Pneumologie 2000; 54(5): 201-211
DOI: 10.1055/s-2000-9086
ÜBERSICHT
Georg Thieme Verlag Stuttgart ·New York

Oxidativer pulmonaler Stress unter zytoreduktiver Therapie

T. Beinert1 , D. Binder1 , M. Stuschke2 , C. Oehm3 , R. A. Jörres4 , M. Schweigert1 , M. Seemann7 , H.-G Mergenthaler5 , J. Behr6 , M. Fleischhacker1 , K. Possinger1
  • 1Medizinische Klinik und Poliklinik m. S. Hämatologie und Onkologie, Charité, Campus Mitte, Berlin
  • 2Klinik und Poliklinik für Strahlentherapie, Charité, Campus Mitte, Berlin
  • 3Johanniter-Krankenhaus, Fachklinik für Pneumologie, Treuenbrietzen
  • 4Krankenhaus Großhansdorf, Zentrum für Pneumologie und Thoraxchirurgie
  • 5Medizinische Klinik für Onkologie, Katharinenhospital, Stuttgart
  • 6Medizinische Klinik I, Abteilung für Pneumologie, Klinikum Großhadern, München
  • 7Klinik für Radiologische Diagnostik, Universität Tübingen
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

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Einleitung

In der Therapie solider Tumoren zeigt die kombinierte Radio-Chemotherapie ermutigende Ergebnisse hinsichtlich Remission und Überlebenszeit [[1], [2]]. Für zahlreiche Tumorentitäten konnte so ein erfolgversprechender Therapiestandard definiert werden. Neben einer besseren lokalen Kontrolle ist die multimodale Therapie jedoch auch mit dem häufigeren Auftreten von Nebenwirkungen behaftet. So werden, insbesondere bei simultaner Verwendung höherer Strahlendosen im Thoraxbereich und strahlensensibilisierender zytoreduktiver Substanzen, häufig pulmonale Nebenwirkungen beobachtet [[3], [4], [5]]. Wochen bis Monate nach Therapie können lebensbedrohliche Pneumonitiden und Fibrosierungen des Lungenparenchyms das prognostische Bild des Patienten erheblich verschlechtern [[6], [7], [8]]. Damit beinhaltet die kombinierte Radio-Chemotherapie von z. B. Bronchial- oder Mammakarzinomen oft ein Abwägen zwischen Dosiseskalation und pulmonalen Nebenwirkungen.

Unzureichende Kenntnisse über die Mechanismen derartiger Lungenschädigungen erschwerten bisher die Beeinflussung der pulmonalen Komplikationen. Zunehmend erlangen jedoch reaktive Sauerstoffverbindungen (ROS) als auslösende Ursache dieser Folgeschäden Beachtung. Unter der Bezeichnung „ROS - Reactive Oxygen Species” werden freie Radikale, also Moleküle mit einem oder mehreren ungepaarten Elektronen, sowie sauerstoffhaltige Verbindungen mit außerordentlich hoher Reaktionsbereitschaft zusammengefasst [[9], [10]]. Bedingt durch ihre Reaktivität verfügen ROS über ein hohes Potenzial für typische Reaktionskaskaden, in denen Biomoleküle bis zum Funktionsverlust verändert werden können [[10]]. Ihre Einwirkung auf biologische Gewebe kann zu einem komplexen, sich selbst verstärkenden ROS- und Zytokin-Networking führen, das letztendlich in einer Fibroblastenaktivierung mündet [[11], [12], [13]].

Die Lunge ist außerordentlich anfällig für radikalbedingte Schäden und deren Folgezustände [[14]]. Dies ist insbesondere durch die hohen Sauerstoffspannungen bedingt, denen das Lungengewebe ständig ausgesetzt ist. In diesem Zusammenhang konnte experimentell gezeigt werden, dass die Ursache für die Toxizität des Sauerstoffs eine erhöhte endogene, zelluläre ROS-Produktion ist [[15]]. Die außerordentlich hohe Dichte an alveolären und interstitiellen Leukozyten, die als Teil des pulmonalen Defence-Mechanismus gegen aerolisierte Fremdkörper unerlässlich sind, stellt zudem ein beachtliches Reservoir für die Freisetzung von Zytokinen und Wachstumsfaktoren dar.

