein altes afrikanisches Sprichwort, das heißt: „Wenn die Elefanten streiten, werden die Blumen zertrampelt.” Solche seelischen Verletzungen gibt es seit Menschengedenken durch Krieg und Verfolgung, von den Kinderkreuzzügen bis zu den traurigen Höhepunkten im 20. Jahrhundert durch die beiden Weltkriege, ungezählte Bürgerkriege und den Holocaust, der auch ein Massenverbrechen an Kindern war. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind Kinder wieder die Hauptleidtragenden, die Waisen in New York, Washington und in Afghanistan. Aus den Lebensgeschichten afghanischer Flüchtlingskinder, die wir seit 10 Jahren in unserer Klinik in Hamburg behandeln, sind wir über das Ausmaß des Leidens afghanischer Familien wohl informiert. Positiv zu vermerken ist, dass - wie noch nie vorher - das seelische Leid der traumatisierten Kinder in New York und Washington, aber auch in Afghanistan selbst und in den Flüchtlingslagern z. B. in Pakistan, zur Sprache kommt. Diese Kinder leiden nicht mehr stumm, sondern ihr Elend wird durch die Medien und UNICEF weltweit bekannt. Dies bedeutet bei allem Elend die Chance, dass sich die Weltöffentlichkeit, besonders in den reichen Industrieländern, verstärkt für die seelischen Gefährdungen und Traumatisierungen von Kindern und Jugendlichen sensibilisieren lässt. Zunehmen sollte auch unsere Sensibilität gegenüber Traumatisierungen, die nicht von außen kommen, sondern innerhalb der Familie stattfinden, zum Beispiel, wenn die elterliche Schutzperson erkrankt, stirbt oder sogar selbst zum Aggressor wird, indem sie ihre Schutzbefohlenen vernachlässigt, misshandelt oder sexuell missbraucht. Aus unseren klinischen und wissenschaftlichen Erfahrungen wissen wir von der Gefahr, dass Kinder, die Opfer waren, später zu Tätern werden - sei es als delinquente, destruktive Jugendliche oder als später selbst misshandelnde Eltern, sei es als politische Terroristen, welche die selbst erfahrenen sichtbaren und unsichtbaren Verletzungen weitergeben, aufgeladen durch gesellschaftliche Ideologien, die ihnen im Falle fundamentalistischer Glaubenssysteme jegliches Mitleid mit den unschuldigen Opfern und entsprechende Schuldgefühle nehmen. Religiöse Ideologien überwinden sogar die natürliche Todesangst durch das Versprechen, sofort in den Himmel zu kommen. Solche Phänomene sind uns auch aus der Geschichte des christlichen Abendlandes, z. B. vom Kampf der Kreuzritter gegen die Heiden, der Heiligen Inquisiton etc. nur zu gut bekannt. Wenn wir davon ausgehen müssen, dass sich die Fähigkeit zur Empathie, zum Mitleid, aber auch zur Rücksichtslosigkeit, Unversöhnlichkeit, Skrupellosigkeit und die Anfälligkeit für Militarisierungsbereitschaft und destruktive Ideologien schon in der Kindheit entwickeln, dann ist Kinderschutz nicht nur eine karitative Aufgabe von freundlichen Frauen und psychosozialen Softies und Gutmenschen, sondern wird zu einer zentralen politischen und ökonomischen Aufgabe. Jugendliche Gewalt, Drogenabhängigkeit, Anfälligkeit für militante religiöse und politische Ideologien werden zu einem nur global zu lösenden Problem. Der hohe und weiter steigende Gewaltpegel auch in amerikanischen Großstädten hat einen Kollegen aus Los Angeles veranlasst, ein Buch mit dem Titel: „War in the Cities” (Krieg in den Städten) zu schreiben. Für Kinder kann das Leben unter solchen Umständen, in Armut und Perspektivlosigkeit, im täglichen Familienkrieg, zu hoher Gewaltbereitschaft führen, was sich Blitzableiter sucht. Auch wenn wir die Feinheiten der Biografien von Selbstmordattentätern und den sogenannten Sleepern noch nicht genügend kennen, muss doch davon ausgegangen werden, dass diese nicht vom Himmel fallen, sondern eine individuelle familiäre und soziale Vorgeschichte haben, die sie verführbar macht für mörderische und selbstmörderische Ideologien. Diese Biografie muss geprägt sein von hohem destruktivem Potential, sonst wäre eine so rücksichtslose, zielgerichtete mörderische Planung nicht möglich. Wer eine wirklich gute Kindheit hatte, ist immun gegen die Verführung zum ideologisch motivierten Selbstmordattentat. So schließt sich, aufgerüttelt durch den 11. September, der Kreis der Argumentation: Kinderschutz ist nicht nur eine humanitäre Pflicht