Aktuelle Neurologie 2002; 29: 37-39
DOI: 10.1055/s-2002-27811
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Teratogenität von Antiepileptika: Große und kleine Fehlbildungen

Teratogenicity of Antiepileptic Drugs: Major and Minor MalformationsBarbara  Tettenborn1
  • 1Klinik für Neurologie, Kantonsspital St. Gallen
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Publication Date:
03 May 2002 (online)

Etwa 1 % aller Schwangeren leiden an einer Epilepsie. Die Mehrzahl dieser Schwangerschaften verläuft komplikationslos und in über 90 % werden gesunde Kinder geboren. Aus epidemiologischen Studien ist bekannt, dass das Risiko für Fehlbildungen bei Kindern epilepsiekranker Eltern nur geringfügig höher ist als in der allgemeinen Bevölkerung. Verschiedene retro- und prospektive Untersuchungen beschreiben ein etwa 2 - 3fach erhöhtes Risiko für schwerere Fehlbildungen bei Kindern von Müttern unter Antiepileptikaeinnahme im ersten Schwangerschaftsdrittel im Vergleich zu Kontrollkindern [1] [2].

Fehlbildungen sind als „auffallende morphologische Defekte” definiert, die zum Zeitpunkt der Geburt vorliegen. Obwohl viele Anomalien auf zellulärer und molekularer Ebene ebenfalls angeboren sind, d. h. zum Zeitpunkt der Geburt bereits vorliegen, werden sie nicht in diese Definition einbezogen. Die Zahlenangaben über die Häufigkeit von angeborenen Fehlbildungen differieren stark. In amtlichen Statistiken schwankt der Prozentsatz der Kinder mit Fehlbildungen zwischen 0,8 und 2 %, während sich aus den Statistiken der Krankenhäuser und Kliniken eine Schwankungsbreite zwischen 1,4 und 3,3 % errechnen lässt. Die zuletzt genannten Zahlen sind wahrscheinlich die exakteren, doch sind auch hier die großen Unterschiede auffällig. Das kann auf tatsächlichen Häufigkeitsunterschieden in verschiedenen Regionen und Ländern beruhen oder aber mit einer unterschiedlichen Auslegung des Begriffes Fehlbildung zusammenhängen. Insgesamt ist davon auszugehen, dass 2 - 3 % aller Lebendgeborenen bei der Geburt eine oder mehrere Fehlbildungen aufweisen und dass sich dieser Anteil am Ende des ersten Lebensjahres durch die Aufdeckung von Fehlbildungen verdoppelt, die bei der Geburt noch nicht bemerkt wurden [2].

Unter schwer wiegenden Fehlbildungen versteht man solche, die einen chirurgischen Eingriff erforderlich machen. Hierzu gehören die Spina bifida aperta, die Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte, Skelett- und Herzfehlbildungen sowie Anlagestörungen im Magen-Darm-Bereich und im Urogenitaltrakt. Keine dieser Fehlbildungen kommt spezifisch unter Einnahme eines bestimmten Antiepileptikums vor. Allerdings tritt eine der schwerwiegendsten Fehlbildungen, die Spina bifida aperta, bei 1 - 2 % aller Kinder auf, deren Mütter in der Frühschwangerschaft mit Valproinsäure (VPA) behandelt wurden. Aber auch bei ca. 1 % der Kinder von mit Carbamazepin (CBZ) behandelten Müttern wird eine Spina bifida gefunden [3] [4] [5]. In der Normalbevölkerung beträgt das Spina-bifida-Risiko 0,06 %.

Zu den geringfügigen Fehlbildungen zählen vor allem kleine kosmetische Veränderungen der Nase, Lippen oder anderer Gesichtspartien oder Verkürzung von Fingerendgliedern oder Nägeln. Sie kommen nicht häufiger vor als bei Kindern von Eltern ohne Epilepsie. Möglicherweise treten unter einer Medikation mit Phenytoin kleinere Fehlbildungen etwas gehäuft auf [4].

Lange Zeit war unklar, welche ursächliche Bedeutung für die Entstehung embryopathischer Veränderungen der mütterlichen Epilepsie und welche den Antiepileptika zukommt. Zu dieser Fragestellung haben kürzlich Holmes u. Mitarb. die Ergebnisse einer Studie publiziert [6], bei der sie im Verlauf von über 100 000 Schwangerschaften ein Screening durchgeführt haben mit dem Ziel einer Identifizierung von drei Gruppen von Säuglingen:

mütterliche Epilepsie ohne Exposition gegenüber Antiepileptika, Exposition gegenüber Antiepileptika während Schwangerschaft, Kontrollgruppe gesunder Mütter ohne Medikamenteneinnahme.