Für die Evaluation und diagnostische Einschätzung therapieassoziierter, pulmonaler Nebenwirkungen stehen routinemäßig radiologische Verfahren [[16], [17], [18]] und die Messung von Lungenfunktionsparametern [[19], [20]] im Vordergrund. Diese Methoden sind jedoch in der Diagnose von Frühveränderungen weder sensitiv noch spezifisch. Umgekehrt ist die bronchoalveoläre Lavage [[21], [22]] als diagnostische Methode nicht allgemein verfügbar oder in diesem Zusammenhang nicht ausreichend etabliert. In der Regel sind somit die klinisch-diagnostischen Erfahrungen in der Frühphase der Erkrankung für die Einschätzung des Ausmaßes der drohenden Folgezustände unzureichend. Andererseits würden standardisierte Diagnose- und Analysealgorithmen therapieassoziierter, pulmonaler Veränderungen eine individuelle, optimierte Dosisanpassung der zytoreduktiven Therapie ermöglichen [[17], [23], [24]].

Die vorliegende Übersichtsarbeit möchte die wesentlichen pathogenetische Mechanismen radikalbedingter Lungenschädigungen unter Radio- wie unter Chemotherapie darstellen, sowie invasive und nichtinvasive Verfahren zur Diagnostik diskutieren. Hierdurch sollen nicht zuletzt zukünftige Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet ermutigende Anstöße finden.

Pulmonale Nebenwirkungen der Radio-Chemotherapie

Sowohl nach pulmonaler Strahlentherapie [[25], [26], [27]] wie nach systemischer Chemotherapie [[17], [28], [29], [30]] wird eine hohe Manifestationsrate pulmonaler Nebenwirkungen beobachtet. Bei kombinierter Anwendung beider Modalitäten sind diese Effekte gehäuft und deren Vorhersagbarkeit weiter beeinträchtigt [[6], [7], [8]].

Nach Einwirkung ionisierender Strahlung auf Lungengewebe können zwei verschiedene Nebenwirkungsmechanismen unterschieden werden:

  1. Die so genannte klassische Strahlenpneumonitis [[31]] zeigt eine Schwellendosis und eine charakteristische sigmoide Dosis-Wirkungs-Beziehung. Dabei beschränkt sich die entzündliche Reaktion auf das bestrahlte Lungenvolumen und wird von einer mehr oder weniger starken Fibrosierung gefolgt. Ursächlich werden für diese Reaktion reaktive Sauerstoffspezies verantwortlich gemacht.

  2. Die sporadische Strahlenpneumonitis [[31], [32]] folgt keiner eindeutigen Dosis-Wirkungs-Beziehung. Ursache dieser Reaktion ist möglicherweise eine endogene Antigenbelastung, die im Rahmen der massiven Gewebsschädigung auftritt [[31]]. Hier wird eine generalisierte, lymphozytäre Entzündung mit vergleichsweise geringer Tendenz zur Fibrosierung beobachtet.

Schwere Verläufe nach thorakaler Strahlentherapie zeigen eine massive Diffusionseinschränkung [[19], [20]] und Veränderungen des Verhältnisses von Ventilation und Perfusion (Mismatch) [[33]]. Dabei führen Mikroatelektasen und eine zunehmende Ansammlung extrazellulärer Matrixproteine (ECM) in den Alveolen und im Interstitium zu funktionslosen terminalen Ventilationsräumen. Die Zunahme des ventilatorischen Totraums und des intrapulmonalen Shunt-Volumens verstärken die resultierende Hypoxämie weiter.

