Ernährung & Medizin 2016; 31(01): 1
DOI: 10.1055/s-0042-102574
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Haug Verlag in Georg Thieme Verlag KG Stuttgart

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Publikationsdatum:
16. März 2016 (online)

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Die Konsumforschung lehrt uns: Keineswegs fällen wir unsere Entscheidungen allein aufgrund rationaler Erwägungen. Selbst nach langem Überdenken und gründlichem Austarieren von Für und Wider entspringt der letzte, bestimmende Ausschlag unseren Emotionen – die uns nicht zwingend in die eigentlich vernünftigste Richtung leiten. Ist es bei dieser Erkenntnis überhaupt sinnvoll, die Bevölkerung durch gezielte Information zu mehr gesundheitsbewusstem Kaufverhalten hinlenken zu wollen? Wenn ja, welchen Beitrag vermag eine Kennzeichnung von Lebensmitteln zu leisten?

Über das Ob und Wie wogt der Streit seit Jahren. Das Ziel ist klar: Der Verbraucher soll unmittelbar vor dem Erwerb neben dem ökologischen und ökonomischen unbedingt auch den gesundheitlichen Wert eines Produkts beurteilen und bewusst in seine Kaufentscheidung einbeziehen können. Aber welche Informationen braucht er dazu? Ein breiter Katalog zusätzlicher Forderungen öffnet sich: Die Botschaft muss wissenschaftlich korrekt und zugleich allgemein verständlich sein, Wesentliches betonen, rasche Orientierung bieten, kurz und knapp auf die Verpackung passen und neben den Marketing-Informationen des Herstellers erkennbar sein.

Längst haben sich deshalb Untersuchungen zum Käuferverhalten in der Ernährungswissenschaft etabliert. Konsumforschung wird nicht mehr den Werbestrategen großer Unternehmen überlassen. Die traditionelle Verbraucherbefragung, anfällig gegenüber subjektiven Störfaktoren und stets als unzuverlässig angesehen, macht zunehmend objektiven Messmethoden Platz. Spezialbrillen erfassen, welche Verpackungsdetails den Käuferblick an sich ziehen und wie lange sie ihn fesseln [[2], [5]]. In simulierten Läden plappern Testkäufer in ein Mikrophon, was ihnen bei der Auswahl von Waren und der Betrachtung ihrer Verpackung durch den Kopf geht, etwa zu Gesundheitswert, Aufmachung oder Preis [[6]].

Die verbesserten Methoden erlauben eine wachsende Fülle von Ergebnissen. Einige davon verblüffen. So wurde in 19 Studien die Verzehrsmenge von Mahlzeiten verglichen, deren Energiegehalt entweder deklariert war oder nicht. Die Deklaration senkte die durchschnittliche Energieaufnahme lediglich um 18 kcal [[4]]. Enttäuschend gering ist auch die Bereitschaft des Verbrauchers, eine informative Nährwertkennzeichnung mitzufinanzieren. 7550 Konsumenten aus 16 europäischen Ländern würden im Mittel lediglich eine jährliche Mehrausgabe von $ 4,32 für diesen Zweck akzeptieren [[3]].

Dennoch sind sich Wissenschaft und Politik darin einig, dass jegliche Kennzeichnung besser ist als gar keine [1]. Deshalb existieren zahlreiche nationale Vorschriften. Die jeweiligen Maßnahmen variieren, selbst innerhalb der EU. Die gesetzgeberische Entwicklung ist aber weiterhin im Fluss. Über den aktuellen Stand berichtet das vorliegende Heft.

Noch immer unentschieden ist, welches Informationssystem die Kaufentscheidung für ein „gesünderes“ Lebensmittel eher befördert: eine detaillierte Nährwertinformation oder ein summarisches Symbol, z. B. eine Verkehrsampel. Beide Ansätze werden in unterschiedlichen EU-Ländern verfolgt. Welche gesundheitlichen Auswirkungen auf Populationsebene eintreten, wird sich in einigen Jahren erweisen. Man darf hoffnungsvoll gespannt sein.

Prof. Dr. Hans-Joachim F. Zunft

 
  • Literatur

  • 1 Ducrot P, Méjean C, Julia C et al. Effectiveness of front-of-pack nutrition labels in French adults: results from the NutriNet-Santé Cohort Study. PLoS ONE 2015; 10 e0140898
  • 2 Graham DJ, Heidrick C, Hodgin K. Nutrition label viewing during a food-selection task: front-of-package labels vs nutrition facts labels. J Acad Nutr Diet 2015; 115: 1636-1646
  • 3 Gregori D, Ballali S, Vogele C et al. What is the value given by consumers to nutritional label information? Results from a large investigation in Europe. J Am Coll Nutr 2015; 34: 120-125
  • 4 Long MW, Tobias DK, Cradock AL et al. Systematic review and meta-analysis of the impact of restaurant menu calorie labeling. Am J Public Health 2015; 105: e11-24
  • 5 Miller LM, Cassady DL, Applegate EA et al. Relationships among food label use, motivation, and dietary quality. Nutrients 2015; 7: 1068-1080
  • 6 O‘Brien MC, McConnon A, Hollywood LE et al. Let‘s talk about health: shoppers‘ discourse regarding health while food shopping. Public Health Nutr 2015; 18: 1001-1010