Alle Neugeborenen wurden systematisch auf das Vorliegen großer Fehlbildungen, Zeichen einer Hypoplasie des Gesichtes oder der Finger oder zu kleiner Körpergröße evaluiert. Mehrlingsschwangerschaften und andere Einflüsse, die bekannterweise mit einer erhöhten Fehlbildungsrate einhergehen, waren ausgeschlossen. Es zeigte sich kein Unterschied in der Häufigkeit von Zeichen einer Embryopathie zwischen den Kindern der Kontrollgruppe (8,5 %) und den Kindern epilepsiekranker Mütter ohne Medikation (6,1 %), während die Gruppe der Kinder mit Exposition gegenüber Antiepileptika bei nur einem Medikament mit 20,6 % und bei zwei Medikamenten mit 28,0 % signifikant häufiger Zeichen einer Embryopathie aufwiesen. Die hohe Fehlbildungsrate in der Kontrollgruppe war in erster Linie durch Mittelgesichtsdysplasien bedingt. Eine Spina bifida wurde nur unter der Einnahme von VPA oder CBZ beobachtet. Diese Studienergebnisse lassen die Schlussfolgerung zu, dass eine unbehandelte mütterliche Epilepsie mit keinem erhöhten teratogenen Risiko einhergeht, während die Einnahme von Antiepileptika mit einem deutlich erhöhten Fehlbildungsrisiko einhergeht. Hinweise für schädliche Einflüsse schwererer mütterlicher Anfälle ergaben sich nicht. Hiermit werden frühere Untersuchungsergebnisse bestätigt, dass eine mütterliche Epilepsieerkrankung unabhängig von ihrer Ätiologie nicht ursächlich für eine Embryopathie verantwortlich ist, sondern die Einnahme von Antiepileptika. Leider waren auch in dieser neuesten Studie allerdings fast ausschließlich die so genannten „Standardantiepileptika” (Carbamazepin, Valproinsäure, Phenytoin [DPH], Phenobarbital [PHB]) therapeutisch eingesetzt worden, so dass auch diese Untersuchung keine Daten zu der potenziellen Teratogenität der neuen Antiepileptika liefert.

In einer weiteren kürzlich publizierten Studie zur Teratogenität von Antiepileptika wurden von Arpino u. Mitarb. (2000) über 8000 Kinder mit Fehlbildungen untersucht [7]. Bei 299 Kindern hatte die Mutter im ersten Trimenon der Schwangerschaft Antiepileptika eingenommen, und zwar PHB, VPA, CBZ und DPH. Es fanden sich kardiale Fehlbildungen bei PHB-, VPA- und CBZ-Einnahme. Unter PHB kam es zu einer erhöhten Rate an Lippen-, Kiefer-, Gaumenspaltbildungen; VPA-Medikation war mit einem vermehrten Auftreten von Hypospadien, Porenzephalie, Gesichts- und Extremitätenanomalien assoziiert. Wiederum gibt diese Untersuchung aber keine Auskunft über die potenzielle Teratogenität neuer Antiepileptika, sondern bestätigt lediglich bereits bekannte teratogene Effekte der so genannten Standardantiepileptika.

Verschiedene Untersuchungsergebnisse weisen darauf hin, dass das Fehlbildungsrisiko unter der Einnahme mehrerer Antiepileptika in Polytherapie höher ist als unter Monotherapie während der Schwangerschaft [2]. Alle Antiepileptika sind mehr oder weniger plazentagängig, somit in der fetalen Zirkulation vorhanden und potenziell teratogen.

Insgesamt sind über die so genannten Standardantiepileptika, die seit Jahrzehnten bereits im Handel sind, wesentlich mehr Informationen bezüglich teratogener Risiken bekannt als über die neuen Antikonvulsiva - Gabapentin, Lamotrigin, Vigabatrin, Tiagabin, Topiramat, Oxcarbazepin, Levetiracetam. Die jeweiligen Herstellerfirmen versuchen, die unter ihren Präparaten auftretenden Schwangerschaften zu dokumentieren.