Viele Substanzen, die in der Therapie solider Tumoren sowie bei hämatologischen Erkrankungen verwendet werden, sind potenziell lungentoxisch [[23], [24]]. Die durch sie induzierten Überempfindlichkeitspneumonitiden sind durch ein lymphozytäres Infiltrat des Lungeninterstitiums gekennzeichnet [[34]]. Obwohl relativ häufig zu beobachten, liegen bis heute vergleichsweise wenige Erkenntnisse über Ursachen und Mechanismen dieser Reaktion vor. In vielen Fällen klingen die Beschwerden nach Absetzen des Zytostatikums zügig ab. Durch die systemische Anwendung von Kortikosteroiden kann der Verlauf oftmals günstig beeinflusst werden.

Für die nach längeren Latenzzeiten auftretenden, chemotherapieassoziierten, so genannten Late-Onset-Pneumonitiden werden Imbalancen zwischen Oxidantien und Antioxidantien als Ursache diskutiert [[17]]. Dieses Symptombild der Pneumonitis ist potenziell lebensbedrohlich für den Patienten. Trotz sofortigen Absetzens der Noxen und des systemischen Einsatzes von Kortikosteroiden kann sich das Befinden des Patienten kontinuierlich und dramatisch verschlechtern [[17], [35], [36]], wobei morphologische Strukturveränderungen mit Kollaps der distalen Atemwege und Ausbildung von Mikroatelektasen [[37]] sowie eine ausgeprägte interstitielle Fibrosierung beobachtet werden [[17]].

Eine relativ seltene Begleiterscheinung der Radio-Chemotherapie ist die Bronchiolitis obliterans [[24]]; sie stellt sich als polyploide Bindegewebsanreicherung in den Lumina der kleinsten Luftwege mit entzündlichen Veränderungen der umgebenden Luftwege dar [[37]]. Zum medikamenteninduzierten, nichtkardiogenen Lungenödem (capillary leak syndrome) [[38]], einem ebenfalls seltenen Nebenwirkungsbild, liegen nur wenige Daten vor. Hier geht man vor einer massiven Schädigung der pulmonalen Kapillarendothelien als Ursache aus [[24]].

Nach Radio-Chemotherapie können sich somit vielfältige Lungenschäden manifestieren, die entscheidende Bedeutung für die Prognose des Patienten sowie das weitere therapeutische Prozedere haben. Hier weisen sowohl die zytostatika- als auch die strahlungsinduzierten Reaktionen im Hinblick auf ihre klinische Symptomatik und ihre morphologischen Veränderungen große Ähnlichkeiten auf. Bedenkt man die vergleichbare Ätiologie, bei der ROS die entscheidende Rolle spielten, so dürften, neben der Gruppe der zellzyklusabhängigen radiosensibilisierenden Substanzen, bestimmte Zytostatika auf Grund additiver pro-oxidativer Effekte als Radiosensitiser fungieren. Für Bleomycin [[6]], Cyclophosphamid [[8]] und Adramycin [[7]] liegen hierzu zahlreiche klinische Beobachtungen vor. Die zunehmende klinische Erfahrung weist überdies darauf hin, dass die Mehrzahl der heute eingesetzten Chemotherapien ein ähnliches, die oxidative Potenz der Strahlentherapie weiter verstärkendes Verhalten zeigen [[39]].

Klinisches Bild und Diagnostik

Das klinische Bild der pulmonalen Nebenwirkungen während zytoreduktiver Therapie ist weitgehend unspezifisch. So fallen die Patienten zunächst durch Reizhusten, Fieber und Dyspnoe auf [[24]]. In schweren Fällen können Zyanose, Cor pulmonale und Rechtsherzversagen zum Tod führen [[17]]. Wegen der Unspezifität der Symptome und großer interindividueller Unterschiede in der Präsentation ist die Diagnose weitgehend von ärztlicher Erfahrung sowie radiologischer und lungenfunktionsanalytischer Methodik abhängig.

Nach Bestrahlung der Lunge mit hohen Dosen entwickeln die Patienten typischerweise nach 6 - 12 Wochen klinische Symptome [[16]]. Husten, Fieber und Abgeschlagenheit klingen in den meisten Fällen spontan ab, während einige Patienten eine progressive Lungenfibrosierung innerhalb der nächsten 6 - 12 Monate erleiden. Abhängig vom verwendeten zytoreduktiven Therapieschema vergehen bei alleiniger Chemotherapie von Behandlungsbeginn bis zur Manifestation pulmonaler Symptome ein bis zwei Monate [[23], [24]], wobei etwa für Cyclophosphamid auch Extreme von mehreren Jahren berichtet wurden [[17]]. Dabei ist die Symptomatik ähnlich der der strahlungsinduzierten Lungenschädigungen.