und Vorbeugung von seelischem Leid, sondern auch Prävention von Kriminalität, Drogenmissbrauch, politischem und religiösen Terrorismus und damit auch Schutz von Wohlstand und Demokratie. Trauma-Prävention ist Terror-Prävention, Kinderschutz wird zu einer zentralen Voraussetzung für die Sicherung von Demokratie und ökonomischer Nachhaltigkeit. Der Kinderschutz bei uns wird so zu einem regionalen Standortfaktor, in globaler Perspektive zur Basis für eine friedliche Zukunft ohne Angst vor dem Damoklesschwert von Terrorismus und Krieg. Was bedeutet dies für unser Handeln? Wir müssen, statt gelähmt zu resignieren und in hilfloser Angst vor der terroristischen Bedrohung zu verharren, uns gemeinsam engagieren, damit die Lebensbedingungen für Kinder und Jugendliche weltweit rasch und konsequent verbessert werden. Nur dadurch wird den terroristischen Rattenfängern der Nährboden für die Rekrutierung von Nachwuchs jetzt und in der nächsten Generation entzogen. Dazu ist im Zeitalter der Globalisierung des Terrors und der Angst eine gewaltige globale Anstrengung erforderlich. Wir können hier bei uns damit beginnen, dass wir explizit als Ziel proklamieren, dass Deutschland, das im 20. Jahrhundert durch den Nazismus zum kinderfeindlichsten Land der Welt geworden war, jetzt im 21. Jahrhundert das kinderfreundlichste Land der Welt werden soll, nach innen und nach außen. Eine solche Proklamation wäre ein bedeutendes positives Signal im In- und Ausland und hätte viele erfreuliche Folgen; es würde z. B. bedeuten, dass wir bei drohendem Zerfall sozialer Netze Eltern zum frühest möglichen Zeitpunkt helfen, gute Eltern zu sein und liebevoll gelingende Beziehungen zu ihren Kindern aufzunehmen, damit diese Urvertrauen und Optimismus entwickeln als Puffer gegen die unvermeidlichen Krisen und Gefahren des späteren Lebens, übrigens auch als Panikprophylaxe. Besonders bei Risikokonstellationen gilt es, die empathische Kompetenz der Eltern systematisch zu unterstützen und, wenn diese gefährdet oder schon beschädigt ist, beim Wiederaufbau zu helfen, z. B. schon bei Risikoschwangerschaften, Frühgeburtlichkeit, bei sogenannten Schreibabys, chronischer Krankheit oder Behinderung, bei Vernachlässigungs- und Misshandlungsgefahr infolge völliger Überlastung der oft jungen, unerfahrenen Eltern. Das Verbot demütigender körperlicher Bestrafung von Kindern ist ein historisch überfälliger, richtiger Schritt in die richtige Richtung; Ihnen, Frau Ministerin Bergmann und Frau Senatorin Peschl-Gutzeit, gebührt dafür unser Dank, zumal er auch zu der richtigen Konsequenz führt, die Angebote qualifizierter Erziehungsberatung, d. h. besser gesagt: „Beziehungsberatung”, für hilflose Eltern von hilflosen Kindern auszubauen. Ein Deutschland als kinderfreundlichstes Land der Welt würde aber auch Schrittmacher sein für einen globalen Marshallplan für die Kinder Osteuropas und der Dritten Welt mit dem Ziel eines konsequenten Abbaus der skandalösen Diskrepanz zwischen den materiellen Lebensbedingungen in den reichen Industrieländern und der Verelendung von hunderten Millionen Kindern in Osteuropa und in der Dritten Welt. Die Gleichgültigkeit in den reichen Ländern ist auch eine Form von unmenschlicher Härte und grenzt an unterlassene Hilfeleistung, die spätere Generationen uns zu Recht vorwerfen würden. Ich komme zum Schluss und fasse zusammen: Je mehr Kinder bei uns und weltweit vernachlässigt, geschlagen, gedemütigt werden und in Hoffnungslosigkeit und Hass abgleiten, desto höher ist das destruktive Potential in unserem eigenen Land und weltweit. Vor diesem Hintergrund ist Kinderschutz zu einer Frage des Überlebens geworden. Weltweiter Kinderschutz ist der Königsweg zur Prävention nicht nur von seelischem Leid, sondern auch von Kriminalität, Militarismus und Terrorismus. Er sichert die Demokratie und den friedlichen kulturellen und ökonomischen Austausch. Unsere gesamte Kreativität und Entschlossenheit ist gefragt, dies zu realisieren. Wenn wir alle dies wollten in einem einzigartigen solidarischen Akt, hätten wir dafür auch das Wissen und die Mittel.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Autor:

Prof. Dr. med. Peter Riedesser

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