Pneumologie 2001; 55(2): 57-71
DOI: 10.1055/s-2001-11286
EXPERTISE
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Das Strahlenrisiko bei Röntgenuntersuchungen des Thorax

Deutsches Zentralkommitee zur Bekämpfung der Tuberkulose (DZK)N. Konietzko, H. Jung, K. G. Hering, Th Schmidt
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Einführung

Etwa 100 Mio. Röntgenuntersuchungen werden jährlich in der Bundesrepublik Deutschland vorgenommen, mehr als jede 5. davon ist eine Röntgenaufnahme des Thorax. Jede Röntgenuntersuchung muss einer Nutzen-/Risikoabschätzung unterzogen werden. Dabei ist bei Abschätzung des Nutzens nicht nur die Treffsicherheit und Zuverlässigkeit von Röntgenuntersuchungen zu berücksichtigen, sondern auch ihre Auswirkungen auf das ärztliche Handeln, also auf den Grad der Sicherheit des ärztlichen Urteils, ihren Beitrag zur Gesamtdiagnose und ihren Einfluss auf das weitere therapeutische Vorgehen. Es liegt auf der Hand, dass die Indikationsstellung entscheidend für den Anteil der positiven Befunde ist: Sind bei Anforderungen eines Röntgenbildes des Thorax Beschwerden und/oder pathologische Befunde vorhanden, werden in 60 - 70 % pathologische Röntgenbefunde erhoben. Sind die anamnestischen Hinweise vage oder die Befunde weniger eindeutig, sieht man nur in 20 - 30 % ein positives Ergebnis [11]. Handelt es sich um eine reine Routineuntersuchung ohne aktuelle Krankheitszeichen, so geht die Fallfindung auf 7 - 15 % zurück. Beim „Routinethorax”, etwa im Rahmen der präoperativen Durchuntersuchung, liegt die Zahl der positiven Befunde bei 6 - 11 % [14]. Fragt man dann noch nach therapierelevanten pathologischen Röntgenbefunden, so kommt man auf eine sehr niedrige Quote, die zwischen 0,2 und 0,3 % liegt [3].

Trotzdem rechtfertigt die statistische Betrachtung nach dem Nutzen eines Röntgenbildes des Thorax nicht den generellen Verzicht auf eine Routine-Thoraxaufnahme und schon gar nicht auf eine indizierte Untersuchung, da die Unterlassung einer Röntgenaufnahme einen diagnostischen Informationsverzicht und eine Einschränkung der Therapieentscheidung bedeutet mit dem Risiko des Verlustes von Lebensqualität und Lebenszeit für den Betroffenen. Die Indikation zur Röntgen-Thoraxaufnahme muss vielmehr individuell unter Berücksichtigung des Nutzens für den Patienten auf der einen und des möglichen Schadens durch schädigende Strahlen auf der anderen Seite gestellt werden [16].

Bei der Einschätzung des Strahlenrisikos von Röntgenuntersuchungen im Speziellen und von Strahlen im Allgemeinen erleben wir derzeit allerdings in der öffentlichen Meinung ein wachsendes Misstrauen gegenüber wissenschaftlich fundierten Argumenten. Und dies, obwohl der Nutzen des Röntgens ohne jeden Zweifel die Risiken bei Weitem überwiegt, ja die moderne Medizin ohne Röntgenstrahlen undenkbar wäre. Dieses Misstrauen ist eingebettet in einen breiten Strom der Skepsis gegenüber technisch-wissenschaftlichen Fragen und markiert einen Wandel im teilweise unkritischen Fortschrittsglauben der vergangenen Jahrzehnte. Im Extremfall äußert sich dieser Wandel in irrationaler Kritik am Wissenschaftsfortschritt, insbesondere an ihren Konsequenzen und Langzeiteffekten. In keinem Fall ist dies so evident wie in der Einstellung der Öffentlichkeit zu den Strahlenfolgen. Selbstkritisch muss sich allerdings die wissenschaftliche Elite am Ende fragen lassen, warum sie die anfangs unbegrenzten Erwartungen, wie sie etwa bei der Entdeckung der Röntgenstrahlen oder der Atomenergie verbreitet wurden, nicht dämpfte. Lange Zeit wurden Warnungen über Schäden durch Strahlungen missachtet oder bagatellisiert. Selbst die große Marie Curie nannte Harrison Martland, einen jungen Arzt aus Chicago, der eindringlich auf Strahlenschäden durch radioaktives Material hinwies, einen Scharlatan. Martland hatte Kieferschäden bei Arbeiterinnen beobachtet, die Ziffernblätter von Uhren mit einer Leuchtfarbe bemalten, die alphastrahlendes Radium enthielten. Dabei spitzten die Arbeiterinnen den Pinsel mit den Lippen, um scharfkonturierte Zahlen zu malen. Madame Curie warf dem jungen Kollegen vor, er wisse nicht, dass ionisierende Strahlung Gesundheitsschäden nur nach langer und unverhältnismäßig hoher Exposition hervorrufen könne.

Als die blinde Zuversicht in den Nutzen des Fortschrittes zu den Katastrophen von Hiroshima und Tschernobyl führte, schlug die Stimmung in der Öffentlichkeit um und jegliche Art von Strahlung wurde und wird verdammt und zum Symbol des Bösen schlechthin erklärt. In exemplarischer Weise spiegelt die Geschichte der Strahlenforschung und der technischen Anwendung in den vergangenen hundert Jahren Glanz und Elend, Nutzen und Missbrauch wissenschaftlichen Strebens wider. All diesen kritischen öffentlichen und veröffentlichten Meinungen zum Trotz müssen wir als wissenschaftlich orientierte Mediziner nicht müde werden, nüchtern und mit kühlem Kopfe zu argumentieren, Verständnis zu wecken und ehrliche Lösungen zu erreichen, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und belegten Fakten beruhen. Dazu soll die vorliegende Expertise zum „Strahlenrisiko bei Röntgenuntersuchungen des Thorax” einen kleinen Beitrag in einem umstrittenen Segment leisten. Vorausgeschickt sei allerdings, dass „Risiko” unterschiedlich definiert ist. Wenn man im täglichen Leben von Risiko spricht, ist damit stets eine nennenswerte Gefährdung verbunden. Wenn man in der Wissenschaft von Risiko spricht, so bedeutet dies die Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmtes negatives Ereignis, zum Beispiel, zu erkranken oder zu sterben, eintritt. Die Wissenschaftler sprechen auch dann noch von Risiko, wenn die betreffende Wahrscheinlichkeit außerordentlich klein ist. Beispielsweise ist das Risiko, innerhalb der nächsten Stunde vom Blitz erschlagen zu werden, etwa 1 : 10 Milliarden. Im Alltag wird ein solches Risiko keineswegs als reale Gefährdung verstanden. Wenn im Folgenden von Risiko die Rede ist, bedeutet dies nicht automatisch eine Gefahr.

Literatur

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Prof. Dr N Konietzko (federführend)

Ärztlicher Direktor der RuhrlandklinikAbt. Pneumologie Universitätsklinik

Tüschener Weg 4045239 Essen

Prof. Dr H Jung

Universität HamburgUniversitätskrankenhaus EppendorfInstitut für Biophysik und Strahlenbiologie

Martinistr. 5220246 Hamburg

Dr K G Hering

KnappschaftskrankenhausRadiologische Klinik

Wieckesweg 3744309 Dortmund

Prof. Dr Th Schmidt

Klinikum der UniversitätErlangen/Nürnberg

Flurstr. 1790840 Nürnberg

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