Thorax-Röntgen und Thorax-CT zeigen je nach Schweregrad etwas inhomogene, milchglasige Trübungen bis hin zu dichten, retikulären und nodulären, entzündungs- und fibrosebedingten Infiltraten mit Pleuraverdickungen [[16]]. Derartige radiologische Befunde können jedoch erst in einer relativ fortgeschrittenen Phase des Krankheitsverlaufs erhoben werden, wenn der entzündliche Prozess bereits ein florides Stadium erreicht oder durchschritten hat [[40]] und zumeist nicht mehr reversibel ist [[24]]. Lungenfunktionsanalysen, die im Sinne der morphologischen Veränderungen eine beeinträchtigte Diffusionskapazität und eine restriktive Ventilationsstörung anzeigen [[19], [20]], sind in der Frühphase der pulmonalen Veränderungen bzw. oxidativen Belastung weder sensitiv noch spezifisch genug [[33]].

Die Lungenperipherie entspricht einer Gasaustauschfläche von mehr als einhundert Quadratmetern. Die Alveolen als kleinste Untereinheiten der terminalen Luftwege werden von Typ-1- und Typ-2-Pneumozyten ausgekleidet. Typ-1-Pneumozyten (95 %), sind vollständig ausdifferenzierte Zellen mit großer Sensibilität gegenüber endogenen wie exogenen Schädigungen und nur geringem regenerativen Potential. Typ-2-Pneumozyten, Stammzellen der Typ-1-Zellen, weisen dagegen ein vergleichsweise geringes Verletzungspotential gegenüber Stressfaktoren auf, können aber durch überschwellige Stimuli ebenfalls zur Proliferation angeregt werden. Typ-2-Pneumozyten sind darüber hinaus maßgeblich an der Surfactant-Produktion beteiligt und besitzen die Fähigkeit zur Sekretion von extrazellulärer Matrix [[41]].

Unter physiologischen Bedingungen wird die Begrenzung zwischen terminalen Ventilationsräumen und Erythrozyten lediglich durch das Kapillarendothel, eine gemeinsame Basalmembran und das Alveolarepithel gebildet. Kapillarendothelien, wie Typ-1-Pneumozyten, sind anfällig für zahlreiche schädigende Einflüsse und ebenfalls zur Proliferation fähig [[37]]. Fibroblasten synthetisieren den weitaus größten Anteil der extrazellulären Matrix. Ihre ohnehin schon große Anzahl im Interstitium kann nach Lungenschädigungen nochmals deutlich ansteigen. Zelluläre Produkte der Fibroblasten sind unter anderem Kollagene des Typs I, III, IV, V und VI sowie Fibronektin, Laminin und Proteoglykane, die in verschiedenen Zusammensetzungen die Binde- und Stützgewebe bilden.

Neben Fibroblasten finden sich auch Makrophagen, Mastzellen, Lymphozyten und Plasmazellen im Interstitium [[42]]. Teile dieser Populationen verlassen das Interstitium, treten in die Ventilationsräume über und sind nun, zusammen mit anderen gelösten Bestandteilen, durch die bronchoalveoläre Lavage (BAL) gewinnbar. So ermöglicht die BAL auch Rückschlüsse hinsichtlich des Zustandes des Interstitiums [[43]]. Obwohl bisher als standardisiertes Diagnostikum von radiochemotherapie-induzierten, pulmonalen Nebenwirkungen nicht eingesetzt, könnte sie ein nützliches Instrument zur frühen Diagnose und zum Monitoring dieser pulmonalen Veränderungen werden.

Literatur

T. Beinert

Medizinische Klinik und Poliklinik m.S. Hämatologie und Onkologie

CharitÉ, Campus Mitte

10115 Berlin