Nervenheilkunde 2006; 25(10): 855-860
DOI: 10.1055/s-0038-1626791
Originaler Artikel
Schattauer GmbH

Argumente, Gründe und Motive auf dem Weg in einen assistierten Suizid

Arguments, reasons and motives on the way to an assisted suicide
J. F. Spittler
1   Neurologisch-psychiatrische Einheit, Sozialmedizinischer Dienst, Bundesknappschaft, Castrop-Rauxel
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Publication Date:
18 January 2018 (online)

Zusammenfassung

Zwei Patienten wurden in der Vorbereitung assistierter Suizide begleitet. Bei einem weiteren wurde die Begleitung abgebrochen, weil zumutbare eigene Schritte nicht erbracht wurden. Vordergründige Argumente (A) waren Bewegungsbehinderungen, Aktivitätseinschränkungen und Schmerzen. Als maßgebliche Motive (B) fanden sich der Verlust einer beruflichen oder partnerschaftlichen Sinnerfüllung ihres Lebens und die Angst vor zunehmender Abhängigkeit – Einbußen von Selbstwert, Selbstbestimmung und Würde. Frühe Einflüsse (C) waren traumatische Entwürdigungserfahrungen und Verluste von Bezugs- bzw. Identifikationspersonen. Überlebensdemotivierende peristatische Bedingungen (D) fanden sich im familiären Pflegekontext mit dem Unwillen, weitere Pflege beanspruchen zu müssen, und außerfamiliär in der Entwürdigung durch die ambulante Pflege. In der ablehnenden Reaktion der Umgebung werden die Angstbesetzung eines evolutionär alten, biologisch-archetypischen Überlebensimpulses und die Frustration eines Fürsorgeimpulses identifiziert. Bei einem Abbruch der Begleitung bleibt die Rechtfertigung zweifelhaft. Auch wenn der Verlust schmerzhaft bleibt, kann den Gehenden in einer personalen Begegnung Solidarität und Geborgenheit vermittelt werden.

Summary

Two patients were accompanied on their way to an assisted suicide. In another patient supporting his intention was suspended. The grounds of their decision can be distinguished into A: ostensible arguments, B: grounding reasons, C: early imprinting influences and D: peristatic conditions. As ostensible arguments (A) the patients overtly complained about their impairments, disabilities and pain, but behind these the grounding reasons (B) were the loss of a gist in their lives, the loss of hope fora partnership or an occupational vocation, the loss of self-esteem, autonomy and dignity. Imprinting influences (C) could be found in early violations of their self-esteem and losses of near relatives. Demotivating peristatic conditions (D) could be found from the unwillingness to accept further being cared for. Outside the familial context the impersonal and incapacitating institutional care was feared. If one looks to the side of the society, reasons and motives for their reactions could result from an evolutionary old, biological and archetypal social drive to survive and from the frustration of the drive to care. Ina personal encounter those willing to commit suicide can be given accompaniment and shelter – the sorrow about the loss remains with the living.

 
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