Die größte Erfahrung innerhalb der neuen Antikonvulsiva besteht mit Lamotrigin (LTG) [8]. Bislang sind 537 Expositionen mit LTG in Mono- oder Add-on-Therapie im ersten Schwangerschaftstrimenon prospektiv registriert, wobei 137 Schwangerschaften zum Zeitpunkt der Datenerhebung noch nicht beendet waren. Von den verbleibenden 400 Patientinnen konnten 326 Schwangerschaften komplett nachverfolgt werden mit insgesamt 332 Embryos. Es kamen unter Mono- und Kombinationsbehandlung 278 gesunde Kinder zur Welt, 14 Spontanaborte, ein intrauteriner Kindstod und 27 Schwangerschaftsabbrüche (davon 2 Embryos mit Fehlbildungen). Lediglich 12 Kinder kamen mit einer angeborenen Fehlbildung zur Welt (überzähliger Finger, Klumpfuß, persistierendes Foramen ovale, persistierender Ductus arteriosus, Vorhofseptumdefekt, Pulmonalstenose, Spina bifida, Gaumenspalte, Hypertelorismus, nicht geöffneter Gehörgang). 150 Schwangerschaften waren unter LTG-Monotherapie, wobei es zu 128 gesunden Kindern, 4 Spontanaborten, einem intrauterinen Kindstod und 14 Schwangerschaftsabbrüchen kam. Drei Kinder kamen mit einer Fehlbildung zur Welt: eine Malformation des Ösophagus, die chirurgisch korrigiert wurde, eine Gaumenspalte des weichen Gaumens bzw. ein Klumpfuß rechts. In dieser noch vergleichsweise kleinen Anzahl von Schwangerschaften liegt somit die Häufigkeit von Fehlbildungen bei Neugeborenen, deren Mütter im ersten Trimenon LTG in Zusatz- oder Monotherapie behandelt wurden, bei 4,7 %; für die Lamotriginmonotherapie im ersten Trimenon beträgt sie 2,5 %. Die höchste Rate an Fehlbildungen trat erwartungsgemäß unter der Kombinationsbehandlung von LTG mit VPA auf.

Unter den anderen neuen Antiepileptika sind bislang nur so geringe Zahlen von Schwangerschaften prospektiv untersucht, dass keine gültigen statistischen Angaben zum teratogenen Risiko gemacht werden können. Daher steht bei allen Antiepileptika in den entsprechenden Informationsbroschüren, dass sie in der Schwangerschaft entweder kontraindiziert sind oder nur nach sorgfältiger Risiko-Nutzen-Analyse verabreicht werden dürfen. Trotzdem muss bei epilepsiekranken Frauen im gebärfähigen Alter eine antiepileptische Medikation durchgeführt werden. Auch bei der Mehrzahl der Frauen, die eine Schwangerschaft planen, ist eine Fortführung der antiepileptischen Behandlung erforderlich, da unkontrollierte Anfälle ein Risiko für den Föten darstellen können.

Gerade in der Frühschwangerschaft sollten möglichst wenige Medikamente in möglichst niedriger Dosierung gegeben werden. Blutspiegelbestimmungen der Antikonvulsiva sind während der Schwangerschaft in regelmäßigen, z. B. vier- bis achtwöchigen Abständen sinnvoll. Dosisanpassungen der Medikamente sind - wenn überhaupt - meistens erst im zweiten bis dritten Schwangerschaftsdrittel erforderlich. Durch Bestimmung des Alpha-Fetoproteins im Blut und eine Ultraschalluntersuchung in der 12. Schwangerschaftswoche kann eine Spina bifida relativ zuverlässig diagnostiziert werden, gegebenenfalls ist noch eine Amniozentese erforderlich.

Ein möglicher Mechanismus der teratogenen Wirkungen der Antiepileptika ist ein Folsäuremangel bzw. -antagonismus. Aufgrund der Interaktion der Antiepileptika mit Folsäure und aufgrund des Zusammenhanges zwischen niedrigem Folsäurespiegel im ersten Trimenon und Missbildungsrate ist eine Folsäuresubstitution bereits präkonzeptionell dringend erforderlich. Praktisch bedeutet dies, dass jede mit Antiepileptika behandelte Frau im gebärfähigen Alter täglich 5 mg Folsäure zur Reduktion des Fehlbildungsrisikos einnehmen sollte. Ob auch niedrigere Tagesdosen ausreichend sind, wurde leider bislang nicht untersucht [9] [10]. Die oft geäußerte Angst vor einer Anfallsprovokation durch höherdosierte Folsäureeinnahme scheint bei einer Tagesdosis bis 5 mg unberechtigt zu sein.

