Zusammenfassung
Enantiomere sind Moleküle, die sich wie Bild zu Spiegelbild verhalten; sie weisen
fast identische chemische oder physikalische Eigenschaften auf, unterscheiden sich
aber in ihren physiologischen Wirkungen. Es wird über das unterschiedliche pharmakokinetische
Verhalten und die differierenden pharmakodynamischen Eigenschaften der Enantiomeren
der oralen Antikoagulanzien Phenoprocoumon (PH), Warfarin (WA) und Acenocoumarol (AC)
beim Menschen und über die daraus resultierenden therapeutischen Konsequenzen berichtet.
Für eigene Untersuchungen zur enantioselektiven Elimination von PH bei einer großen
Zahl von Patienten unter Langzeit-Antikoagulation wurden die Enantiomere aus Plasmaund
Urinproben mit HPLC an chiralen Säulen getrennt und quantifiziert. Die Ergebnisse
zeigten folgendes: 1. Bei 50% der Patienten wird das S-Enantiomer langsamer aus dem
Plasma eliminiert als das R-Enantiomer, bei 25% mit gleicher Geschwindigkeit und bei
weiteren 25% schneller. Dies weist auf eine große interindividuelle Variabilität hin.
2. Das S/R-Verhältnis im Plasma war über die Zeit konstant (intraindividuell konstantes
S/R-Verhältnis). 3. Im Durchschnitt wird das S-Enantiomer jedoch nach Abbruch der
PHTherapie schneller eliminiert als das R-Enantiomer. Die Eliminationshalbwertszeiten
aus dem Plasma betragen 123,7 ± 43,6 h für das Sund 156,5 ± 72,4 h für das R-Enantiomer.
4. Die Plasmaproteinbindung für das Sund R-Enantiomer ist unterschiedlich (fu%: 0,198 für S; 0,322 für R). 5. Der enantioselektive Effekt der Elimination ist bei
PH nicht so ausgeprägt wie bei WA und könnte das beobachtete unterschiedliche Spektrum
an Interaktionen mit anderen Arzneimitteln erklären.