Generell sollte die Behandlung einer Epilepsie bei Frauen im gebärfähigen Alter nach den üblichen Richtlichen erfolgen. Für die antiepileptische Behandlung in der Schwangerschaft sind im Rahmen einer Konsensuskonferenz einige Leitlinien erstellt worden, die in Tab. [1] aufgeführt sind [11].

Tab. 1 Antiepileptische Behandlung in der Schwangerschaft (modifiziert nach Delgado-Escueta u. Janz 1992 11). - Antiepileptikum 1. Wahl hinsichtlich Anfallstyp und Epilepsiesyndrom - Monotherapie in niedrigster effektiver Dosis - Vermeidung von Serumspiegelspitzen, ggf. Verteilung auf mehrere Tagesdosen - tägliche Folsäuregabe (5 mg/die) bis zum Ende des 1. Trimenons - regelmäßige Kontrollen der Serumspiegel der Antiepileptika während der Schwangerschaft und nach der Entbindung - bei Carbamazepin, Phenytoin oder Phenobarbital Gabe von Vitamin K1 (20 mg/die) in den letzten zwei Wochen vor der Entbindung - Vermeiden einer Polytherapie, insbesondere Kombinationen, die Carbamazepin, Valproat oder Phenobarbital enthalten - bei positiver Familienanamnese hinsichtlich Neuralrohrdefekten möglichst nicht mit Carbamazepin oder Valproat behandeln - bei Therapie mit Carbamazepin oder Valproat die Möglichkeit der pränatalen Diagnostik mit Frage nach Neuralrohrdefekten anbieten - bei Behandlung mit Valproat die Tagesdosen auf 3 -4 Einzeldosen verteilen, um hohe Plasmaspiegel zu vermeiden

Literatur

  • 1 Yerby M S. Teratogenic effects of antiepileptic drugs: what do we advise patients?.  Epilepsia. 1997;  38 957-958
  • 2 Samrén E B, Lindhout D. Major malformations associated with maternal use of antiepileptic drugs. In: Tomson T, Gram L, Sillanpää M, Johannessen SI (eds) Epilepsy and Pregnancy. Petersfield UK and Bristol PA, USA; Wrightson Biomedical Publishing Ltd 1997: 43-61
  • 3 Yerby M R. Pregnancy and teratogenesis. In: Trimble MR (ed) Women and epilepsy. Chichester; Wiley Publisher 1991: 167-192
  • 4 Beck-Mannagetta G. Fehlbildungen und Anomalien, körperliches Wachstum, psychomotorische und intellektuelle Entwicklung.  Epilepsie-Blätter. 1990;  3 1-6
  • 5 Finnell R H, Nau H, Yerby M S. Teratogenicity of antiepileptic drugs. In: Levy RH, Mattson RH, Meldrum BS (eds) Antiepileptic drugs. New York; Raven Press 1995 Fourth edition: 209-230
  • 6 Holmes L B, Harvey E A, Coull B A. et al . The teratogenicity of anticonvulsant drugs.  N Engl J Med. 2001;  344 1132-1138
  • 7 Arpino C, Brescianini S, Robert E. et al . Teratogenic effects of antiepileptic drugs: use of an international database on malformations and drug exposure (MADRE).  Epilepsia. 2000;  41 1436-1443
  • 8 Lamotrigine Pregnancy Registry 1 September 1992 through 30 September 2000, executive summery, personal communcation from GlaxoKlineSmith. 
  • 9 Hernández-Díaz S, Werler M M, Walker A M, Mitchell A A. Folic acid antagonists during pregnancy and the risk of birth defects.  N Engl J Med. 2000;  43 1608-1614
  • 10 Nau H. Towards the mechanism of valproic acid induced neural tube defects. In: Tomson T, Gram L, Sillanpää M, Johannessen SI (eds) Epilepsy and Pregnancy. Petersfield UK and Bristol PA, USA; Wrightson Biomedical Publishing Ltd 1997: 35-42
  • 11 Delgado-Escueta A V, Janz D. Consensus guidelines: preconception counselling, management, and care of the pregnant woman with epilepsy.  Neurology. 1992;  42, Suppl 5 149-160

PD Dr. Barbara Tettenborn

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